ERHARD-REISE Wort zum Sonntag
Ludwig Erhard, 70, sonst des Eigenlobs durchaus mächtig, verzweifelte an sich und an der Welt.
»Ich bin zu gut für die Politik«, stöhnte Bonns Altkanzler und paffte vermittels seiner Sonntagmorgenzigarre dicke Rauchwolken wie eine Lokomotive auf dem Abstellgleis.
Die lauteren Absichten des guten Menschen vom Tegernsee, von ihm selber als »tiefinnerliche Verpflichtung gefühlt«, waren wieder einmal mit dem kalten Kalkül des diplomatischen Politgeschäfts zusammengestoßen.
In der Frühe des vorletzten Sonntags hatte Brandts neuer AA-Staatssekretär Georg Ferdinand Duckwitz den Hausfrieden im Erhardschen Altenteiler-Domizil an der Bonner Johanniterstraße mit einem Telephonanruf gestört: Die seit langem geplante und für den nächsten Tag angesetzte Reise Professor Erhards nach Israel müsse ausfallen. Dies sei, meldete Duckwitz, die Regierungsmeinung.
Über diplomatische Kanäle habe man nämlich Nachricht aus Jerusalem empfangen, Israels Regierung beabsichtige, den Besuch des· deutschen Exkanzlers an den der Christenheit heiligen Stätten, die auf israelisch besetztem jordanischem Gebiet liegen, zu einer großen anti-arabischen Propagandaschau zu nutzen. Solche Demonstration ausgerechnet zur gleichen Zeit, da Jordaniens König Hussein am Rhein Besuch mache, würde Bonns besserungsbedürftige Beziehungen zu den Araberstaaten aber vollends zerschmettern.
Nun hatte Israels Bonn-Botschafter Asher Ben Natan in der Tat von Anfang an gesteigerten Wert darauf gelegt, daß Regierungsgast Erhard bei seinem Israel-Trip auch die im Sechs-Tage-Krieg besetzten Gebiete besuche. Anfang Oktober, als man daranging, den Fahrplan für die Erhard-Reise auszutüfteln, befand der Botschafter: .50 groß wie jetzt werden Sie Israel nicht wieder sehen. Wir werden das Programm erweitern müssen.«
Der eingeladene Erhard, der 1965 als Bonner Kanzler den normalen diplomatischen Austausch mit Israel unter Verlust der Beziehungen zu zehn arabischen Staaten bewerkstelligt hatte, wollte auch diesmal willfahren.
So kamen offizielle Besuche der Geburtskirche Jesu im ehemals jordanischen Bethlehem und der Grabeskirche in der frisch eroberten Jerusalemer Altstadt gleich für die ersten Tage auf die vorläufige Zeittafel des Erhardschen Zehn-Tage-Trips. Erhard: »Ich werde die heiligen Stätten als Christ wie ein Tourist besuchen.
Doch die Pilgerfahrt geriet ins Bonner Gerede, als Erhard Mitte Oktober hei einem Essen, das Bundeskanzler Kiesinger in der Godesberger Redoute für den ausgeschiedenen EWG-Präsidenten Hallstein gab, von seinen Absichten erzählte.
Die Sozialdemokraten Carlo Schmid und Helmut Schmidt rieten vehement ab: Ein Besuch in Israel so kurz nach dem Nahost-Krieg sei ohnehin schon ein Affront gegen die Araber. Dem Versuch Erhards, bei gleicher Gelegenheit seinen Kanzleramts-Nach-
* Vor einer KZ-Photographie in der Gedenkstätte »Vad Vashem« in Jerusalem.
folger Kiesinger als Schützenhelfer zu gewinnen ("Was halten Sie davon, Herr Bundeskanzler?"), entzog sich der Schwabe: »Das ist ein sehr schwieriges Problem.
Im Auswärtigen Amt an der Bonner Adenauerallee brachten die Nahost-Experten Alexander Bocker und Walter Gehlhoff in den nächsten Tagen eilends Expertisen zu Papier, wonach Bonns gestörte Beziehungen zur arabischen Welt sich gerade jetzt besonders gut reparieren lassen würden. Eine Israel-Reise des ehemaligen Bundeskanzlers könne da nur stören.
Also fand sich Ludwig Erhard dem AA gegenüber zu dem Zugeständnis bereit, er werde die christlichen Stätten auf bislang jordanischem Boden nicht mit großem israelischem Regierungsgefolge, sondern nur inoffiziell, von Vertretern der christlichen Kirchen begleitet, aufsuchen. Doch das paßte wiederum den Israelis nicht, die sich um die Aussicht geprellt sahen, den faktischen Verhältnissen nach ihrem Blitzsieg durch fremden Staatsbesuch in den besetzten Gebieten zusätzlich politisches Gewicht zu geben.
Ein hitziger Telegramm-Abtausch zwischen Jerusalem und dem Bonner Auswärtigen Amt gipfelte in dem Telephonanruf von Staatssekretär Duckwitz am vorletzten Sonntagmorgen, der Erhards Reise vorerst ganz abblasen sollte.
Die so erzeugte Hochspannung im Hause Erhard löste sich erst am Sonntagnachmittag gegen 15.30 Uhr. Da nämlich erschien Bonns Presseamts-Vize Conrad Ahlers, inzwischen ebenfalls um Vermittlung gebeten, mit den neuesten Nachrichten an Luise Erhards Kaffeetafel.
Ahlers trug die deutsche Übersetzung eines Telegramms bei sich, das am Sonntagvormittag von Israels Ministerpräsident Levi Eschkol persönlich für Außenminister Willy Brandt in Bonn eingetroffen war. In diesem Wort zum Sonntag aus Jerusalem machte Eschkol eine Liste von zehn namhaften Politikern der westlichen Welt auf, die seit Abschluß des Sechs-Tage-Krieges allesamt, ohne daß ihnen die Bonner AA-Bedenken eingefallen waren, die besetzten Gebiete auf dem Westufer des Jordans besucht hatten. Wenn Erhards Besuch nun aufgeschoben werde, müsse das »die deutsch-israelischen Beziehungen entscheidend trüben«, kabelte Eschkol und fragte: »Wollen Sie, Herr Außenminister, das in Kauf nehmen?«
Willy Brandt wollte nicht. Duckwitz rief abermals bei Erhard an und erteilte die Reiseerlaubnis. Noch am selben Abend ließ auch Bundeskanzler Kiesinger, von Ahlers angestoßen, gute Reisewünsche ins Haus Erhard telephonieren.
So kam denn schließlich Bundesdeutschlands Exkanzler samt Frau »Lu«, nur von seinem Privatsekretär Willi Stommel, 29, und zwei Sicherheitspolizisten begleitet, am Montagabend letzter Woche mit EL Al -- 424 aus der Bonner Kälte auf dem Flughafen Lod bei Tel Aviv an.
Gleich an der Gangway meldete sich Bonn freilich noch einmal. Israel-Botschafter Rolf Friedemann Pauls raunte zur Begrüßung: »Es hat noch eine Programmänderung gegeben, Herr Professor. Sie werden nicht am zweiten, sondern erst am vorletzten Tag Ihres Aufenthalts die Jerusalemer Altstadt besuchen.«
Den von den Israelis so sehr erwünschten Sympathiebesuch im ehemals jordanischen Bethlehem unternahm Frau Luise Erhard am letzten Mittwoch allein; ein militärisch bemannter Jeep mit schußbereit montiertem Maschinengewehr begleitete ihren Wagen.