»Wunder sind möglich«
Als die erste Glocke ertönte und eine Lautsprecherstimme die Besucher einlud, Platz zu nehmen, wurden die draußen vor der Tür in eisiger Kälte Wartenden nervös.
Nur mühsam zurückgehalten von vier Milizionären, die blauen Eintrittskarten in die Luft gereckt, drängelten sie sich durch den schmalen Eingang des Moskauer Premierentheaters »Rossija« am Puschkin-Platz, wo früher einmal ein Kloster stand und heutzutage manchmal sich eine Schar Dissidenten trifft.
Die Kinogänger vom vorigen Donnerstag fürchteten, den Beginn eines Filmes zu versäumen, der seit Monaten in der Sowjet-Hauptstadt für Aufregung sorgt: »Die Beichte« des georgischen Regisseurs Tengis Abuladse - ein Film, so die Moskauer Abendzeitung, »auf den man wartete«.
Moskaus obere Zehntausend hatten ihn schon in geschlossenen Vorführungen gesehen und mit Ovationen gefeiert. Menschen fielen einander weinend in die Arme, als der Film zu Ende war.
Das Publikum im »Rossija«, darunter auch Prominente wie der Sekretär des Präsidiums des Obersten Sowjet, Tengis Menteschaschwili, reagierte weniger stürmisch. Doch auch hier gab es Beifall, bevor die letzte Szene zu Ende war.
Für viele der 2500 Zuschauer war dieser Kinoabend nicht nur Kunstgenuß, sondern ein politisches Schlüsselerlebnis. Denn zum ersten Mal bekamen sie, so der Filmkritiker Wladimir Lakschin in einer Rede vor Beginn des Filmes, »die grausame Wahrheit« über eine Zeit zu sehen, die im offiziellen Sprachgebrauch schwammig mit »Periode des Personenkults« umschrieben wird und die Parteichef Gorbatschow in seiner ZK-Rede am vorigen Dienstag zu »bekannten Umständen« schrumpfen ließ, aufgrund deren »lebendige Diskussion und schöpferisches Denken verschwanden": das Terrorregime Stalins und seines Geheimpolizeichefs Lawrentij Berija.
Die Qualität des Films sei gar nicht in Worte zu fassen, weil »alles wahr ist«, sagte eine begeisterte Zuschauerin nach der Vorstellung. Ein junger, bärtiger Bühnenarbeiter: »Ich hätte nie gedacht, daß unsere Zensur den Film durchläßt.«
Ein Dozent an einem wissenschaftlichen Institut zeigte sich »tief aufgewühlt«. Seine Familie sei selbst Opfer des Stalin-Terrors: »Mein Vater ist aus Sibirien nicht zurückgekehrt. Dieser Film hat eine unvorstellbare Bedeutung für mich.«
Eine ältere Frau reagierte ähnlich ergriffen. Sie habe die Verhaftungswelle 1937 miterlebt, und es sei gut, daß nun unter Parteichef Michail Gorbatschow »an die Vergangenheit erinnert« werde.
Dies hatte es zum letztenmal vor 24 Jahren gegeben, unter Chruschtschow, als die Intellektuellen-Zeitschrift »Nowy mir« die Gulag-Erzählung von Alexander Solschenizyn »Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch« veröffentlichte und der Film »Klarer Himmel« Stalin, den Verderber Rußlands, beim Namen nannte.
Nun findet wieder, wenn auch nur allegorisch, Vergangenheitsbewältigung für ein Millionen-Publikum statt. Das Kino »Rossija« ist bis Ende April ausverkauft. In Georgien, der Heimat Stalins und Berijas, lief der Film bereits im Fernsehen. Zeitungen und Radio berichten ausführlich über ihn.
Die Idee zu diesem Werk hatte Regisseur Abuladse, 63, bereits vor 20 Jahren. Doch damals war die blutige eigene Geschichte der UdSSR schon wieder kein Thema mehr, eine Aufarbeitung nicht mehr gefragt. Schamlose Kapitalisten, so die Begründung, würden sie nur zum Schaden der Heimat ausschlachten.
In Breschnews Todesjahr 1982 setzte Abuladse seinen alten Plan in die Tat um, 1984 waren die Dreharbeiten abgeschlossen. Dann erlitt der Film das Schicksal vieler heikler Werke: Er blieb zwei Jahre unter Verschluß. Abuladse: »Es gibt Leute, die konservativ denken.«
Die waren so stark, daß selbst ein mächtiger Mentor wie der damalige georgische Parteichef Eduard Schewardnadse nicht helfen konnte: Der heutige Außenminister hatte das Projekt Abuladses von Anfang an wohlwollend unterstützt und das Drehbuch persönlich genehmigt.
