Die Entspannung selig, man weiß es längst, hat die Kalten Krieger beider Seiten, ihre Gefühlswelt und Wertbegriffe, hart getroffen, ihre politischen Lebensformen Sicherheitsrisiken ausgesetzt, denen der Osten nicht gewachsen war.
Nun hat der teuflische Gegner namens Wandel durch Annäherung an der inneren Front zugeschlagen, in jenem glitzernden Sündenbabel Paris, das sich deutsche Väter früher vorwiegend auf Nagelstiefeln nach Gewaltmärschen durch die öde Champagne erschlossen, bevor sie dann in unseren Tagen den wohlig klimatisierten Überlandbus nahmen.
Den Franzosen, so fanden sie, war nie zu trauen, im Bett nicht und in der Politik genausowenig, ein flatterhaftes, launisches, unzuverlässiges Volk. Wie sagte doch ein großer Nationalist des 19. Jahrhunderts namens de Gaulle: »Les Francais sont des veaux« -- Die Franzosen sind Kälber.
Die Franzosen sind ein weitblickendes, mutiges, zukunftsorientiertes Volk. Im Windschatten von Notre-Dame de Paris leisten sie sich seit voriger Woche vier Männer, die Kommunisten und dennoch Minister der Französischen Republik sind, während hierzulande Kommunisten gerade schon mal Lokführer, und nur gelegentlich Lehrer sein dürfen, ohne daß der Staat zusammenbricht.
Da schluckten denn Europäer wie Amerikaner angesichts der Abgründe möglichen Landesverrats, wenn der französische Genosse Verkehrsminister die bestgehüteten Geheimnisse des Straßen- oder Bahnbetriebs womöglich an Moskau verkauft.
Da packt manchen Entsetzen angesichts der Vorstellung, daß der Kreml seinen willfährigen Befehlsempfängern in Pariser Regierungspalästen gebieten könnte, im lieblichen Frankreich Wühlarbeit und Diversion zu betreiben.
Der Staatspräsident Mitterrand war gut beraten, die vier Moskauer Schatten, in Frankreich abfällig »Cocos« genannt, in sein Kabinett aufzunehmen. Er geht dabei keinerlei Risiko ein -- er geht immer auf Nummer Sicher --, nachdem die systemfremden Regierungspartner unterschrieben haben, Solidarität »ohne Einschränkung« zu üben.
Sie dürften glauben, daß ihre absurde Selbstentäußerung immer noch genug auf der Haben-Seite abwirft, sonst hätten sie nicht so herzzerreißend gefleht, aus dem selbstgewählten Getto an den Kabinettstisch gebeten zu werden.
Ob ihnen diese Art Entspannung und Wandel durch Annäherung bekommt, mag zweifelhaft sein. Doch nach allen Volten, die sie mit schweren ideologischem Gepäck auf dem Rücken in den letzten Jahren kunstvoll geschlagen haben, werden sie notfalls den Rückmarsch in die Sicherheit ihrer Festungen noch unter Trommelwirbel und Fanfarenklang bewerkstelligen.
Vorerst aber stehen die Herren Kommunisten-Minister nun Tag für Tag als lebende Beweise dafür da, daß ihre Konversion von der Partei der Revolution zur Partei der Ordnung nicht nur ein Schemen, sondern verwirrende Wirklichkeit im Europa '81 ist.
Verwirrend für wen? Die große Sozialistische Partei hat den Genossen ein Fegefeuer bereitet, an dem diese sich nun wärmen oder aber sengen können. Einer im Kleeblatt, Anicet Le Pors, hat ohnehin die höheren Weihen für Spitzenfunktionen in der Bürokratie des bürgerlichen Staates erworben --Direktor eines Ministeriums wäre er auch ohne Mitterrand geworden.
Der gelernte Elektriker Charles Fiterman dagegen, nunmehr als »Staatsminister« in der Kabinettsrangfolge der dritte nach dem Premier, hat fürwahr Karriere gemacht. Salut, Fiterman, wohl bekomm's.
