KRIEGSOPFER Zahlen oder marschieren
Deutschlands Kriegsopfer sind arm, aber mächtig. Das Vaterland dankt ihnen mit kargen 139 Mark durchschnittlicher Monatsrente. Sie revanchieren sich, indem sie Kanzler stürzen, Koalitionen sprengen und Parlamente korrumpieren.
Versehrte, Witwen und Waisen säumten schon Ludwig Erhards Weg in die Verbannung. Den Nachfolger Kurt Georg Kiesinger zwangen sie bereits 1967 zu seinem ersten politischen Kniefall, die Große Koalition droht nun über neue Forderungen der Kriegsopfer zu straucheln, Noch bevor sie im Herbst 1969 vor die Wahlurne treten, wollen die 2,7 Millionen Kriegsopfer 20 Prozent mehr Rente -- nahezu eine Milliarde Mark -- kassieren. Und sie haben alle Aussicht, fristgerecht bedient zu werden.
»Wenn ich jetzt nachgebe«, so hatte sich Ludwig Erhard einst angesichts der Protestmärsche Mut gemacht, »kann ich gleich zurücktreten,« Er wich dennoch dem »Druck der Straße«, gab damit allen Interessenten den Weg zur Bonner Kasse frei, ruinierte die Staatsfinanzen und mußte schließlich gehen.
Um den Bundeshaushalt zu sanieren, wollte Kiesinger in seinem ersten Sparetat für 1967 von den jährlich 5,3 Milliarden Mark Kriegsopferrenten eine halbe Milliarde abstreichen. SPD-Minister Georg Leber warnte damals vor dem Kollektivzorn der betroffenen Wähler: »Soweit ich weiß, ist schon die Französische Revolution ausgebrochen, weil man den Veteranen keinen Sold mehr gezahlt hat.«
Der Kanzler ließ den Kürzungsplan fallen und zeigte schon Wochen nach seiner Vereidigung, daß er wie Vorgänger Erhard druckempfindlich ist.
Dabei wären die Kriegsopfer mit Kiesingers Kürzungsplänen nicht einmal schlecht gefahren. Sie sollten Auftakt einer dringend notwendigen Reform des geltenden »Bundesversorgungsgesetzes« sein, dessen Kosten in keinem rechten Verhältnis zu seinem sozialen Inhalt stehen.
Im Gegensatz zu allen anderen Sozialleistungen setzt sich die Kriegsopfer-Versorgung aus zwei voneinander unabhängigen Renten zusammen: > einer Art Ehrensold, der sogenannten Grundrente, die ohne Rücksicht auf sonstige Einkünfte gewährt wird und je nach Schwere des gesundheitlichen Schadens zwischen 53 und 270 Mark monatlich beträgt; > einem Unterstützungsgeld, der sogenannten Ausgleichsrente, die bedürftigen Schwer- und Schwerstbeschädigten gezahlt wird und 120 bis 270 Mark ausmacht. Die Höhe dieser Rente ist abhängig von den sonstigen Einkünften des Empfängers.
Als Folge dieser Mischrente kassiert ein Wohlhabender, der im Kriege drei Finger verloren hat, Monat für Monat 53 Mark (Grundrente). Ein erwerbsunfähiger Kriegsblinder hingegen darf auf monatlich höchstens 540 Mark Grund- und Ausgleichsrente (ohne Zulagen) hoffen, 260 Mark weniger als das Durchschnittseinkommen seiner unversehrt gebliebenen Kriegskameraden.
Über 65 Prozent der für die Kriegsopfer zur Verfügung stehenden Mittel fallen den voll verdienenden Leichtbeschädigten zu, der Rest reicht vielfach nicht aus, um den 588 000 Schwer- und Schwerstbeschädigten und ihren Angehörigen ein zumindest finanziell gesichertes Dasein zu ermöglichen.