Ohne Schewardnadse und seine Genossen in Tiflis wäre der Film wohl nie gedreht worden. Hätten wie üblich allein Moskauer Kulturfunktionäre das Sagen gehabt, so Abuladse, wäre das Szenario vom damaligen Chef des Staatskomitees für Kinematographie, Filipp Jermasch, ohne Zweifel »abgeschmettert« worden. Der neue Parteichef Gorbatschow und sein zweiter Mann, Jegor Ligatschow, gaben im vorigen Jahr nach einer Sondervorführung schließlich das Werk frei. Der Regisseur: »Es hat ihnen sehr, sehr gut gefallen.«
Lediglich eine Passage mußte er umschreiben: Statt der Formulierung »Huren huren« heißt es nun »Dirnen schlendern«. Sonst, so beteuert Abuladse, habe er nichts ändern müssen. Genutzt hat ihm zweifellos, daß der Film »nicht nur gegen Stalin« gerichtet sei, sondern gegen »alle Diktatoren, in deren Händen sich unbegrenzte Macht konzentriert«. _(Frau eines Deportierten, die an ) _(Baumstämmen aus Sibirien nach ) _(Lebenszeichen von Verschleppten sucht. )
Um dies zu demonstrieren, löste Abuladse die Handlung von Zeit und Ort: Polizisten tragen Ritterrüstungen, Richter Perücken, mittelalterliche Pferdefuhrwerke karren Gefangene in den Kerker.
Die Hauptfigur, ein tyrannischer Bürgermeister namens Warlam Arawidse, an dessen Haus ein Galgen steht, ist mit Schnauzbart, schwarzer Uniform, Stoppelhaarschnitt und Kneifer eine Mischung aus Hitler, Himmler, Mussolini, Pinochet, Stalin und Berija.
Die einzelnen Episoden des Films beruhen jedoch auf wahren Begebenheiten aus der Sowjet-Union. So wird eine Kirche gesprengt, in der sich ein Laboratorium befindet - wie es tatsächlich in Tiflis geschah.
Film-Diktator Warlam liebt Opern, wie Berija sie liebte; ein Referent schlägt dem Tyrannen im Zorn über eine willkürliche Verhaftung den Kneifer von der Nase - Berija trug (wie Himmler) einen Kneifer und fing sich angeblich ebenfalls einmal von einem Untergebenen eine Ohrfeige ein, was der bitter büßte.
Auch die ergreifendsten Szenen des Films zeigen eine von Millionen Sowjetbürgern erlebte Wirklichkeit: Frauen stehen vor einem kleinen Fenster und versuchen, Post für ihre verhafteten Männer loszuwerden. Sie erhalten zur Antwort: »Kein Recht auf Schriftwechsel« - das kommt einer Todesnachricht gleich.
Als eine Ladung Holz aus Sibirien die Stadt erreicht, machen sich Frauen und Kinder auf die nahezu aussichtslose Suche nach ins Holz geritzten Lebenszeichen ihrer Männer und Väter (siehe Photo).
Für die meisten Zuschauer besteht denn auch kein Zweifel, daß es in »Die Beichte« vor allem um die eigene Geschichte geht. Der Dichter Robert Roschdestwenski in der »Literaturnaja gaseta": »Alles fand in unserem Staat statt, in unserem.«
Manche Sowjetbürger sehen allerdings in den zahlreichen surrealistischen und religiösen Anspielungen eine Gefahr, die junge Generation könne den Film nicht verstehen. Und tatsächlich reagierten Jugendliche kühler als ihre Eltern.
Er begreife die Aufregung nicht, sagte einer nach der Premiere des Films, außerdem sei er vom georgischen Nationalismus geprägt. Eine 35jährige Wissenschaftlerin dagegen berichtet, sie habe nach dem Film wie gelähmt einen halben Tag nicht arbeiten können.
Der Künstler Jurij Mogiljowski gestand bei einer Diskussion über »Die Beichte« im Moskauer Haus des Kinos vorige Woche: Er habe längst keine Hoffnung mehr gehabt, solch ein Werk zu sehen. Nun wisse er: »Wunder sind möglich.«
Dann verbeugte er sich tief vor dem Regisseur.
Frau eines Deportierten, die an Baumstämmen aus Sibirien nachLebenszeichen von Verschleppten sucht.