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DEUTSCHE FRAGE Wovor haben wir Angst?

aus DER SPIEGEL 23/1956

Der »ganze Jammer deutscher Wirklichkeit«, so klagte der CDU-Abgeordnete Ernst Lemmer aus Berlin am letzten Mittwoch vor den Mikrophonen des Deutschen Bundestages, werde in der gerade behandelten Großen Anfrage über die »Entwicklung in der Sowjet-Zone und Möglichkeiten engerer Verbindung zwischen den beiden Teilen Deutschlands« offenbar.

Deutlicher noch spiegelte sich der »Jammer deutscher Wirklichkeit« im Hohen Haus am Rhein selbst wider: Da die Sitzung nicht der Vorbereitung parlamentarischer Entscheidung diente und mithin eigentlich ohne parlamentarischen Nutzen war, löschte die Mehrheit der Volksvertreter bei 22 Grad im Schatten mit Mollen und Milchmischgetränken im Bundeshausrestaurant ihren Durst oder diskutierte in der kühlen Wandelhalle bedenkliche Konjunkturschwankungen im westdeutschen Wirtschaftswunder.

Ihrer Verpflichtung gegenüber den »Brüdern im Osten« wohl bewußt, hatten sich fast alle 509 Abgeordneten morgens um neun Uhr im Plenum zur Zonendebatte versammelt. Zweieinhalb Stunden später waren noch genau 137 Parlamentarier im künstlich gekühlten Saal; bis zu 30 nebeneinanderliegende Sitzplätze in den hinteren Reihen standen leer und hochgeklappt.

Auf der Regierungsbank fehlten die schmollenden Minister Fritz Schäffer und Ludwig Erhard; auch Verteidigungsminister Theo Blank, der die westdeutsche Bundeswehr gegen die mitteldeutsche »Nationale Volksarmee« aufrüsten soll, hielt sich fern.

Bundeskanzler Konrad Adenauer hingegen saß die sechs Stunden der Debatte eisern ab, um sein Interesse an der Zone zu bekunden. Eine dunkle Brille auf der Nase sollte seine Augen erstmalig vor dem grellen Neonlicht des Plenums, das ihm zuwider ist, schützen; das Schwarz der Gläser ließ das faltige Antlitz des alten Mannes noch wächserner als sonst erscheinen.

Gelegenheit, selbst das Wort zu ergreifen, fand der Kanzler indessen nicht; es war sein gesamtdeutscher Minister Jakob Kaiser, der verkündete: »Die Bundesregierung begrüßt die Große Anfrage . . . Denn damit wird die zentrale Aufgabe aller deutschen Politik-die Wiedervereinigung in Freiheit - in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt.«

Obschon es diese »zentrale Aufgabe der deutschen Politik« zu erörtern galt, fand das beredte Schweigen des Kanzlers im Hohen Haus willige Nachahmung. Von den Wiedervereinigungsmatadoren Herbert Wehner (SPD) und Ernst Lemmer (CDU) abgesehen, blieb es Abgeordneten der zweiten Linie vorbehalten, die »brennende Sorge« ihrer Fraktionen über die schicksalhafte Teilung Deutschlands darzulegen.

Hauptredner der Parteien in der allgemeinen Aussprache waren:

- für die CDU Kaufmann Walter Brookmann, 55, aus Kiel;

- für die FDP Versicherungsdirektor Rudolf Will, 62, aus Berlin;

- für die DP Verbandsgeschäftsführerin

Margot Kalinke, 47, aus Hannover;

- für die FVP Volkswirt Hans Henn, 57, aus Berlin-Wilmersdorf;

- für den BHE Journalist Frank Seiboth,

44, aus Frankfurt.

Je öfter ein Redner den anderen ablöste. um so breiter wurde das Grinsen des ehemaligen kommunistischen Bundestagsabgeordneten Heinz Renner, der auf der Zuschauertribüne saß.

