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WISSENSCHAFTSRAT Zahlung später

aus DER SPIEGEL 50/1960

Unter den Papieren, die dem Bundeskanzler vom Vorzimmer zur Lektüre empfohlen worden sind, befindet sich zur Zeit ein übersichtlich gehaltener Fünf-Seiten-Druck. In 42 knappen Punkten sind darin die wichtigsten Empfehlungen zum Ausbau der westdeutschen und Westberliner Hochschulen aufgeführt, die der sogenannte Wissenschaftsrat in der vorvergangenen Woche veröffentlicht hat.

Die Mitglieder des Wissenschaftsrates - Professoren, Wirtschaftler und hohe Beamte des Bundes und der Länder - hoffen, mit der Kurzfassung ihres Gutachtens die Aufmerksamkeit des Bonner Regierungschefs auf Mißstände lenken zu können, deren Beseitigung kaum Wählerstimmen einbringt. Kommentierten die Wissenschaftsratgeber ihren Extrakt: »Der Kanzler, der das Lesen haßt, kriegt den Bericht ganz kurz gefaßt.«

Dem Bundespräsidenten waren die Empfehlungen ungekürzt überreicht worden. Staatsoberhaupt Lübke maß das 536 Seiten dicke Buch am Makulaturwert: »Der Umfang des Werkes besagt eigentlich schon, wieviel mühsame Arbeit ... auf diese Untersuchung verwandt worden ist.«

Heinrich Lübke sprach den Dank des bundesrepublikanischen Vaterlandes wörtlich so aus: »Ich möchte deshalb dem Wissenschaftsrat, allen Beteiligten, vor allen Dingen aber denjenigen, die nun neben ihrer übrigen Arbeit diese Aufgabe freiwillig übernommen haben, ihre Erfahrungen, ihren Rat und ihre Kraft zur Verfügung gestellt haben, herzlich danken, vor allen Dingen auch den Behörden in Bund und Ländern und allen Ungenannten und Unbekannten, die ihre Kraft der Fertigstellung des Werkes gewidmet hatten.«

Die schlichte Dankadresse galt den 39 Mitgliedern des im Herbst 1957 aufgrund eines Verwaltungsabkommens zwischen Bund und Ländern gebildeten Wissenschaftsrats - Vorsitzender: Rechtsprofessor Coing - und über hundert Fachgelehrten, die vom Rat um die Bearbeitung von Spezialfragen gebeten worden waren.

Das Verwaltungsabkommen hat dem Wissenschaftsrat - der nur Empfehlungen aussprechen kann - drei Daueraufgaben zugewiesen:

- Gestützt auf einschlägige Bundes-

und Bundesländerprojekte einen »Gesamtplan für die Förderung der Wissenschaften zu erarbeiten und hierbei die Pläne des Bundes und der Länder aufeinander abzustimmen«,

- jährlich ein Dringlichkeitsprogramm aufzustellen« und

- »Empfehlungen für die Verwendung

derjenigen Mittel zu geben, die in den Haushaltsplänen des Bundes und der Länder für die Förderung der Wissenschaft verfügbar sind«.

Die jetzt veröffentlichten »Empfehlungen zum Ausbau der wissenschaftlichen Einrichtungen, Teil I: Wissenschaftliche Hochschulen«, dienen der Erfüllung des ersten Auftrags.

Das Ergebnis der zweieinhalbjährigen Studien ist von dem bayrischen Blatt »Süddeutsche Zeitung« als Beweis für die Praktikabilität des bundesrepublikanischen Föderalismus gewertet worden: »Die Arbeit des Wissenschaftsrates hat gezeigt, daß eine zügige Kulturpolitik auch in einer Föderation von einer Bundes- und elf Länderregierungen gemeinsam zu entwerfen ist« - ein hochgestimmtes Urteil, das sich nur dann bestätigt, wenn bei der kostspieligen Verwirklichung der Empfehlungen die Einmütigkeit gewahrt bleibt.

