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Artikel 29 / 97

»Worte fielen über mich her . . .«

aus DER SPIEGEL 17/1991

Das Messer hatte sich Mathias Rust ein Jahr vor der Tat gekauft, weil er, wie er sagt, mehrfach Morddrohungen erhalten habe und sich schützen wollte. Er brachte es später in ein »Bankschließfach in der Stadt«, in dem er auch Akten aufbewahrte. »Als ich die auspackte, fand ich die Waffe, nein, das Messer. Ich wollte es in einen Koffer im Auto tun, vergaß es, es blieb in der Manteltasche. Mit dem Schlüssel zog ich es zufällig heraus und tat es in die Hosentasche. Denn den Schlüssel habe ich immer dort . . .«

So Rusts Begründung dafür, warum er am 23. November 1989 - er leistete damals im Hamburger Stadtteil Rissen Zivildienst im Krankenhaus - die Frühschicht mit einem stilettartigen Springmesser in der Tasche antrat. Nach Schichtende gegen 14.30 Uhr stach er dieses Messer der 18jährigen, ihm nur flüchtig bekannten Schwesternschülerin Stefanie Walura zweimal heftig in den Leib. Daß es ihr trotz schwerer innerer Verletzungen und unter Schock gelang, aus eigener Kraft die eine Etage tiefer liegende Station zu erreichen, wo gerade ein Operationsteam bereitstand, rettete ihr das Leben.

Über Mathias Rust, 23, ist nicht nur wegen dieser Tat zu berichten, für die die Große Strafkammer 21 des Hamburger Landgerichts am Freitag voriger Woche eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten wegen versuchten Totschlags aussprach. Die Anklage hatte acht Jahre Freiheitsstrafe beantragt.

Rust war am Himmelfahrtstag des Jahres 1987 mit einer einmotorigen Cessna unbehelligt auf dem belebten Roten Platz in Moskau gelandet. »Am Roten Platz, an der Brücke«, korrigiert er den Vorsitzenden Richter, der ihn gerade »eine Person der Zeitgeschichte« genannt hatte.

Diese erste Tat, für die Rust bewundert und beklatscht, aber auch belächelt, beschimpft und verächtlich gemacht worden war, ist jedermann noch in Erinnerung. Er stand damals im Mittelpunkt des Interesses. Er wurde in Moskau festgenommen, dort vor Gericht gestellt, zu vier Jahren Arbeitslager verurteilt und ein Jahr lang in Haft gehalten.

Jedermann hat eine Meinung über diese Tat. Rust, der Hasardeur, das Flugtalent, der sonderbare Friedensapostel. Außenminister Genscher soll damals schallend gelacht haben. »Beim Rückflug aus Moskau hielt mich ein Passagier, ein armer Kerl, für einen Kasper. Ich gab ein leichtes Lächeln von mir«, berichtet Rust. Ein Großteil der internationalen Presse war nach seiner Rückkehr enttäuscht über den blassen, unreifen, hasenfüßigen Helden.

Rust ist nie nur Mathias Rust, sondern immer »der Kremlflieger«, auch als Angeklagter. Die Bewertung seiner zweiten spektakulären Tat, das stand zu erwarten, würde zumindest von der Einschätzung der ersten und deren Folgen beeinflußt sein. Die Frage, ob Rust auch zugestochen hätte, wäre er nicht der Kremlflieger gewesen, konnte nicht ausbleiben. Was das eine mit dem anderen zu tun hat, mußte geklärt werden. War der Angriff auf das Mädchen nur das schreckliche Nachspiel einer von einer einmaligen Konstellation besonders ungünstiger Umstände geprägten Krise - oder die Fortsetzung einer Entwicklung, die Rust in immer kritischere Situationen führt? Nach der Gefährdung vieler Menschen (auf dem Roten Platz) nun die gezielte Attacke gegen eine junge Frau?

Rust gibt sich dem öffentlichen Auftritt hin, steigert die Spannung, indem er zu Beginn des Prozesses 20 Minuten zu spät kommt. Dann schwelgt er in Erinnerungen. »Ich flog so häufig wie möglich. Ich war zu dieser Zeit ein äußerst politisch interessierter junger Mann. Es verletzte mich sehr, daß der Gipfel in Reykjavik zwischen Reagan und Gorbatschow scheiterte. Was konnte ein einzelner Mensch tun? Ich flog weiter. Monate vergingen.«

Im Januar 1987 seien abermals Gorbatschows Abrüstungsvorschläge abgelehnt worden. »Es ergriff mich die Idee, zur Quelle des Friedens - nach Moskau - zu fliegen. Ich hatte die Idee, als erster den Atlantik mit einer einmotorigen Maschine zu überqueren und in Reykjavik zu landen, um den Geist, der dort noch herrschte, aufzunehmen, diesen Geist . . .

