DÄNEMARK Wohlgenährter Sklave
Es klingt wie die Klage eines Flüchtlings oder eines Vertriebenen: Ich will heim nach Norden.« Die Sehnsucht nach der Heimat überkommt den dänischen Schriftsteller und Historiker Palle Lauring immer dann, wenn er an die Mitgliedschaft seines Landes in der Europäischen Gemeinschaft denkt.
In der Kopenhagener Zeitung »Politiken« schilderte Lauring vorigen Dienstag, welche Gefühle ihn bei der Begegnung mit anderen Skandinaviern bewegen: »Als Bürger eines EG-Landes ist es heutzutage demütigend, in ein anderes nordisches Land zu kommen und auf das gleichgültige Lächeln und das Achselzucken zu treffen: Na ja, wenn ein Däne nur Geld sieht, ist er zufrieden mit dem Leben wie ein wohlgenährter Sklave.«
Daß die Dänen dabei seien, der EG ihre Seele gegen wirtschaftliche Vorteile zu verkaufen, glauben offenbar immer mehr von Laurings Landsleuten. Am selben Tag, an dem der Schriftsteller seine Abneigung gegen die EG veröffentlichte, manifestierte nach einer mehr als siebenstündigen Debatte auch das Parlament seinen Verdruß über die Rolle des Landes in der Gemeinschaft.
Mit 80 gegen 75 Stimmen lehnte die linke Mehrheit jene Reformen ab, die nach monatelangen Verhandlungen der nunmehr zwölf Mitgliedsländer in den Ur-Vertrag von Rom aufgenommen werden sollen: erweiterte Kompetenzen für das Europäische Parlament in Straßburg, Einschränkung des Vetorechts um Ministerrat, Verstärkung der außenpolitischen Zusammenarbeit.
Die Minderheitsregierung des Konservativen Poul Schlüter - sie hatte in Ahnung des Widerstandes zu Hause der EG-Reform nur mit Vorbehalt zugestimmt - wurde aufgefordert, im Kreis der Zwölf nachzuverhandeln.
Das Votum spiegelt das wachsende Unbehagen vieler Dänen über die politische Zukunft des Fünf-Millionen-Volkes an der Nahtstelle zwischen europäischem Kontinent und nordischer Halbinsel wider. Kein anderes Land Skandinaviens dem sich Dänemark aus langer historischer, kultureller und sprachlicher Tradition eng verbunden fühlt, mochte der EG beitreten. Eine Mehrheit der norwegischen Wähler lehnte 1972 den von der Regierung schon vereinbarten Beitritt ab. Die Schweden wollten der EG zuliebe nicht ihre jahrzehntelange Neutralitätspolitik aufgeben.
Nun sieht sich Dänemark im wirtschaftlichen und politischen Verbund mit Ländern wie Portugal, Italien und Griechenland, mit denen es kaum etwas gemein hat. Die EG-Leitstaaten Frankreich und Deutschland wiederum scheinen den auf ihre Eigenständigkeit bedachten Dänen zu machtvoll. Je enger sich die Gemeinschaft zusammenschließt, desto lockerer werden zwangsläufig die Bindungen an die unabhängigen skandinavischen Länder. Der gemeinsame Nordische Rat, dem auch Dänemark angehört, hat nur koordinierende Funktion.
Folge: In den Brüsseler Ministerräten legten die Dänen immer öfter ihr Veto ein, bei den Wahlen zum Europaparlament 1984 gewann die Anti-EG-Partei fast 21 Prozent der Stimmen.
Was viele Dänen beunruhigt, drückte Else Hammerich, Sprecherin der Volksbewegung
gegen die EG, am Tag der Parlamentsdebatte aus: Unaufhaltsam rutsche das Land in eine Union mit den anderen EG-Staaten und werde damit zu einem Teil des westeuropäischen Blocks; gleichzeitig wende es dem angestammten Norden immer mehr den Rücken zu.
Ende Februar will Ministerpräsident Schlüter das Volk über die EG-Reformen abstimmen lassen. Das Referendum wird in Wahrheit zum Volksentscheid über Dänemarks weitere EG-Zugehörigkeit. Denn die übrigen Mitgliedsländer über die Bremserrolle der Dänen schon seit langem verärgert, haben Außenminister Uffe Ellemann-Jensen bei dessen Blitztournee durch die EG-Hauptstädte vorige Woche wissen lassen, daß sie sich durch den Einspruch aus Kopenhagen nicht aufhalten lassen wollen.
Für die Dänen wird es eine Entscheidung zwischen Herz und Verstand. Wie kaum ein anderer Mitgliedstaat profitiert der viertkleinste - und reichste - EG-Partner von der Gemeinschaft: Allein 1984 erhielt das Agrarland im Norden über eine Milliarde Mark mehr aus der EG-Kasse, als es einzahlte.
Mit Hilfe großzügiger Zuschüsse aus Brüssel und dank garantierter Preise für Milch, Gemüse und Fleisch konnten die EG-Skandinavier mit einem Plus von 36 Prozent im Jahre 1984 den stärksten Anstieg der landwirtschaftlichen Einkommen unter allen Mitgliedstaaten verbuchen. Immerhin sind 205000 Menschen (7,4 Prozent der Erwerbstätigen) in der dänischen Landwirtschaft tätig.
Sollten die Zuschüsse aus den EG-Kassen wegfallen, müßte die Kopenhagener Regierung, so errechneten Haushaltsexperten der Gemeinschaftszentrale in Brüssel, jährlich rund drei Milliarden Mark aus Steuermitteln allein für die Bauern aufwenden, um den Ausfall zu kompensieren.
Unübersehbare Konsequenzen hätte ein Rückzug Dänemarks aus der EG auch für die Fischerei des Landes. Der dänischen Fischereiflotte steht gegenwärtig eine Fangquote von 30 Prozent in der Nordsee zu; soviel könnte ein außerhalb der Gemeinschaft stehendes Dänemark in Verhandlungen mit Brüssel nie herausschlagen.
Selbst die Absatzchancen für industrielle Produkte könnten sich bei einem Austritt erheblich verschlechtern. Dänemark exportiert fast 47 Prozent seiner Industrieerzeugnisse in die Gemeinschaft - ein Drittel mehr als in die Freihandelszone der Efta, der die übrigen drei skandinavischen Länder angehören.
Angesichts dieser düsteren Perspektiven scheint EG-Gegner Lauring schon zu schwanen, wie sich sein Volk letztlich entscheiden wird. »In allen Ländern, zu allen Zeiten, auch hier, gab und gibt es Menschen, die bereit sind, für klingende Münze ihre eigene Großmutter zu verkaufen und die dabei erklären, es sei nur zum Nutzen der alten Dame.«