BISCHOFE / KARDINAL JAEGER Wo der Blitz zuckt
Im westfälischen Salzkotten (5962 größtenteils katholische Seelen) wickelten die höchsten Nonnen der Erzdiözese Paderborn zunächst zwei Stunden lang Regularien ab. Schwester Hildegardis berichtete über Sauerland-Süd. Schwester Christbild über Sauerland-Nord, Mutter Petra über Ruhrgebiet-Ost.
Dann kam der hochwürdigste Lorenz Kardinal Jaeger, Erzbischof von Paderborn, zu den ehrwürdigen Damen. die 6407 Ordensschwestern aus 379 Häusern leiten. Was der 77jährige Kirchenfürst sagte, hielt Schwester Burghilde für das Protokoll fest. Aus einer Nonnen-Niederlassung kam es in die SPIEGEL-Redaktion.
Der Monolog des Kardinals war offenkundig nur für wenige fromme Ohren bestimmt. Denn Jaeger wehklagte über Kirche und Welt so, wie es bislang von keinem anderen Geistlichen seines Ranges zu hören war.
»Wahrscheinlich in sehr kurzer Zeit« so prophezeite der Kardinal laut Protokoll, würden »verheiratete Priester, die exkommuniziert sind, eigene Gemeinden bilden und zelebrieren«.
Beim ersten gemeinsamen evangelisch-katholischen Kirchentag, für Pfingsten 1971 in Augsburg geplant, würden »11 000 Apo-Mitglieder in Gruppen mit ihren Verbündeten aufziehen, um dieses ganze Pfingsttreffen umzumanipulieren«.
Den »ganz massiven Druck des Teach-in, Sit-in und Go-in zu spüren bekommen« werde man auf der Synode, die 1971 in Würzburg oder Mainz eröffnet wird und bis 1972 über die Zukunft der katholischen Kirche in der Bundesrepublik beraten soll.
Und nicht einmal in die Fragebogen-Aktion, die Jaeger und seine Mit-Bischöfe mit 4,9 Millionen Mark Kosten gerade erst gestartet haben, setzt der Paderborner Oberhirte noch allzu große Hoffnung: »Wir müssen damit rechnen, daß schon jetzt bei der Bestandsaufnahme nicht der wahre Wille der Kirche voll zum Durchbruch kommt:
Denn linke Priester hätten sich zu »Solidaritätsgruppen« und ehemalige Geistliche zu einem Verband »Priester ohne Amt« vereint. Auch seien die Studentengemeinden »fast alle Träger des modernen Geistes«. Hingegen seien »die »anderen'. die »Frommen', die »Gläubigen in nicht organisiert. Die Synode hält er wegen der »revolutionären Bewegungen« in der Kirche für »ein ungemein großes Risiko. gewiß Chance, aber mehr Risiko«.
»Das gesamte Denken«. so erfuhren die Nonnen von dem Kardinal, »ist horizontal eingebettet, und die Vertikale ist völlig verlorengegangen. Darum können die Menschen nicht mehr glauben, nicht mehr beten; sie haben kein rechtes Verhältnis mehr zu der kirchlichen Moral, zu Gesetz und zu irgendeiner Autorität, die von oben etwas ordnet, die verpflichtet.«
Es gebe in der Kirche oppositionelle »Gruppen, die erzwingen werden, was sie wollen«. Jede Gruppe »macht die Obrigkeit lächerlich, indem sie ihr bewußt zeigt: Du hast ja keine Macht mehr, dich durchzusetzen«.
Auch mit Strafen könne die Kirche dieser Entwicklung »einfach nicht beikommen, weil das, was früher als kirchliche Strafe einen Zwangscharakter hatte, Widerstand brechen konnte. Leute zur Vernunft bringen konnte. heute nicht mehr anerkannt wird«.
Der greise Kirchenfürst griff zu einem Wetter-Bild: »Man soll Gewitter nicht heraufbeschwören, man weiß nicht, wo der Blitz zuckt, wo er einschlägt und was er für Folgen hat. Den Blitz hat man nicht in der Kontrolle, er läßt sich nicht vorher berechnen und sich nicht lenken. Das ist die Situation, vor der wir stehen.«
Jaeger sprach aus eigener Erfahrung. Vor kurzem hatte er vertraulich wissen lassen, er wolle zurücktreten. Aber bevor er den Papst um das vorgeschriebene Plazet gebeten hatte, machte die »Solidaritätsgruppe katholischer Priester im Erzbistum Paderborn« (SOG) die Rücktrittsabsichten publik. Die SOG will verhindern, daß der Jaeger-Nachfolger vom Papst und einem Dutzend Würdenträger heimlich bestimmt wird. Deshalb verbreitete sie in einem offenen Brief etliche Namen und hielt Rundfrage, welche Kandidaten »auf jeden Fall« und welche »auf jeden Fall nicht« geeignet seien. Jaeger erklärte daraufhin »die priesterliche Gemeinschaft und Verbundenheit« für »in der Wurzel zerstört« und schob seinen Rücktritt auf.
Die Nonnen will der Kardinal nunmehr für die Fragebogen-Aktion und die innerkatholischen Meinungskämpfe mobilisieren. Jaegers Bitte: »Die Fragebogen sollen von allen ausgefüllt werden. In kluger Weise sollen die Schwestern an Schülerinnen usw. herantreten und mit ihnen die Fragebogen durchsprechen.« Denn: »Es hängt viel davon ab, ob diese Fragebogenaktion ein gutes Resultat ergibt.«