JUSTIZ Womöglich milde
Anfang Juni 1974 wurde der Student Ulrich Schmücker, 22, im Berliner Grunewald erschossen. Tage später bereits bekannten sich die Täter vom Kommando »Schwarzer Juni« zur Hinrichtung des einstigen Genossen, der beim Verfassungsschutz geplaudert hatte: »Ein Verräter.«
Ferne-Mord, Selbstjustiz -- das war eindeutig. Doch bei der strafrechtlichen Bewältigung der Tat verheddert sich die ordentliche Justiz immer wieder.
Während des ersten Verfahrens schickte die 7. Große Strafkammer beim Berliner Landgericht Verteidiger nach Hause, weil der Prozeß geplatzt sei -- und lud sie tags darauf telegraphisch wieder, da es doch weitergehe. Das Urteil über das halbe Dutzend Angeklagter einmal lebenslänglich, erhebliche Freiheitsstrafen -- wurde vom Bundesgerichtshof auf Revision der Verteidiger glatt gekippt. BGH-Befund, insgesamt 33 Zeilen, über 127 Seiten Landgerichtserkenntnis: Ein möglicher »Verfahrensfehler« liege »auf der Hand«.
Nun hat, Monate vor Beginn des zweiten Durchgangs, die Staatsanwaltschaft abermals Prozeß-Theater im Kriminalgericht Moabit inszeniert: Sie will den Vorsitzenden der jetzt zuständigen 9. Strafkammer, Bernd Poelchau, 47, aus dem Verfahren schießen -- wegen »Besorgnis der Befangenheit«.
Zweifel an der Unvoreingenommenheit des Richters hegen die Strafverfolger nach Lektüre der SPIEGEL-Nummern 8 und 11/1976. In der einen Ausgabe hatte der inzwischen ermordete Generalbundesanwalt Siegfried Buback gesagt, »daß ein geständiger Täter natürlich auf die Milde des Gerichts bauen« könne. In der anderen hatte Poelchau per Leserbrief entgegnet: Milde des Gerichts sei keineswegs »natürlich« und das Geständnis kein »gesetzlich formulierter Strafmilderungsgrund«. Gehe es noch dazu nicht um eine Selbstbelastung« sondern ums »Singen«, mithin um »Arbeitserleichterung für die Strafverfolgungsbehörden«, so sei deren Honorierung »weniger Sache der Gerechtigkeit als Frage der Staatsrason
Aus dieser rechtlichen Klarstellung liest der Berliner Oberstaatsanwalt Hans-Dieter Nagel »deutlich« heraus, daß Poelchau befangen sei -- und zwar gegenüber einem Zeugen, dem einst mitangeklagten Jürgen Bodeux. Denn der, als einziger rechtskräftig verurteilt, habe in erster Instanz die einstigen Kampfgefährten belastet, also »gesungen«. Auf seine Aussagen aber werde es in der anstehenden Verhandlung abermals »im wesentlichen« ankommen. Wegen Poelchaus Reserve gegenüber solchen Bekundungen, so Nagels Gedankengang, könnten die Angeklagten dann »milder« wegkommen.
Selten nur in der bundesdeutschen Strafrechtsgeschichte haben Staatsanwälte Richter als befangen abgelehnt, obwohl sie laut Strafprozeßordnung dazu befugt sind -- und nie zuvor wohl mit so abwegiger Begründung. Denn Poelchau hat mit seinem Leserbrief nichts weiter getan, als den höchsten Ankläger daran zu erinnern, daß in der Bundesrepublik das Prinzip der Gewaltenteilung herrsche, daß Richter laut Verfassung nur an Gesetz und Recht, nicht jedoch an staatsanwaltliche Versprechen gebunden seien.
Diese Darlegung allerdings dürfte kaum die staatsanwaltliche »Besorgnis« ausgelöst haben. Näher liegt die Befürchtung, daß Poelchau wenig geneigt sein könnte, sich bei der Rechtsfindung von der Exekutive ins Richteramt pfuschen zu lassen. Denn nicht allein auf die Bodeux-Angaben wird es in der Femesache ankommen. Zu erörtern steht auch das Verhalten von Beamten des Verfassungsschutzes oder der politischen Polizei im Umgang mit Schmücker und Bodeux.
Was in dieser Hinsicht öffentlich zur Sprache kommt, hängt wiederum ab von den Aussagegenehmigungen des Berliner Innensenators. Weil der sich in erster Instanz sperrte, drohte damals das vorzeitige Ende des Verfahrens (SPIEGEL 26/1976).
Richter Poelchau, so könnten sich Staatsanwälte sorgen. macht womöglich regelrecht ernst mit seiner Unabhängigkeit von der Exekutive.