Es war einer der kläglichsten Tage des westdeutschen Parlamentarismus. Sagte Thomas Dehler: »Es ist beklemmend.« Als Berlins Parlamentspräsident Willy Brandt als erster Redner des Tages wie verabredet die Große Anfrage begründete (SPIEGEL 21/1956), rief er in den Saal: »Pankow und

seine Hintermänner sind nicht so taub, wie sie sich gelegentlich stellen.«

Derartige Darbietungen wie die Bundestagsdebatte am Mittwoch letzter Woche dürften den Bewohnern der Sowjet-Zone nicht allzuviel Trost, den Machthabern in Pankow nicht allzuviel Schrecken einflößen. Aber alle Fraktionen des Bundestages hatten gemeint, auf eine solche Demonstration nicht verzichten zu sollen. Daß die Reden nicht viel Neues bringen würden und das Zuhören deshalb nicht unbedingt nötig war, wußten die Parlamentarier von vornherein. Ein vollbesetztes Plenum wäre aber immerhin eine Demonstration gewesen. Indes: Der seit Wochen mit großem propagandistischem Aufwand angekündigte Vorstoß der freien Welt in die von der Entstalinisierung erschütterte Zone versickerte in der gähnenden Leere und Langeweile des Hohen Hauses.

Als Herbert Wehner um die Mittagszeit, von Leidenschaft geschüttelt, für die Freilassung der Gefangenen in Ost und West

- der »Opfer des kalten Krieges« - und

für neue innerdeutsche Abkommen zur Erleichterung der menschlichen Existenz plädierte, galt die Aufmerksamkeit der Mehrheit des Hauses der Speisekarte des

Bundeshausrestaurateurs La Roche, um herauszufinden, ob die tägliche Magenschonkost oder ein anderes Gedeck der schwülen Atmosphäre der kleinen Residenz am Rhein und dem verbreiteten Wunsch nach Gewichtsabnahme angemessen sei. »Wir können uns auf die demokratische Festigkeit dieses (westdeutschen) Teils der deutschen Bevölkerung und auf seine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit verlassen, wovor haben wir also Angst?«, fragte Wehner in das nahezu leere Parlament hinein.

Wenn die Debatte überhaupt etwas in die Zone ausstrahlte, dann gewiß nichts Erhebendes.

Ein tatsächlicher Fortschritt jedoch wurde an ganz anderer Front, in Bonn selbst, erzielt. Die Antwort der Bundesregierung

auf die 23 Fragen aller Fraktionen, die vom gesamtdeutschen Minister Jakob Kaiser abgelesen wurde, enthielt zum ersten Male einen Freibrief für alle jene Organisationen, die - wie das Kuratorium »Unteilbares Deutschland« - die »kleine Wiedervereinigung«, den Kontakt zwischen Mittel- und Westdeutschland, von sich aus betreiben.

Bisher mußten sie alle ohne erklärte Unterstützung der Bundesregierung operieren; das hemmte ihre Arbeit. Jetzt erklangen zum erstenmal ganz neue Töne. Die Bundesregierung begrüße und fördere, so erklärte Jakob Kaiser wörtlich, »alle Bestrebungen, die der Jugend die Möglichkeit geben, sich gegenseitig kennenzulernen und Land und Leute diesseits und jenseits der Zonengrenze zu erleben.

»Das gleiche gilt für die sportlichen Begegnungen, die dem gleichen Ziel dienen. Das starke Echo, das alle kulturellen Bemühungen aus dem freien Teil von Deutschland bei der Bevölkerung der Zone finden, ermutigt zu weiteren Schritten, an denen sich alle kulturellen Einrichtungen des. Bundes und der Länder, alle Universitäten, Rundfunkanstalten, geistes- und naturwissenschaftliche Institute, Vereinigungen und Gesellschaften, unsere Theater und

Orchester nach Möglichkeit beteiligen sollten.«

Um sich klarzumachen, was diese Erklärung bedeutet, braucht man sich nur vor Augen zu halten, daß noch vor wenigen Jahren ein westdeutscher Geiger, der in Mitteldeutschland auftrat, von der Bundesregierung als kommunistischer Mitläufer gebrandmarkt wurde.

