»Wo hat dies begonnen, wo endet es?«
Ich war 1933 achtzehn Jahre alt. Ich trage noch heute daran, daß meine Väter geschwiegen haben, als sich die Katastrophe der Demokratie in Deutschland schon abzuzeichnen begann. Martin Niemöller, der zehn Jahre in einem KZ Hitlers war, hat das so formuliert: »Als Kommunisten und Sozialdemokraten ins Gefängnis gingen, habe ich geschwiegen, als die ersten Juden verschwanden, habe ich geschwiegen. Als ich selbst abgeführt wurde, war niemand mehr da, der reden konnte.«
Wir schreiben heute nicht das Jahr 1933. Nichts wiederholt sich, nichts ist vergleichbar. Aber die elende Praxis des Radikalenerlasses läßt mich von Monat zu Monat deutlicher fragen: Wo hat dies begonnen, wo endet es? Was wird täglich zerstört an Vertrauen junger Menschen zu diesem Staat und zu dieser Demokratie? Was wird täglich zerstört in der Struktur unseres Grundgesetzes, das ich als Minister und Bürgermeister mehrfach beschworen habe, aus Überzeugung beschworen habe?
Seit es den Radikalenerlaß und seine Folgen gibt, bin ich fast jede Woche mit einem Menschen konfrontiert, der in die Maschine einer perfekten Überprüfung geraten ist. Ich rede also nicht von Akten, sondern von Menschen, ihren Eltern, ihren Frauen oder Männern, ihren Kindern. Der letzte hieß Hans Apel. Ich habe in Einzelfällen helfen können. Ich habe keinen Erfolg gehabt, die Verantwortlichen davon zu überzeugen, daß die Maschine angehalten werden muß.
Ich bin als Pfarrer und Bürger dieser Stadt auch laufend mit den Menschen beschäftigt, die jenseits des Brandenburger Tors wegen ihrer öffentlich geäußerten Meinung verfolgt, in Hausarrest gehalten werden, im Gefängnis sitzen, gegen ihren Willen zu uns abgeschoben werden. Wie lange glauben wir eigentlich noch, uns über Havemann, Bahro und andere erregen zu können und dabei glaubwürdig zu bleiben? Sind wir unserer Sache so unsicher, daß wir mit Minderheiten, verschwindenden Minderheiten -- die hessischen Wahlen haben es wieder gezeigt -, so umgehen, als ginge an einem Lehrer, der der SEW angehört, unser Staat zugrunde?
In Italien regiert die Bruderpartei der CDU mit der KPI praktisch zusammen. In Frankreich regt sich kein Mensch darüber auf, daß an der Sorbonne und anderswo als Professoren auch Kommunisten lehren.
Ich bin kein Kommunist und werde auch nie einer sein. Aber ich bin in den Gefängnissen Adolf Hitlers auf Kommunisten gestoßen, die mir heute noch näherstehen als viele Nichtkommunisten, die mir nun in Freiheit begegnen.
Ich bin nach 1948 als Minister durch ein Gesetz mit Verfassungsrang dazu gezwungen worden, praktisch jeden eheinaligen Nationalsozialisten, wenn er nicht Verbrechen begangen hatte, in den öffentlichen Dienst wieder einzustellen. Wir haben diese Leute nicht gefragt und nicht fragen dürfen, wie es um ihre Nazigesinnung bestellt sei. Wir haben ihnen den Eid auf die Verfassung abgenommen und ihnen vertraut.
Wir wissen heute, in wie vielen Fällen dieses Vertrauen enttäuscht wurde. Aber wieso gehen wir eigentlich mit diesen alten Angehörigen des öffentlichen Dienstes anders um, als mit jungen Leuten, die sich noch bewähren müssen und verändern können? Und hat nicht diese Frage ihr besonderes Schlaglicht erhalten, seit wir Herrn Filbinger kennengelernt haben?
Der Mensch Apel ist für mich ein Opfer, weniger eines merkwürdigen Urteils als einer Grundhaltung der politisch Verantwortlichen wegen. Der Rechtsfall Apel öffnet den Weg zur Entlassung weiterer Beamter auf Lebenszeit, wenn sie einer Partei oder Gruppe angehören, die nicht verboten sind, aber rechtswidrig als verfassungsfeindlich erklärt werden.
Manchmal frage ich mich, in welchem Lande wir eigentlich leben, wenn klare Vorschriften des Grundgesetzes, zum Beispiel, daß nur das Bundesverfassungsgericht -- oder in West-Berlin die alliierte Kommandantur -- Parteien und politische Gruppen verbieten kann, durch Verfassungsorgane selbst unterlaufen werden.
Man verbietet, aus welchen Gründen auch immer, nicht. Aber man erfindet den neuen Begriff der Verfassungsfeindlichkeit, man legt schwarze Listen an. man schnüffelt herum, man photographiert, man speist Computer mit zum Teil absurden Tatbeständen. Und man hält sich nicht an das, was ein Beamter oder Angestellter im Dienst tut oder nicht tut, sondern entscheidet nach formalen Mitgliedschaften. Es entstehen, scheinbar gewollt, immer breitere Grauzonen. Es entsteht Angst und Hysterie -- und mit dem allem will man junge Menschen für diesen Staat gewinnen.
Keiner kann den Staat zwingen, einen Menschen in Dienst zu nehmen oder im Dienst zu behalten, der diesen Staat umbringen will. Aber einer, der als Sozialist unsere Wirtschafts- und damit unsere Machtverhältnisse verändern will, ist kein Staatsfeind. Er wird vom Grundgesetz ausdrücklich gedeckt.
Es gibt keine Revolution mit Pensionsberechtigung. Aber nur wer an den Nerv der Grundrechte unserer Verfassung rühren will -- Mehrparteienstaat, Teilung der Gewalten -- und wer in seinem Dienst andere dazu überreden will, muß den Konflikt mit den Gesetzen auf sich nehmen. Und diese Gesetze genügen. Dazu brauchen wir weder eine perfekte Überwachung noch eine Sonderbehörde.
Ich kann also nur dringend dazu auffordern, zunächst dem Hamburger Beispiel zu folgen. Es gibt eine Fülle von Vorschlägen, die von der Verfassung gedeckt sind, keine neuen Gesetze erfordern und zu der vielberedeten freiheitlich-demokratischen Grundordnung zurückführen, die wir verteidigen und nicht der Verfassungsschutz.