»Ich hatte erst 50 Flugstunden. Andere Piloten würden dies nicht unter 500 Stunden wagen. Das war ein Test. Wenn Reykjavik gelingt, gelingt auch Moskau. Ich flog dann über Bergen nach Helsinki und verweilte dort. Ich sah im Fernsehen Bilder von Gorbatschow in der CSSR und fühlte eine tiefe Verbundenheit mit diesem Mann.

»Dann kam der 28. Mai. Ich gab als Ziel Stockholm an. Eine halbe Stunde nach dem Start fühlte ich ganz stark - ich mußte nach Osten. Ich mußte nach Moskau, ob real oder irrational. Denn meine Überzeugung war tiefer denn je. Die Zeit schien damals stillzustehen.«

Nach seiner Rückkehr habe er zu den wartenden Journalisten, »diesem Mob, wenn ich mal so sagen darf« (für einen Exklusivvertrag mit dem Stern bekam Rust 100 000 Mark), nicht sagen wollen: »Hier bin ich ins Paradies zurückgekommen aus der Hölle. Denn ich hatte in Moskau Freunde gewonnen. Draußen tobte eine Panik. Das Gejubel wandte sich in Buhrufe.« Der Vorsitzende Richter unterbricht ihn: »Die Einzelheiten Ihrer Rückkehr müssen wir jetzt nicht erörtern.«

Doch Rust kann nicht innehalten. »Ein, zwei Minuten geben Sie mir bitte noch. Ich hatte das Gefühl, vom Olympiasieger zum Olympiaverlierer geworden zu sein. Diesen Eindruck habe ich heute noch. Lesen Sie die Morgenpost, da steht ,Vom Kremlflieger zum armen Spinner'.«

So geht es in einem fort. Rust spricht nicht die präzise, knappe Sprache eines jungen Technikers. Er bläht sich auf, seine Gedanken schwellen, die Stimme wird melodramatisch. »Wenn die Menschen mich schon nicht wollen, dachte ich, vielleicht gibt mir ein Tier das Gefühl, mich zu verstehen. So fand ich meine Stute. Sie war mein Hauptansprechpartner, neben der Familie natürlich, meine Bezugsperson . . .«

Den psychiatrischen Sachverständigen interessiert sein seelisches Befinden nach dem Moskau-Flug. »Ich war gespalten wie ein Stück Holz . . . es war eine Reise ins Ungewisse . . . ich war eine leblose Hülle, die kein Leben in sich spürte, einsam und enttäuscht . . . ich wußte nicht, was mit mir war . . .« »Genügt Ihnen das?« erkundigt sich der Vorsitzende Richter.

Die Sprache, das Auftreten Mathias Rusts verwirren und beunruhigen. Für Augenblicke fällt es schwer, in ihm nicht einen Kranken, sondern den gestörten, von seiner Umwelt beschädigten Jungen zu sehen, der den Weltfrieden retten, sich selbst aber mit einem Messer schützen wollte. Der Vorsitzende Richter Jürgen Schenck, 62, einer der erfahrensten und routiniertesten Hamburger Strafrichter und ein wohlmeinender, bisweilen gütiger und weiser, gleichwohl abgehärteter Mann, hat sich auch ein Bild vom Kremlflieger gemacht. Er ließ Rust reden, er sorgte dafür, daß der verbal so irritierende Angeklagte nicht krachend auf dem Boden aufsetzte. Dennoch entging offensichtlich auch Schenck nicht ganz der Beunruhigung.

Die Staatsanwaltschaft hatte als Sachverständigen den Psychiater Professor Johann Burchard, 64, von der Universitätsnervenklinik Eppendorf beauftragt. Als sein Gutachten vorlag, gab die Kammer einem Antrag der Verteidigung statt, den klinischen Psychologen Herbert Maisch, 62, als weiteren Sachverständigen hinzuzuziehen. So etwas ist in schwierigen Fällen nicht völlig ungewöhnlich. Daß dem Hamburger Burchard der Hamburger Maisch an die Seite gestellt wurde - beide sind noch nie zusammen als Sachverständige aufgetreten, es kam noch nie zu einer offenen Konfrontation -, führte in diesem Fall jedoch zu Spannungen und Verärgerung.