Er hat die Erhöhung verdient. Denn unbestreitbar wäre Francois Mitterrand ohne die Stimmen kommunistischer Wähler und ohne das Engagement der Kommunistischen Partei heute nicht Staatspräsident von Frankreich; daß die KP dafür Lob und Lohn verlangte, sollten ihr auch ihre Feinde nicht verübeln.
Fiterman persönlich hat es gar auf sich genommen, sich von einem der politischen Wracks der giscardischen Zeit, dem Ex-Minister Lecanuet, während der Wahlkampagne im Fernsehen öffentlich fertigmachen zu lassen; der Opfergang war nicht umsonst.
Nun aber quillt aus allen Ritzen des neuen Systems, das in diesem Frühsommer über Frankreich gekommen ist, der giftige Qualm sozialdemokratischen Geistes. Er mag für die überkommene Ordnung, für ihre Nutznießer und Hüter, nicht annähernd so existenzbedrohend aufkochen wie in Polen, wo sich eine völlig erneuerte KP anschickt, angesichts schon geladener Kanonen ihre Vernissage zu feiern. Für den Westen, der in Polen nichts tun kann als zu entscheiden, ob er erst zahlen und dann stunden will oder umgekehrt, liegt Paris immer noch näher als Warschau, solange jedenfalls die Polen am Abgrund tanzen und nicht taumeln.
Wer Sinn hat für politisches Spiel mit mehreren Kugeln, muß den Strategen Francois Mitterrand uneingeschränkt bewundern. Die fast mathematische Konsequenz, mit der er fehlerfrei seine Züge tat, scheint mehr in der Tradition des großen Marschalls Turenne als des großen Revolutionärs Danton zu liegen, erweckt den Eindruck, als sei hier nach dem Aufmarsch der Truppen in konzentrischer Operation die Entscheidungsschlacht nahezu naturgesetzlich herangereift, der Sieg der einen Seite, die Vernichtung der anderen nur unausweichliche Folge vorangegangener Entschlüsse gewesen.
Zwar war es nicht wirklich so, denn Wählerwille und KP-Kapricen hätten das genialische Unternehmen zu praktisch jedem Zeitpunkt noch scheitern lassen können. Doch den Kaziken einer bedeutenden politischen Kraft, einer kommunistischen Partei zumal, die bittere Erkenntnis in die Köpfe zu stopfen, daß sie Selbsthilfe zur Selbstschrumpfung leisten müssen, um regierungsfähig zu werden, das macht dem Monsieur Mitterrand so schnell niemand nach.
Das Parteiblatt »l'Humanite« legte am Morgen nach der Schlacht beredt Zeugnis dafür ab, wie sehr die Wunden schwären: Aus keiner Zeile auf sämtlichen Seiten war herauszulesen, daß die KP fast 50 Prozent ihrer Sitze verloren hatte. Dafür triumphierte die Schlagzeile, fast schon mehr Gewißheit als Forderung: »Und jetzt kommunistische Minister.«
Bei den nächsten Regionalwahlen, nur neun Monate entfernt, werden die KP-Genossen sehen müssen, wie sie ohne die Evergreens ihrer Kampfparolen gegen die Herrschenden auskommen.
Denn nun herrschen sie selbst, über Beamte und Budgets, das verstehen sie, aber auch über Bürger, und das haben sie nicht gelernt. Nun müssen sie mithelfen darzustellen, warum etwa Zulagen für den öffentlichen Dienst nicht höher ausfallen können, als in Pariser Prachtpalästen beschlossen, und wehe, sie sagen, die Sozialisten seien schuld. Die Ketten des Regierungsabkommens würgen am Hals der KP.
Für Mitterrand, daran besteht kaum Zweifel, liegt der Gerichtsstand für die Entscheidung, ob das Regierungsabkommen verletzt wurde, allein im Elysee-Palast. Vertragsbrüchige werden jederzeit vorgeladen.