Überdies haftet der Versorgung vor allem der Schwerbeschädigten ein schwerer sozialer Mangel an. Im Gegensatz zu Alters-, Knappschafts- und Unfallrenten wachsen die Versehrten-Ansprüche nicht automatisch mit dem Durchschnittseinkommen aller Beschäftigten.
Aus taktischer Rücksicht auf die große Masse der Beitragszahler beschränken sich aber die Verbandspräsidenten Dr. Friedrich Wilhelm Weltersbach vom Verband der Kriegsbeschädigten (VdK) und Rudolf Kleine (Reichsbund der Kriegs- und Zivilbeschädigten) nicht auf die ganz vordringliche und von der Bundesregierung angebotene Erhöhung der Ausgleichsrenten.
Vielmehr fordern sie seit Jahren stets aufs neue einen Zuschlag zu den Grundrenten, der wegen der großen Zahl der Empfänger naturgemäß klein sein muß -- ein Verfahren, das den berechtigten Interessen der Kriegsopfer flagrant widerspricht. Denn zu den Nutznießern der Grundrenten-Erhöhungen gehören viele, die weder eine Versorgung fordern noch darauf angewiesen sind, beispielsweise Altkanzler Ludwig Erhard und Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Schütz.
Um sich der Pressionen der Verbände zu erwehren und Zeit zu gewinnen, erfand die Regierung Kiesinger eine Ersatzdynamik. Danach muß Bonn alle zwei Jahre »unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und des realen Wachstums der Volkswirtschaft« über mögliche Zuschläge zu den Kriegsopferrenten berichten, zum erstenmal im Jahre 1970.
Die Bundeskasse sollte freilich erst 1972 für eine weitere Erhöhung der Kriegsopfer-Renten 650 Millionen Mark auswerfen. Als die Kriegsopfer deshalb aufbegehrten (VdK-Hauptgeschäftsführer Lothar Franke: »Man kann als Regierung durch Hinausschieben nichts verdienen"), bot der Kanzler bereits für 1971 eine Abschlagszahlung von 270 Millionen Mark an.
Auf Drängen der Sozialdemokraten tat die Große Koalition vorletzte Woche noch ein übriges. Ihr Lenkungsausschuß, der »Kreßbronner Kreis«, verpflichtete den Bundesarbeitsminister, den Bericht über die soziale Lage der Kriegsopfer schon 1969 vorzulegen.
Soviel Zelt aber will die Kriegsopfer-Lobby dem Kanzler nicht geben. Auf einem Kriegsopfer-Kongreß in Bad Godesberg gab der VdK in der vorletzten Woche der Regierung zu verstehen, sie könne sich dem »siedend heißen Wahlkampfthema« nicht entziehen. Bericht und Geld (20 Prozent mehr Grundrente) sollen schon vor dem Wahltag abgeliefert werden.
In Bonn, wo sie bisher von den gewünschten Gesprächspartnern Kiesinger und Brandt nicht empfangen wurden, bedrängten die Kriegsopfer-Funktionäre den Arbeitsminister Katzer und den zunächst störrischen CDU/CSU-Fraktionsvorstand. VdK-Franke nachher siegessicher: »Mit dem Bundestag haben wir immer gute Erfahrungen gemacht.« Der konkurrierende Reichsbund droht mit einem »Kriegsopfer-Parlament« in der Bonner Beethovenhalle, mit 50 Protestkundgebungen im ganzen Bundesgebiet und Demonstrationsmärschen vor allem an der Ruhr.
VdK-Vizepräsident Karl Weishäupl will den Reichsbund sogar noch übertreffen: »An einem Marsch auf Bonn«, so drohte er, »würden nicht wie bei Erhard 35 000, sondern 100 000 Kriegsopfer teilnehmen.«
Die dreifache Streitmacht werde, so kalkulieren die VdK-Oberen, das Beispiel der Beamten vor Augen, notfalls auch Kiesinger zum Umfallen bringen.