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ITALIEN / PARLAMENTARIER Wo sind sie?

aus DER SPIEGEL 45/1966

Italiens Deputiertenkammer im Palazzo Montecitorio tagte in kleiner Besetzung. Einer redete, und drei hörten zu. Von den 630 Abgeordneten waren 626 zu Hause geblieben.

Auf der Tagesordnung stand die Generaldebatte über den Grünen Plan für die Jahre 1966 bis 1970. Es ging um sechs Milliarden Mark Steuergelder für die Landwirtschaft. »Dies ist ein ungeheuer wichtiger Plan«, zürnte Kammer -Vizepräsident Sandro Pertini. »39 Abgeordnete haben sich für heute zu Wort gemeldet. Wo sind sie? Und wo sind die anderen? Das alles wirft ein sehr schlechtes Licht auf die Seriosität unserer Volksvertreter.«

Der Zornesausbruch des Vizepräsidenten lohnte sich: An den darauffolgenden Tagen bevölkerten durchschnittlich 15

Abgeordnete die Bänke von Montecitorio.

Im römischen Palazzo Madama, der den italienischen Senat - eine Art Oberhaus - beherbergt, ist die Lust am Parlament kaum größer. In den ersten drei Oktoberwochen saß durchschnittlich nur jeder vierte, an einigen Tagen sogar nur jeder zehnte der 315 Senatoren auf seinem Platz.

Die Entmachtung - oder Selbstentmachtung - des klassischen Parlaments, in Bonn durch Einfluß der Interessenverbände, in Paris durch Allmacht des Staatschefs bedingt, ist in Rom zur Groteske geworden. Italiens Volksvertreter meiden das Parlament, weil sie dort nur noch nötig sind, wenn es gilt, die Regierung zu stürzen. Auf die Entscheidungen, auf die Gesetzesarbeit haben sie keinen Einfluß: Fachkommissionen handeln sie bis ins Detail mit den Parteisekretariaten aus.

Normal besetzt sind die beiden Häuser nur, wenn die Fraktionschefs ihren Anhang vollzählig ins Parlament befohlen haben.

Weil sie im Parlament überflüssig sind, befriedigen viele Abgeordnete ihren Ehrgeiz, indem sie kuriose Eingaben anfertigen. In den letzten Monaten forderten italienische Volksvertreter unter anderem

- ein »Gesetz zur Erhöhung der Jahresbeiträge für Scheibenschützen«,

- »die Ausdehnung der Spezialtarife VIII der Italienischen Staatsbahnen auf die Teilnehmer des Krieges 1915/18« und

- eine »Erhöhung der Futterrationen für die Pferde von Soldaten und Unteroffizieren der berittenen Carabinieri-Truppe«.

Das Resultat: Seit Beginn der Legislaturperiode (Mai 1963) brachten die Abgeordneten 2560 Gesetzentwürfe ein; 1987 wurden noch nicht geprüft. 7459 Kleine und Große Anfragen blieben unbeantwortet.

Alle acht sowohl in Montecitorio wie im Palazzo Madama vertretenen Parteien wollen die Parlamentsarbeit reformieren, können sich aber über das Wie nicht einigen. Die Christdemokraten schlagen unter anderem vor, Liliput -Gesetze künftig auf dem Verordnungswege zu erlassen und jedem Parlamentarier zu verbieten, die Argumente seiner Vorredner zu wiederholen.

Liberalen-Führer Malagodi führt die »Unlust der Parlamentarier« auf die unzureichenden Diäten zurück, obschon Italiens Abgeordnete sich Ende letzten Jahres Monatsbezüge von über 5000 Mark bewilligt hatten. Mehr Geld verdienen nur noch ihre amerikanischen Kollegen. Verglichen mit dem Durchschnittseinkommen ihrer Wähler kassieren Italiens Volksvertreter sogar die höchsten Diäten in der westlichen Welt.

Bleiben die Abgeordneten dem Parlament fern, vermindern sich ihre Diäten um 32 Mark pro Sitzung, jedoch nicht zwangsläufig: Viele Volksvertreter kommen kurz ins Parlament, schreiben sich in die Anwesenheitslisten ein und gehen dann wieder.

»Heute zum Beispiel«, sagte Senatspräsident Merzagora am vorletzten Freitag, »haben 128 Senatoren ihre Namen in die Präsenzliste eingetragen, aber in der Aula waren nie mehr als 40.«

Italiens Abgeordnetenkammer: Die höchsten Diäten der Welt

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