ATOMWAFFEN Wo, was, wie, wann
Eine Flasche Beaujolais vor, Gattin Marianne neben sich, so saß am späten Abend Bundesverteidigungsminister Franz-Josef-Strauß im Chinesen-Restaurant in Bonns Bonngasse.
Er versäumte es, eine Fernsehsendung anzusehen, in der SPD-Wehrexperte Helmut Schmidt ("Schmidt-Schnauze")die christdemokratische Wehrpolitik auseinanderzupfte. Statt Strauß beobachtete sein Presse-Oberst Schmückle den Schmidt-Auftritt auf dem Bildschirm.
Thema der Diskussion Schmidts mit Journalisten in der Kurt-Wessel-Sendung »Unter uns gesagt« war die General-These des Schmidt-Buches »Verteidigung oder Vergeltung"*: Man müsse bei der Nato konventionell bewaffnete Truppen ("Das erste Treffen") auch im Kommandostrang scharf von atomar bewaffneten ("Das zweite Treffen") trennen und so lange rein konventionell kämpfen, wie der Gegner das auch tue. Deutsche Einheiten, so sagte Schmidt, sollten sowohl bei der ersten, konventionellen, als auch bei der zweiten, atomaren Phase zum Einsatz kommen, falls die Nato das für richtig halte.
Da stellte der »Zeit«-Journalist Dr. Theo Sommer die Frage an Schmidt: »Noch vor drei Jahren haben Sie taktische Atomwaffen auf deutschem Boden selbst zum Zweck der Luftabwehr scharf abgelehnt. Das war in der Atomdebatte vom März 1958. Da haben Sie offensichtlich doch Ihre Ansichten sehr gewandelt?«
Schmidt: »Um korrekt zu sein, Herr Dr. Sommer, ich habe nicht vor drei Jahren die Anwesenheit taktischer Atomwaffen auf deutschem Boden abgelehnt; sondern ich habe damals abgelehnt, die Forderung zu bewilligen, die die Bundesregierung stellte, nämlich: taktische Atomwaffen in ihre Hände zu bekommen.«
Und weiter: »Inzwischen hat Herr Strauß diese Forderung sehr weitgehend reduziert. Er hat heute (in der Haushaltsdebatte des Bundestages ganz klar gesagt: Nein, wir wollen nur die Abschußgestelle haben, und die anderen sollen die Schlüssel zum Gefechtskopf behalten.«
Diese Behauptung des SPD-Abgeordneten, die Bundesregierung habe jemals gefordert, taktische Atomwaffen in ihre Hände zu bekommen, erregte den Strauß-Oberst Schmückle derart, daß er zum Telephon griff und im Fernsehstudio anrief: Er, Schmückle, möchte lieber Straußens bunten Rock ausziehen, als sich noch länger anhören, wie Schmidt - als Mitglied des Verteidigungsausschusses mit der Rolle eines Wächters über die Bundeswehr betraut - Geschichte klittere.
Noch während die Sendung lief, wurde dem Diskussionsleiter Wessel, als er gerade einmal nicht im Bild war, ein Zettelchen mit Schmückles Protest zugeschoben.
Zehn Minuten hielt Wessel den Zettel schon in der Hand, ehe er den Redefluß des sozialdemokratischen Abgeordneten und der drei Journalisten unterbrechen konnte.