Burchard und Maisch, obgleich sie sich immer wieder ähnlicher Erkenntnisse und Beurteilungen versicherten, unterschieden sich in vielem. Doch einen Punkt des Tatablaufs, an dem die Meinungen auseinandergingen, hielt die Staatsanwaltschaft für besonders wichtig. Die Lernschwester, der sich Rust im Umkleideraum in nach ihrer Meinung eindeutiger Absicht genähert hatte, soll dabei zu ihm gesagt haben: »Du liebestoller, geiler Bock, du wirst es nie schaffen. Das mit Moskau war auch nur ein Gag, um dich wichtig zu machen.«

Für Burchard hat dieser Satz Rust »mitten ins Zentrum der Neurose getroffen«; es sei zu einem starken Affekt gekommen, so daß eine Minderung der Schuldfähigkeit Rusts nicht auszuschließen sei. »Das muß ich mir schon gestatten«, sagte Burchard (der von einer »Unterstirnhirnigkeit« sprach und damit unnötige Aufregung auslöste, denn Rusts Hirn ist nicht krankhaft verändert). Maisch hingegen hält auch eine besonders abweisende Geste, einen entsprechenden Gesichtsausdruck, in den Rust etwas hineininterpretiert haben könnte, für denkbar.

Stefanie Walura, eine schmale, bescheidene Gestalt mit zarter Stimme, bestreitet diesen Ausspruch. Sie erinnert sich, zu ihm gesagt zu haben, »laß mich, was soll das«. Sie erinnert sich auch, an der Tür, die Rust zuvor zugeschlossen hatte, in ihrer Angst laut auf ihn eingeredet zu haben. Doch als die Tür wieder offen war, rannte sie nicht etwa hinaus, sondern ging zurück zu ihrem Spind, um Tasche und Jacke zu holen: »Ich habe nicht gedacht, daß er Weiteres macht.«

Rust wiederum behauptet, das Ganze sei von ihm als eine Art »lockerer Anmache« gedacht gewesen, ein Jux, ein Flachs. Man sei von der Tür weg zum Spind gegangen, er habe sich die Schuhe binden wollen, und da habe Stefanie plötzlich neben ihm gestanden. »Ich richtete mich auf, blickte ihr ins Gesicht. Sie blickte wütend, triumphierend. Dann kam so etwas wie eine Tirade. Worte fielen über mich her. Da riß etwas in mir. Ein Schnellfilm lief ab, der Flug, die Journalisten, die Verschmähungen. Dann war es dunkel um mich.«

Irgend etwas müsse wohl passiert sein, vermittelt Richter Schenck, das Rust für einen Moment aus der Bahn geworfen habe. Irgendeine Verletzung müsse gewiß geschehen sein, möglicherweise vor allem der Hinweis auf Moskau. Doch Burchard beharrt: Sollte der Satz nicht gefallen sein, würde seiner Auffassung nach eine völlig andere Begutachtungssituation vorliegen. Dann müßten andere, »niedere« Motive überlegt werden. Aber das Gericht halte den Satz ja für nicht widerlegt . . .

Das war für den Staatsanwalt das Stichwort. Nicht widerlegt? Hatte ihn Stefanie Walura etwa nicht bestritten? Es stellte sich heraus, daß Schenck am Tag vor der Gutachtenerstattung Burchard angerufen und ihm die Überzeugung der Kammer mitgeteilt hatte, also außerhalb der Hauptverhandlung. Der Staatsanwalt lehnte daraufhin Schenck wegen Besorgnis der Befangenheit ab - ein ungewöhnlicher, gleichwohl angezeigter Schritt. Doch Richter Schenck blieb.

Das Verhalten des Gerichts - sein Drängen in eine Rust entlastende Richtung, seine Entschiedenheit angesichts widersprüchlicher Aussagen, eine Urteilsbegründung, die zum Schluß fast einer Rechtfertigung glich - bestätigt den Eindruck, daß man sich sehr früh ein Bild vom Angeklagten gemacht hatte.

»Unser Strafgesetzbuch«, sagte Schenck, »läßt es zu, daß bestimmte exzeptionelle Tötungsverbrechen oder Versuche wie ein normaler Diebstahl oder wie ein normaler Betrug geahndet werden können. Das ist nicht Ausdruck einer besonders milden Gestimmtheit des Gerichts. Sondern das Gesetzbuch läßt es zu.«

Für die Angehörigen des Opfers sind solche Worte nicht leicht hinzunehmen. Warum, um Gottes willen, hat er den Umkleideraum abgeschlossen, wenn es ihm nur um eine Einladung zum Essen ging? Warum hat er, der 1,84 Meter große Junge, auf das 1,60 Meter kleine Mädchen zweimal heftig eingestochen? Sie kannten sich doch kaum.

Muß wirklich ein böses Wort gefallen sein, wie das Gericht unterstellt? Die Angehörigen glauben es nicht. »Sonst wäre das Tatgeschehen unbegreiflich«, sagt das Gericht, »sonst wäre Mathias Rust geisteskrank.«

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