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WLADYSLAW GOMULKA

aus DER SPIEGEL 48/1961

Sein Vater war Erdölarbeiter, Gewerkschaftsfunktionär und polnischer Patriot; er führte zu Hause ein strenges, patriarchalisches Regiment. Der Sohn, Wladyslaw Gomulka, heute 56 Jahre alt, handelt und denkt nicht anders. Auch er ist Patriot, auch er regiert patriarchalisch; Wladyslaw regiert Polen.

Mit 17 Jahren beginnt der Schlosserlehrling Gomulka im ostgalizischen Krosno seine politische Laufbahn; er wird Gewerkschaftler, dann Sozialdemokrat, endlich KP-Mitglied.

1932 organisiert er, inzwischen zum Gewerkschaftssekretär avanciert, im Textilzentrum Lodz seinen ersten großen Streik. Er wird verhaftet, zu vier Jahren Gefängnis verurteilt, jedoch wegen Krankheit vorzeitig entlassen.

Drei Jahre Drill auf der Moskauer Komintern-Hochschule machen aus dem entlassenen Sträfling, der inzwischen zur Partei-Elite gehört, einen Berufsrevolutionär. In der Sowjet -Union erlebt er den Beginn der Stalinschen Inquisition und spürt den Hauch der blutigen Säuberungen.

1937 bewahrt ihn eine weitere Haftstrafe davor, als Trotzkist liquidiert zu werden, wie es auf Stalins Befehl mit den übrigen polnischen KP-Führern geschieht. In Pilsudskis Gefängnissen überdauert er die Reinigung der Partei.

Im Zweiten Weltkrieg wandelt sich der Berufsrevolutionär zum Partisan - gegen den Willen der Komintern, die diplomatische Rücksichten auf den Stalin-Hitler-Pakt zunehmen hat. Damals wird Galizien, Gomulkas Heimat, zwischen Deutschland und Rußland geteilt. Und die sowjetischen Besatzungstruppen verfahren mit den polnischen Bürgern kaum gnädiger als die Deutschen.

Der polnische Patriot Gomulka bleibt 1939 nicht im sowjetisch besetzten Lemberg; er schlägt sich in das Karpaten-Vorland durch und attackiert mit rasch formierten Partisanengruppen die deutsche Etappe.

Drei Jahre später ist er in Warschau, leitet dort den Untergrundkampf gegen die deutsche Besatzungsmacht und steigt zum Ersten Sekretär der polnischen KP auf. »Genosse Wieslaw« - Gomulkas Deckname im Untergrund - rediert illegale Zeitungen, gründet Widerstandsgruppen, plant Brückensprengungen und Attentate, ist ständig von der Gestapo gehetzt.

Als hinter der Front der vorrükkenden Sowjetarmeen im Januar 1945 Polens provisorische rote Regierung in Lublin die Arbeit aufnimmt, wird der Warschauer Untergrundkämpfer stellvertretender Ministerpräsident. Ein zweites Amt, das er bald darauf übernimmt, ist für ihn und Polen wichtiger: das Ressort für die »wiedergewonnenen Gebiete«. Polen erhält Land im Westen, aber die Grenze am Bug und in Galizien bleibt.

Als Stalin in großen Schauprozessen die kommunistischen Parteien

der osteuropäischen Satellitenstaaten von Rechtsabweichlern und Titoisten säubert, gerät auch Polens Parteisekretär in Konflikt mit der Moskauer Zentrale. 1947 opponiert er gegen den Beitritt Polens zum Kominform, dem Nachkriegsersatz für die Kommunistische Internationale (Komintern). 1948 widersetzt er sich dem Ausschluß Titos aus dem Ostblock. Zugleich kritisiert er die Kollektivierung der Landwirtschaft.

Der Sturz Gomulkas, der »einen eigenen polnischen Weg zum Sozialismus« propagiert, ist damit besiegelt. Er verliert 1949 seine Regierungsämter, wird 1951 verhaftet, aber ein Schauprozeß bleibt ihm erspart. Vier Jahre sitzt er wieder im Gefängnis. Erst Mitte 1956, als Polen von revolutionären Unruhen erschüttert wird, rehabilitiert ihn die Partei.

Der weißhaarige, mürrische, durch lange Haft gesundheitlich geschwächte Mann ist plötzlich der umjubelte Volkstribun der Massen. Nur Wladyslaw Gomulka, Patriot und Kommunist zugleich, kann verhindern, daß in diesen stürmischen Oktobertagen in Polen dasselbe blutige Schauspiel abrollt wie in Ungarn.

Die sowjetischen Führungsgenossen Chruschtschow, Mikojan und Molotow reisen nach Warschau, wo ihnen Gomulka in grimmigen Debatten das Zugeständnis abringt, daß Polen seinen »eigenen Weg zum Sozialismus« gehen dürfe.

Zwei Tage später geben sich auch die Stalinisten im polnischen Zentralkomitee geschlagen: »Genosse Wieslaw«, Insasse kapitalistischer wie kommunistischer Gefängnisse, wird abermals Erster Parteisekretär.

Die Demokratisierung des Regimes, die damit beginnt, vollzieht sich in stürmischen Formen. Gefängnistore öffnen sich, Gerichtsurteile werden annulliert, Gesetze geändert, die Verwaltung wird reformiert, die Partei gesäubert. Gomulka dämpft den Lärm der Kaffeehaus-Literaten, die eine Revolution feiern, während er - mit Rücksicht auf den russischen Nachbarn - allein durch behutsame Reformen das triste Dasein im kommunistischen Kollektivstaat aufhellen möchte.

Durch bittere Erfahrungen belehrt, sucht Gomulka einen Teilhaber seiner Macht. KP-Chef und Kardinal arrangieren sich in langen, geheimen Gesprächen: Beide lieben ein patriarchalisches Regiment.

Der kommunistische Parteisekretär hilft dem katholischen Kirchenfürsten Wyszynski, dem Primas von Polen, wieder auf den Bischofsstuhl

- für den galizischen Schlosser, der

mit der proletarischen Revolution Karriere machte, vielleicht der stolzeste Moment seines Lebens.

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