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FRANKREICH / KONJUNKTUR Wunder in Sicht

aus DER SPIEGEL 21/1970

Wir leben in einer immer gewalttätigeren Welt«, konstatierte Frankreichs Staatschef Georges Pompidou Anfang des Monats, »aber Frankreich ist glücklich.«

»Glückliches Frankreich« überschrieb denn auch die Wirtschaftszeitung »Enterprise« ihre Titelgeschichte in der vorletzten Woche und behauptete: »Unser Lebensstandard ist sicherlich niedriger als der der Amerikaner, aber unsere Lebensart ist überlegen.«

So konnte selbst die Wallstreet-Baisse, die Börsianer von Frankfurt bis Tokio schreckte, das Glück der Franzosen nicht stören. »Niemand glaubt an eine schwere und langwierige Krise in den USA«, schrieb das Nachrichtenmagazin »L'Express«. Und einer der bekanntesten Ökonomen des Landes, Jacques Plassard, behauptete gar: »Selbst wenn es eine Weltkrise geben würde, Frankreich würde als letztes Land einen Schock bekommen.«

Zwei Jahre nach den Studentenunruhen und Streiks im Mai 1968, ein Jahr nach dem Rücktritt de Gaulles fühlen sich die Franzosen so wohl wie lange nicht mehr. »Die französische Wirtschaft hat Gott sei Dank ihr Gleichgewicht wiedergefunden«, verkündete Wirtschafts- und Finanzminister Valéry Giscard d'Estaing, »Frankreich ist gut gesichert.«

Tatsächlich war Giscard mit seinem am 3. September vergangenen Jahres verkündeten Sanierungsprogramm erfolgreicher, als er damals selbst prophezeit hatte. Acht Monate Stabilisierungsmühen bescherten Frankreich

* einen ausgeglichenen Staatshaushalt,

seit Anfang dieses Jahres Devisenüberschüsse von nahezu vier Milliarden Mark und

* seit März eine aktive Handelsbilanz.

Bis zum Tag der Abwertung des französischen Franc im vergangenen August waren die Gold- und Devisenvorräte der »Banque de France« von mehr als 25 Milliarden Mark (vor den Mai-Unruhen) auf 13,2 Milliarden gefallen. Giscard war damals gezwungen, die Zentralbanken der westlichen Industriestaaten -- vor allem die Deutsche Bundesbank -- anzupumpen, um der Franc-Flucht der Währungsspekulanten begegnen zu können.

Inzwischen hat Frankreich den ausländischen Notenbanken sämtliche kurzfristigen Swap-Kredite (insgesamt 5,67 Milliarden Mark) zurückgezahlt und außerdem den Schuldenberg bei inländischen Geschäftsbanken (insgesamt 3,2 Milliarden Mark) um 1,8 Milliarden Mark abgetragen.

Trotz strenger Sparmaßnahmen, die gallische Konsumlust drosselten, ist es Giscard gelungen, die Investitionsneigung der französischen Unternehmer zu wecken und die Exportwirtschaft anzukurbeln. »Der Traum aller Wirtschaftsminister', lobte der Pariser »Le Monde«, »erfüllte sich: Die berühmte Expansion bei monetärer Stabilität.«

Frankreichs Industrie-Investitionen wachsen derzeit um 27 Prozent, die Ausfuhren um etwa 20 Prozent -- bei ausgeglichenem Budget und nahezu ausgeglichener Zahlungsbilanz. »Ist Frankreich eine Insel wirtschaftlicher Vernunft geworden?« fragte »Le Monde«.

Zwar stiegen die Preise in den ersten vier Monaten dieses Jahres mit 2,2 Prozent um 0,5 Prozent schneller, als Finanzchef Giscard prognostiziert hatte. Trotzdem lobte Marcel Pellenc, kritischer Berichterstatter des französischen Senats und Alptraum aller Finanzminister der V. Republik, den Wirtschaftssanierer. Die Brüsseler EWG-Kommissare erteilten Frankreich als einzigem EWG-Land gute Noten für seine Wirtschaftspolitik.

Selbst der sonst eher unterkühlte Giscard d'Estaing geriet in Euphorie. In einem Interview mit der Illustrierten »Paris-Match« schwärmte er von einem »französischen Wunder, das sich in unserer Reichweite befindet«.

Soweit freilich ist es noch nicht. Obgleich die Regierung kürzlich die Touristendevisen um 500 Franc pro Auslandsurlauber auf 1500 Franc erhöhte, besteht sie weiterhin auf strenger Devisenkontrolle. Denn: »Der französische Kapitalist sucht -- beim kleinsten Studentenkrawall -- schnell den Weg ins Ausland«, klagte das Wirtschaftsmagazin »L'Expansion«.

Doch Frankreichs Studenten sind

zur Zeit jedenfalls -- zahm. Eher könnte die Preisentwicklung im Ausland die wirtschaftliche Stabilität Frankreichs gefährden. Denn bei einem System starrer Wechselkurse, liberalisiertem Außenhandel und weltweiter Inflation »lautet«, so »Le Monde«, »die Frage im Grunde: Kann man ganz allein vernünftig sein?«

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