Die Ratschläge des Gremiums, in das die meisten Bundesländer offiziell ihre Kultusminister und als deren »ständige Stellvertreter« und Wachhunde Finanzbeamte delegiert haben, sind in der Grundtendenz konservativ: Am inneren Gefüge der Hohen Schulen soll nicht gerüttelt werden.

Unter Berufung auf die Historie wird daher als erste, grundlegende Empfehlung ausgesprochen, die »Einheit von Forschung und Lehre an den deutschen Hochschulen zu wahren«.

Damit sind Vorschläge zurückgewiesen worden, die in den vergangenen Jahren vor allem von dem sogenannten Hofgeismarer Kreis - einem Zusammenschluß reformfreudiger Hochschulrektoren aus der ersten Nachkriegszeit

- propagiert worden sind.

Die Hofgeismarer hatten unter anderem geltend gemacht, daß der heutige Massenbetrieb an den Hochschulen die Professoren überfordere, wenn sie sowohl lehren als auch forschen sollten. Der Vorschlag von Hofgeismar lief auf eine »,Zweistufigkeit des Unterrichts« hinaus, bei der erst auf der zweiten Stufe eine kleinere Anzahl qualifizierter Studenten an die eigentliche Forschung herangeführt werden sollte.

Gegeneinwand des Wissenschaftsrats: »Beide (Forschung und Lehre) würden ... (bei einer Trennung) schweren Schaden erleiden. Eine lebendige Lehre erhält starke Impulse aus der Forschungsarbeit des Lehrenden ... Die Forschung (würde) bei einer Trennung... die Anregungen entbehren, die dem Gelehrten aus der zusammenhängenden Darstellung von Forschungsergebnissen in der Vorlesung und aus ihrer Diskussion in Seminaren und Kolloquien erwachsen.«

Weitere Gründe des Wissenschaftsrats für die Pflege der Einheit: die Gefahr der Abwanderung von (naturwissenschaftlichen) Lehrkräften, wenn ihnen an den Hochschulen nicht auch Forschungsmöglichkeiten geboten werden, und die Sorge, das Reservoir zu verkleinern, aus dem der wissenschaftliche Nachwuchs ausgewählt wird, wenn nicht mehr alle Studenten auch an Forschungsaufgaben erprobt werden können.

Bei dieser Einheits-Empfehlung hat sich der Rat am gegenwärtigen Wissenschaftssystem Westdeutschlands orientiert. Im Gegensatz zu den Verhältnissen in der DDR, wo - mit Ausnahme der Medizin - fast die gesamte Forschung von den Hochschulen an spezielle Akademien übergegangen ist, werden in der Bundesrepublik, trotz der zahlreichen Sonderinstitute der Max-Planck-Gesellschaft, etwa 80 Prozent der Forschungsarbeiten an den Universitäten und Technischen Hochschulen geleistet.

Immerhin hat der Wissenschaftsrat - trotz des grundsätzlichen Bekenntnisses zur Universalität aller Hohen Schulen -vorgeschlagen, »zur besonderen Pflege einzelner Fächer ... Schwerpunkte an einigen Hochschulen zu bilden«. Dabei besteht die Gefahr, daß solche Schwerpunkte - aus finanziellen und räumlichen Gründen - vor allem an großstädtischen Hochschulen gebildet werden, was der dringlichen Entlastung gerade dieser Universitäten und Technischen Hochschulen - entgegenwirken könnte.

Eindeutig und einstimmig haben sich die 39 Wissenschaftsfürsorger dazu bekannt, die Anzahl der künftigen Akademiker von den vorhandenen Begabungen und nicht von den wechselnden Ausbildungsmöglichkeiten und Bedürfnissen der bundesrepublikanischen Wirtschaftsgesellschaft abhängig zu machen.

Empfohlen wird, »die Studentenzahl nicht zu beschränken, sondern allen geeigneten Studenten Ausbildungsmöglichkeiten zu bieten (und) diese dabei so zu erweitern, daß Zulassungs- und Studienbeschränkungen aufgehoben werden können«.