So haben denn die französischen Sozialisten mit gewaltigem Sprung nachgeholt, S.97 was ihnen als unerklärlicher, ungerechter und mithin dringend revisionsbedürftiger Spruch der Geschichte erschienen war: daß Frankreich, der Menschheit angeblich immer um viele Fortschrittsmeilen voraus, in Politik und Gesellschaft hoffnungslos nachhinkte; daß in Deutschland bereits 1969 Sozialdemokraten an die Macht kamen, als Frankreich gerade de Gaulle loswurde; daß die furchterregende Stärke der KP die konservative Herrschaft auf unabsehbare Zeit zu stabilisieren schien.
Und dennoch haftet dem nun errungenen historischen Sieg des progressiven Frankreich über das rückwärtsgerichtete ein Hauch von Widersinn und Anachronismus an. Er hängt nicht mit der Strategie Mitterrands, sondern mit seinen Konzeptionen zusammen.
Die spiegeln in ihrer Reform-Begeisterung noch jenen ungebrochenen Glauben an die Macht der Politik und die Machbarkeit gesellschaftlicher Veränderungen wider, der Ende der 60er Jahre in Europa blühte und in dessen Zentrum zwangsläufig der Staat als Urheber und Vollstrecker von Reformen stand. Auch deutsche Sozialdemokraten, die längst keine Marxisten mehr waren, gingen damals gutgläubig und legitim davon aus, der Staat könne die sozio-ökonomischen Verhältnisse nach dem Leitbild »soziale Gerechtigkeit« nicht nur steuern, sondern auch umgestalten.
Längst haben sich Enttäuschung und Resignation eingestellt, ist die Einsicht gewachsen, daß der staatlich definierte Begriff von Glückseligkeit und die staatlich organisierte Reise in dieses Wunderland fast unweigerlich zu neuen Beamtenscharen führen, welche die neuen Gesetzesfluten verwalten und manipulieren. Am Ende steht neue und mehr Fremdbestimmung des Bürgers, die dann durch neue Reformen abgebaut werden soll.
So wandten sich denn ganze Wählerschichten vom traditionellen Parteienwesen, seinem eingefahrenen Wahlritual und seinen ausgeleierten Rechtfertigungen ab, um außerhalb des Systems, bei Verweigerern jeder Art, Alternativen zu suchen.
Die Franzosen dagegen haben sich eine bizarre, beinahe blinde Gläubigkeit an Werte und Wirksamkeit des Systems bewahrt, unabhängig davon, ob sie nun Kommunisten, sozialistische Marxisten, Sozialdemokraten oder Linksliberale sind -- und also suchten sie Zuflucht bei Mitterrand.
Daß Verstaatlichung kein Weg zu wirtschaftlicher Demokratie ist, haben italienische Kommunisten bereits eingesehen und deshalb andere Vergesellschaftungsformen entwickelt, französische Sozialisten, und noch nicht mal die linkesten, aber noch nicht.
Sie nehmen die Erhöhung von Minimaleinkommen schon für die Vorspeise an der reichgedeckten Tafel der Sozialreform, und die Schaffung teurerer Beamtenjobs ist beinahe schon das Dessert. Die Hauptspeise aber fällt, mangels Ideen oder Masse, zwangläufig unter den Tisch.
In einer für Frankreich vielleicht spezifischen geistigen Selbstisolation schlagen Politiker und Wähler die bitteren Erfahrungen ihrer Nachbarn in den Wind, und können sich am Ende vielleicht glücklich schätzen, wenn sie das in weiten Teilen auf dem Stand des 19. Jahrhunderts stehengebliebene System ohne größere Konvulsionen auf den Stand der Mitte des 20. Jahrhunderts hin entwickelt haben.
Dann aber lägen sie gegenüber der Umwelt abermals zurück, dann würden -- endlich -- Grüne und Alternative mit vieljähriger Verspätung auch in Frankreich Massenzulauf finden, und die französischen Sozialisten könnten dann in den 90er Jahren bei den deutschen Genossen nachfragen, wie diese in den 80ern ihre enttäuschten Abgewanderten wiedergewonnen haben, oder mit welchen Mitteln sie es wenigstens versucht hätten.