Bundesminister Jakob Kaiser hatte denn auch in den Wochen vor der Debatte im eigenen Haus und im Kabinett Intrigen und Attacken durchstehen müssen, um ein so geartetes Programm im Namen der Bundesregierung verkünden zu können. Daß er es schließlich doch gegen seinen Staatssekretär Thedieck und gegen die Skepsis des Bundeskanzlers schaffte, beweist, was die Zonendebatte noch schamvoll verhüllte und was dennoch die wichtigste Veränderung der letzten Monate ist: Die starren Fronten in Bonn sind ins Wanken geraten.

Konföderation in Sicht

Das Begrüßenswerte an dieser längst überfälligen Entwicklung hört indessen schon dort auf, wo sie in eine allgemeine Aufweichung und Auflösung übergeht. Der Spielraum dazwischen ist schmal. Wie schwer es ist, seine Grenzen zu definieren, haben zwei Vorkommnisse der vergangenen Wochen gezeigt.

Der Sowjet-Experte der SPD, Herbert Wehner, versuchte auf eigene Faust in Stockholm und Belgrad den schwedischen Staatsmännern Erlander und Unden und dem Marschall Tito Gesichtspunkte zur deutschen Frage einzuhämmern. Nach Stockholm reiste er in Begleitung Erich Ollenhauers zum Parteitag der schwedischen Sozialisten, nach Belgrad privat auf Einladung der jugoslawischen. Regierung. Allerdings war auch diese Reise mit dem Parteivorstand abgesprochen.

In Belgrad konferierte Herbert Wehner mit dem stellvertretenden Regierungschef Kardelj und - eine Stunde lang über deutsche Affären - mit Tito, dessen Koffer schon zur Moskaureise gepackt waren. Mit der deutschen Botschaft - deren Leiter Karl Georg Pfleiderer sich gerade auswärts aufhielt - nahm Herbert Wehner keinen Kontakt auf. Dies vergrämte den amtierenden Botschaftsrat so sehr, daß der Beamte auf dem Belgrader Bahnhof gegenüber dem auf Heimfahrt von Griechenland durchreisenden Bundespräsidenten Theodor Heuss bewegte Klage über so viel Selbständigkeit westdeutscher Parlamentarier führte.

Von beiden Ausflügen in die europäischen Metropolen des neutralen Gürtels rund um den Sowjetblock brachte Herbert Wehner einstweilen den Eindruck mit, daß der Kreml zur Zeit nichts anderes zulassen werde als eine Annäherung der beiden Deutschlands. Wehner hofft, bald mehr zu wissen.

Es schien bereits eine Frucht seiner Reise zu sein, als der SPD-Abgeordnete Mommer am vergangenen Mittwoch in der Bundestagsdebatte technische Kontakte zwischen Bonn und Pankow sogar auf Ministerebene forderte. Und in den nächsten Monaten wird zweifellos in der Bonner Diskussion die Idee einer Konföderation der Bundesrepublik und der sogenannten Deutschen Demokratischen Republik als Vorstufe zur deutschen Einheit immer mehr in den Vordergrund rücken.

So fraglich es heute noch ist, ob Aktionen à la Wehner auf lange Sicht nur den Westen oder auch den Osten überzeugen, so gewiß ist es, daß andere Vorgänge auf der Bonner Bühne ausschließlich Moskau zugute gekommen sind.

Um welche Vorgänge es sich dabei handelt, verriet Nikita Chruschtschew selbst

während seines Englandbesuchs bei einem kleinen Herrenessen mit Labour-Politikern im Unterhaus; ein genaues Protokoll der Tischgespräche bei diesem Essen ist erst verspätet in Bonn eingetroffen. Chruschtschew erklärte, Europa könne sich keine westdeutsche Aufrüstung leisten. Er betonte, die Deutschen seien hervorragende Techniker und militaristisch gesinnt. Die deutsche Wiederaufrüstung könne eine neue deutsche Gefahr heraufbeschwören.