Dann endlich gelang es ihm: »Herr Schmidt, Sie haben vorhin gesagt, die Bundesregierung habe schon im März 1958 außer diesen Abschußgestellen auch Sprengköpfe angefordert. Wir haben das ziemlich sichere Gefühl, daß Sie mit dieser Behauptung einen sehr starken Protest - nicht heute abend hier, aber von den zuständigen Stellen - bekommen werden.. .«
Aber Helmut Schmidt schwadronierte weiter: »Ich kann mich daran sehr genau erinnern. Am Schluß der viertägigen Atomdebatte im Frühjahr 1958 legte die CDU/ CSU eine Resolution vor, in der schlechthin ohne jegliche einschränkende Quaiifikation gefordert wurde, die Bundeswehr mit modernsten Waffen auszustatten und es ging dann der spätere Ministerpräsident Kiesinger zum Schluß, zur Abstimmung über diese Resolution, auf das Rednerpult, um zu erklären, daß mit dem Terminus 'modernste Waffen' allerdings Wasserstoffbomben nicht gemeint seien.«
Schmidt: »Zweifellos gab es damals Sprecher, die sogar über Abschußgestelle und Sprengköpfe dazu hinausgehen wollten auf das strategische Gebiet.«
Schmidts Atom-Exkurs führte nicht nur zu dem Telephonat des Strauß-Sprechers Schmückle; noch während der Sendung trafen im Funkhaus ununterbrochen weitere Anrufe und Telegramme ein, von denen die »Neue Rhein-Zeitung« berichtete: »Die meisten wollten genau wissen, ob Schmidt und die SPD nun für oder gegen die Atomausrüstung der Bundeswehr seien.«
Aber das war nicht die einzige offengebliebene Frage: An jenem Abend begab sich Westdeutschlands Fernsehgemeinde außerdem mit dem Verdacht zu, Bett, womöglich habe die Bundesregierung seinerzeit doch gemeint, das bundesrepublikanische Heer solle eigene Atombomben erhalten und sie nach eigenem Gutdünken verfeuern. Die Folgen der Schmidt-Schau wären wahrscheinlich für die Christdemokraten nicht so ärgerlich gewesen, wenn ihre Verteidigungsfachleute Strauß, Jaeger und Kliesing und der Fraktionsgeschäftsführer Rasner nicht nacheinander eine Einladung des Bayrischen Rundfunks ausgeschlagen hätten, an dem Fernsehgespräch mit Schmidt teilzunehmen. Absage-Begründung der CDU-Leute: Sie hätten das Schmidt-Buch noch nicht gelesen.
Am Morgen nach der Schmidt-Diskussion im Fernsehen kam man im Verteidigungsministerium auf die Idee, den General-Inspekteur der Luftwaffe, Josef Kammhuber - der die Sendung gar nicht gesehen hatte - einen Brief an Helmut Schmidt schreiben und ihn, den Soldaten, als öffentlichen Interpreten der Regierungspolitik wirken zu lassen. Kammhuber entledigte sich der für ihn mühseligen Aufgabe mit gehörigen Ungeschick:
Er verstieg sich zu der Feststellung; die Soldaten könnten ihren Dienst »nur leisten im Vertrauen auf eine ethisch fundierte politische und militärische Führung«, Schmidt jedoch - »Sie ... haben die Kontrolle über uns Soldaten« - habe mit einer »unwahren Behauptung« einen »verheerenden Eindruck« in der Bundeswehr hinterlassen.
Jedermann nämlich, so hieß es in dem Kammhuber-Brief weiter, habe stets gewußt, was gemeint gewesen sei, wenn von »Atomwaffen anstatt von Abschußgestellen« die Rede war: »Dazu gehörten neben den Politikern auch die Soldaten, die dieser Entscheidung erst nach schwerem, inneren ... Ringen zustimmten.« Das innere Ringen der Militärs war freilich bislang unbemerkt geblieben - ihre Meinung war für den Bundestag unerheblich.
Was Strauß am Vorabend nicht gewollt hatte, verlangte er nun nach der allgemeinen Konfusion: Mit Gesprächsleiter Wessel - ohne Schmidt - im Fernsehen aufzutreten, um mit Zitaten zu belegen, daß »Herr Schmidt ... die Unwahrheit gesagt (hat) ... Bei seiner Kenntnis der Dinge muß er die Unwahrheit gesagt haben wider besseres Wissen«.
Tatsache ist, daß in dem Entschließungsantrag, den die Fraktionen von CDU/CSU und Deutscher Partei am 25. März 1958 im Bundestag einbrachten, zwischen Abschußgestellen und Atomköpfen nicht unterschieden wurde. Nach dem Wunsch der CDU/CSU und der DP »müssen die Streitkräfte der Bundesrepublik mit den modernsten Waffen so ausgerüstet werden, daß sie den von der Bundesrepublik übernommenen Verpflichtungen im Rahmen der Nato zu genügen vermögen«.