Die hochgeschraubten Erwartungen manch kränkelnder Sozialisten-Partei in Europa auf neue Impulse durch das Modell Mitterrand sollten deshalb auf ein vernünftiges Maß reduziert werden.
Und jene Deutschen, die mit Reagan am Bein heute unvermittelt zu einem verbalen Gaullismus finden, den sie zu dessen Hochzeit gottlob durchschauten, sollten sich fragen, ob sie eine »alternative Sicherheitspolitik« auf ein Frankreich gründen wollen, das entgegen dem äußeren Anschein einem goldenen Zeitalter von Stabilität auch nicht entgegengeht.
Die französischen Kommunisten können sich Ratschläge über den rechten Weg, verscheuchte Wähler zurückzugewinnen, nirgends holen. Sie dürften in künftigen Jahren entweder als angepaßte Ministerpartei immer noch die alte Ordnung nach den alten Konzepten des Elysee-Palastes zu reformieren versuchen, vorausgesetzt, die halsbrecherische Annäherung an sozialdemokratische Ideenwelt und Dauerregierung kosten sie nicht so viele Anhänger, daß sie aus dem Mischkonzern Mitterrand schon vorzeitig wieder aussteigen.
Je länger sie in ihren so schwer errungenen Regierungsämtern verbleiben, um so schwerer dürfte der Anpassungsdruck werden. Je ernster Mitterrand den jakobinischen Staat dezentralisiert, um so stärker werden sich die regionalen und zentrifugalen Kräfte auch im Mittelbau der KP regen und die leninistischen Trümmer beiseite räumen.
Die Parteispitze hat dann vielleicht keine andere Wahl mehr, als wieder in die alten Schützengräben zu steigen und über den zeitweiligen Irrweg neuen propagandistischen Kunstnebel zu legen, unter dem sie in der Vergangenheit noch jeden Ausschlag ihres verwegenen Zickzack-Kurses zu verbergen suchte.
Die Deutschen mögen ruhig schlafen: Gefährlich sind die »Cocos« dann erst recht nicht mehr, außer die Bilanz des Präsidenten Mitterrand würde so katastrophal sein, daß sie der Versuchung nicht wiederstehen könnten, doch noch mal den Sturmtrupp der sozialen Revolte zu spielen.
In der Aufbruchstimmung dieses Frühsommers ist solche Einbruchsangst noch nirgends zu spüren, sowenig, wie für die triumphalistische SPD des Jahres 1969 das Jammertal von 1981 absehbar war.
Willy Brandt, der Sieger von damals, hatte zwar keine so durchschlagende parlamentarische Mehrheit wie der Sieger von heute, Francois Mitterrand. Dafür konnte er auf einer Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur aufbauen, die damals schon unvergleichlich moderner war, als die französische heute ist. Und der Partner des Franzosen ist immerhin die KP, mit 44 Abgeordneten sicher ein leichterer Weggefährte, als sie es mit den 86 Mandaten des alten Parlaments gewesen wäre, doch ein schwieriger Kumpel allemal.
Denn der Staatspräsident Mitterrand kann mit der (Beinahe-)Allmacht und Autorität seines Amtes sicher auch Parlamentsfraktion und Parteizentrale der Sozialisten auf Vordermann bringen, zumindest solange die neue Regierung ihre Jungfräulichkeit vor der Macht der wirtschaftlichen Fakten noch nicht eingebüßt hat und neue Ufer noch am Horizont hoffnungsvoll winken.
Doch in das ZK der KP kann er nicht blicken und, könnte er es, würde er die politische Seelenlage der Genossen doch nicht erfassen. Mit seinem starken Zug von Unbeirrbarkeit und Distanziertheit wird er deshalb versuchen, das Fehlen solcher Psychokenntnis souverän zu übergehen.
Er sagte schon nach seiner Wahl zum Staatschef am Abend des 10. Mai: »Meine Herren, die Schwierigkeiten fangen jetzt erst an.« Er sagte es zu früh. Die Schwierigkeiten fangen jetzt erst an.