FRANKREICH / REIFEPRÜFUNG x 4 : 20
Immer mehr Weißkäseklumpen klatschten
gegen die altersgrauen Wände des Hauses Rue Vauquelin 22 im Pariser Universitätsviertel Auch den Polizisten, die sich bemühten, der meist jugendlichen Demonstranten Herr zu werden, flog Weißkäse ins Gesicht.
Diese Käseschlacht war die Folge einer Flut von Briefen, in denen das in der Rue Vauquelin 22 ansässige Zentralamt für Reifeprüfungen am Tag zuvor Frankreichs 232 000 diesjährigen Primanern das Ergebnis ihrer Bemühungen um das »Baccalaureat«, Frankreichs altehrwürdiges Diplom für Oberschüler, mitgeteilt hatte.
Viele der 93 000 Kandidaten, denen ein »Nicht bestanden« bescheinigt worden war, glaubten grobe Fehler der zentralen Prüfungskommission beim Auswerten der Examensarbeiten zu erkennen. Grölend und gestikulierend bogen sie in die Rue Vauquelin.
Es hätte indes dieser Primanerproteste nicht bedurft, um die öffentliche Diskussion über die Fragwürdigkeit des antiquierten Baccalaureat-Systems anzuheizen. Selbst eine sonst in ihrer Diktion so vornehme Zeitung wie »Le Monde« sprach von »totaler Idiotie«, weil nach wie vor einmalige Prüfungsarbeiten nach einem komplizierten Zahlensystem, nicht aber die Jahresleistungen der Schüler bewertet werden.
»Man muß es als verrückt empfinden«, ereiferte sich das Pariser Weltblatt, »in jedem Sommer die Ferien, die Moral und die Zukunft Hunderttausender von Kindern durch eine Institution zu gefährden, die keine Daseinsberechtigung mehr hat. Seien wir mutig und ersetzen wir das Baccalauréat durch ein schlichtes Schulabgangszeugnis für Gymnasiasten.«
Mit dieser revolutionär klingenden Forderung stellte sich »Le Monde« in krassen Gegensatz zu jenen französischen Schulmännern, die das Baccalauréat nach wie vor als unumgängliches Ausleseverfahren für Frankreichs akademischen Nachwuchs betrachten.
1808 unter Kaiser Napoleon I. erfunden, hat das Baccalaureat seinen Charakter seither kaum verändert. Wie gewohnt, wurden die Prüfungsthemen auch in diesem Jahr im Pariser Erziehungsministerium für alle französischen Schulen in Europa und Übersee einheitlich festgelegt. Wie gewohnt, hatten über die schriftlichen Arbeiten und mündlichen Kenntnisse der Aspiranten nicht die Lehrer der Primaner, sondern fremde Kommissionen zu befinden.
Als Verschärfung gegenüber den Vorjahren, die noch eine Verschnaufpause zwischen dem schriftlichen und mündlichen Teil des Examens kannten, war diesmal die ganze Tortur in drei Juniwochen zusammengedrängt.
Zermürbender aber noch als diese drei Wochen für die Kandidaten erschien den Prüfungskommissionen die anschließende Auswertung, der insgesamt 1 320 000 schriftlichen, Arbeiten und der mündlichen Prüfungsergebnisse innerhalb von sieben Tagen nach den komplizierten Richtlinien des Ministeriums.
Zur Errechnung der entscheidenden Durchschnittsnote in der Skala zwischen 20 (beste Note) und 0 (schlechteste Note) mußten die Prüfer das Ergebnis in den einzelnen Fächern noch mit bestimmten Koeffizienten multiplizieren:
- Französisch, Latein und Griechisch
jeweils mit vier;
- Geschichte und Erdkunde mit drei;
- Mathematik, Physik und lebende
Fremdsprachen jeweils mit zwei.
Die ermittelte Gesamtpunktzahl war dann durch 20 zu dividieren, um die Durchschnittsnote zu ermitteln. Lag diese über zehn, hatte der Prüfling bestanden. Noten zwischen sieben und zehn berechtigten ihn zur Teilnahme an einer mündlichen Nachprüfung. Unter sieben: durchgefallen.
Da die Verwendung elektronischer Rechenmaschinen im Vorjahr zu einigen Fehlern geführt hatte, bürdete Erziehungsminister Lucien Paye dieses knifflige Multiplizieren und Dividieren diesmal den Mitgliedern der Prüfungskommissionen auf, die sich ohnehin - so »Le Figaro« - »von der Sturmflut der 232 000 Kandidaten so überrollt sahen wie die französischen Armeen durch den Panzervormarsch der Deutschen im Jahre 1940«.
So konnte es nicht ausbleiben, daß einige Tausend Baccalauréat-Aspiranten beim Nachrechnen der Ergebnisse Fehler entdeckten. Sofern diese Rechenfehler zu ihren Gunsten ausgefallen waren, schwiegen sie, anderenfalls zeterten sie »Skandal« oder zogen mit weißem Käse in die Rue Vauquelin.
Minister Lucien Paye, 54, der sich seine Qualifikation zum obersten Schulmeister Frankreichs ehedem als Chef des Erziehungswesens in Marokko, Algerien und Tunesien erworben hatte, versuchte, den Entrüstungssturm durch die Zusage sorgsamer Nachprüfung jeglicher Beschwerde zu beschwichtigen.
Währenddessen setzte sich der Präsident des Akademikerverbandes, Guy Bayet, gegen den Vorwurf zur Wehr, die Prüfungskommissionen hätten sich ihrer Aufgabe nicht gewachsen gezeigt.
Wetterte Bayet: »Es gibt keinen Skandal des Baccalauréats, sondern nur eine skandalöse Verallgemeinerung einiger Irrtümer.« Und weiter: »Wenn es überhaupt einen Skandal gibt, so ist es das Verlangen, junge Leute zu Abiturienten zu erklären, deren Leistungen das nicht rechtfertigen.«
Anfang Juli konnte, Minister Paye dann eine Ehrenerklärung für die Prüfer abgeben. Eine Untersuchung der Beschwerden hatte gezeigt, daß die Fehlerquote mit 0,5 Prozent nicht höher gewesen war als im Vorjahr beim Ausrechnen der Durchschnittsnote mit Elektronen-Gehirnen.
»Le Monde« zeigte sich jedoch von dieser ministeriellen Rechtfertigung nicht befriedigt: »Das Baccalauréat als zentrale Auswertung einmaliger Examensarbeiten ist tot. Es muß durch Reifeprüfungen an den jeweiligen Schulen ersetzt werden.«
Erziehungsminister Paye
Quark
Protestierende Primaner: Examen à la Napoleon