Strauß hatte damals hinreichend klargemacht, was zur Debatte stand: »Wenn heute die Streitkräfte der Alliierten der Nato mit taktischen Atomsprengköpfen für ihre Mehrzweckwaffen ausgestattet werden, heißt das erstens, daß für diese Waffen auch »normale Sprengköpfe vorhanden sind, zweitens, daß die Sprengköpfe im amerikanischen Eigentum, unter amerikanischem Verschluß bleiben, daß sie der nationalen Verfügungsgewalt - was wir selbst wünschen - entzogen sind.«
Mag sein daß SPD-Schmidt nicht mehr im Ohr hatte, was Strauß, sondern nur noch, was der CSU-Atomverteidiger Dr. Jaeger in jener Debatte von sich gab und was allerdings den Eindruck erwecken konnte, als sollten die deutschen Rekruten künftig statt eines Marschallstabs eine brisante Atomrakete im Tornister tragen: »Ich kann Sie nicht verstehen, meine Herren von der Sozialdemokratie. Doch nicht die Bombe in der Hand der deutschen Offiziere, sondern die Bombe in der Hand der Sowjet-Union ist eine Gefahr.«
Schmidts Fernseh-These, er und seine Genossen hätten die atomare Ausrüstung abgelehnt; weil Strauß damals Atomköpfe gefordert und das Verlangen erst »inzwischen« reduziert habe, läßt sich also nicht belegen. Die SPD sagte damals vielmehr nein, weil der 1958er CDU-Antrag - so Erler in jener Debatte »in allen seinen Punkten praktisch eine Vertrauenskundgebung zur ... Politik der Bundesregierung bedeutet« hätte und weil die SPD in ihrem damaligen Atomtod-Kampf weder Atomkanonen noch Atomgranaten noch sonst etwas Atomares auf deutschem Boden wissen wollte.
Helmut Schmidt am 22. März 1958 im Bundestag: »Hier will ich Herrn Strauß noch eine Antwort geben ... Ob wir nicht wenigstens für die Luftabwehr Atomraketen zulassen wollten. Darauf können wir nur sagen: nein, kategorisch: nein, das wollen wir nicht.«
Und in ihrem Gegenantrag zur CDUAtomresolution ersuchte die SPD denn auch die Bundesregierung, »keinerlei Verpflichtungen einzugehen und keinerlei Maßnahmen zu treffen, die die Ausrüstung der Bundeswehr mit Atom- und Wässerstoff-Sprengkörpern, die Stationierung von Atomraketen und den Bau von Raketen-Basen zum Ziele haben«. Mit passenden Zitaten aus jener 58er Debatte wartete Strauß also in der zweiten (Solo-)Abteilung des Fernsehstreits auf, und Gesprächsleiter Wessel versuchte das Fazit zu ziehen: »Die Streitfrage, die sich jetzt zugespitzt hat, ist also, ob, was und, oder ob, was, wann .
überhaupt in solcher Direktheit gesagt worden ist.« Und: »Das wäre also schon Thema einer Diskussion zwischen Ihnen und Herrn Schmidt.«
Am Dienstag letzter Woche kam es dann endlich zu jenem Gespräch, das der Verteidigungsminister ursprünglich abgelehnt hatte: Strauß kontra Schmidt, allerdings nicht mit unmittelbarer Ausstrahlung über die Fernsehsender, sondern erst einmal auf Ampex-Band. 38 Minuten lang lasen die beiden einander aus alten Bundestagsprotokollen vor. Drei Tage später, am letzten Freitag, wurde die explosive Konserve ausgestrahlt - anstelle des Films »Gefährliche Ladung«.
* Helmut Schmidt: »Verteidigung oder Vergeltung - Ein deutscher Beitrag zum strategischen Problem der Nato«. Seewald Verlag, Stuttgart; 292 Seiten; 16,30 Mark.
Fernseh-Gast Schmidt: Histörchen gedichtet
Briefschreiber Kammhuber: Historie gedeutet