Und wörtlich fuhr er vor den erschreckten Labour-Abgeordneten fort: »Es gibt in Westdeutschland Kräfte, die eine Allianz mit der Sowjet-Union suchen, und wenn Sie und der Westen weiter darauf bestehen, Deutschland zu bewaffnen, wird die Sowjet-Union keine andere Wahl haben, als mit diesen Kräften eine Allianz einzugehen, was weder für Sie noch für den Westen irgend etwas Gutes bringen konnte.«

Die Quelle, aus der Nikita Chruschtschew die Gewißheit schöpfte, daß gewisse Kräfte in Westdeutschland eine Allianz mit Rußland anstreben, ist der Bonner Kreml-Botschafter Walerian Sorin.

Den wenigen Berichten des Sowjet-Botschafters, die bisher in die Hände alliierter Nachrichtendienste gerieten, war zu entnehmen, daß Genosse Sorin diesem Thema eine ins Detail gehende Aufmerksamkeit widmet. Er scheut sich nicht, in seinen Berichten die Namen seiner Gesprächspartner zu nennen.

Was ihm vor allem bürgerliche Politiker - innerhalb und außerhalb der Koalition

- nach einigen Gläsern Wodka auf Empfängen und Diners anvertrauen, mag ins unreine gesprochen sein; es macht indessen Nikita Chruschtschews Londoner Erklärung voll verständlich. Mindestens vier bürgerliche Bonner Bundestagsabgeordnete haben den Sowjet-Botschafter Sorin wissen lassen, daß ihrer Meinung nach ein rechtsgerichtetes wiedervereinigtes Deutschland nur allzugern in Frieden und Freundschaft mit seinem sowjetischen Nachbarn leben wolle.

Es scheint in der Tat so, als werde der Aufloderungsprozeß heute nur noch in der unmittelbaren Umgebung des Kanzlers aufgehalten. Dort indes wird er mit Mitteln behindert, die die Erbitterung außerhalb des engen Zirkels nur noch steigern.

In der Fraktionssitzung der CDU am Tage vor der Bundestagsdebatte wurde offenbar, wie tief die Kluft heute selbst in der allmächtigen Union ist. Es kam in dieser Sitzung zu einem harten Zusammenstoß zwischen Berlins CDU-Vorsitzendem Ernst Lemmer und dem Bundesinnenminister Gerhard Schröder. Während Lemmer für eine Begnadigung der politischen Gefangenen in Ost und West eintrat, beharrte Schröder eisern auf dem Standpunkt, daß man die im Gefängnis sitzenden Kommunisten nicht mit den politischen Märtyrern in der Ostzone vergleichen könne.

Ein Schemen dieser Auseinandersetzung wurde auch noch in der Bundestagsdebatte offenbar; als Lemmer dort vor dem Mikrophon des Bundestages seinen Appell zur Begnadigung in Ost und West wiederholte, wurde ihm von der SPD-Seite zugerufen, sein eigener Innenminister Gerhard Schröder zei augenscheinlich anderer Meinung. Lemmer antwortete: »Provozieren Sie mich nicht zu unfreundlichen Bemerkungen.«

Konrad Adenauer hatte während der gesamten Ausführungen Ernst Lemmers den Grad seines Interesses für die Rede des Berliner Wiedervereinigungsstreiters dadurch bekundet, daß er ein angeregtes Gespräch mit dem evangelischen Oberkirchenrat Cillien führte.

Wenig später sah Lemmer sich deswegen veranlaßt, den Kanzler selbst auf die Hörner zu nehmen. Er sagte, er wolle nun zum Schluß seiner Rede kommen, um die Geduld des Hohen - und leeren - Hauses und »die Geduld des Herrn Bundeskanzlers nicht allzusehr zu strapazieren«.

Der Kanzler in der Zonendebatte*

Pankow ist nicht so taub

Plenarsaal während der Zonendebatte: Eine Demonstration mißlang

SPD-Ostspezialist Wehner

Erkundungsreisen zu den Neutralen

Gesamtdeutscher Minister Kaiser

Kulturreisen in die Sowjetzone

* Dahinter: der Bundesbevollmächtigte in Berlin, Vockel.

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