Das ist eine späte, aber deutliche Abfuhr für Bundesinnenminister Schröder, der vor Jahresfrist keine andere Lösung für die überfüllten Hochschulen mehr wußte als die Einführung eines Numerus clausus und das »Hinausprüfen« all jener Studenten, die nicht zielstrebig und ohne Säumen den Staatsprüfungen samt den damit verbundenen Versorgungsscheinen zueilen.

Für die Erweiterung der Ausbildungsmöglichkeiten gibt der Wissenschaftsrat - naheliegende - Ratschläge:

- »den Lehrkörper der wissenschaftlichen Hochschulen in allen Stellengruppen wesentlich zu verstärken«,

- »die Hochschulen baulich zu erweitern« und hierfür »bis zum Jahre 1964 ... von Bund und Ländern einen

Betrag von rund 2,6 Milliarden Mark bereitzustellen« sowie

- »die Sachmittel der Seminare und

Institute zu erhöhen«.

Die Realisierung dieser drei Empfehlungen, so sorgfältig und detailliert sie vom Wissenschaftsrat auch erarbeitet wurden, erscheint allerdings fraglich, teils wegen der Hartleibigkeit der Haushaltsexperten in den Länderparlamenten, teils wegen innerer Widerstände in den Hohen Schulen selbst.

Dabei erscheint die Überwindung der finanziellen Widerstände in den Landtagen als weniger schwierig: Die öffentliche Meinung der westdeutschen Gesellschaft, die sich am anerkannten Wissenschaftler zwar nicht materiell, aber doch prestigemäßig orientiert, hält eine bessere Ausstattung der »Hochschulen für schlechthin selbstverständlich; Abgeordnete, die diesem Zug nicht folgen, sind wenig populär.

Wichtig für einen konsequenten Ausbau der wissenschaftlichen Einrichtungen wäre es, daß die Hochschulbauprojekte aus der Verwaltungsrubrik »Kulturbauten« herausgenommen würden, wo sie bisher neben Theater-Neubauten und der Errichtung von Jugendheimen geführt werden. Diese Kulturbauten sind es gewöhnlich, die - meistens unterschiedslos - im Etat gestrichen werden, wenn Konjunkturdämpfungsmaßnahmen staatliche Einsparungen nötig machen.

Für die Vergrößerung der Lehrkörper an den Hochschulen hat der Wissenschaftsrat vor allem eine Erhöhung der Ordinariate und die materielle Angleichung der außerordentlichen Professorenstellen an die ordentlichen vorgesehen.

Die ordentlichen Lehrstühle in Westdeutschland und Westberlin sollen, damit die Hochschulen mit den steigenden Studentenzahlen und der Zunahme des Lehrstoffes mitwachsen, um 39,3 Prozent auf 4303 erhöht werden. Im sogenannten Mittelbau, bei den Extraordinariaten und Diätendozenturen, wird eine Erhöhung um 173,6 Prozent auf 4271 und im Unterbau (Assistenten) um 89,3 Prozent auf 11 280 Stellen empfohlen.

Nach Verwirklichung dieser Empfehlungen würden sich die jährlichen Ausgaben für das wissenschaftliche Personal an den bundesrepublikanischen und Westberliner Hochschulen von 208,8 Millionen im Jahre 1960 auf 361,6 Millionen Mark erhöhen.

Die innerbetrieblichen Widerstände an den Universitäten gegen eine Vermehrung der ordentlichen Lehrstühle sind vor allem von den Medizinern zu erwarten. Die vorgeschlagene Errichtung von Parallel-Lehrstühlen würde in der Medizin auch die Installierung neuer Universitätskliniken erforderlich machen, wodurch die Herrschaft der Klinikchefs gebrochen würde: Ihr kleiner Kreis käme um seine Exklusivität.

Das Argument, mit dem sich die derzeitigen Lehrstuhl- und Klinikbesitzer gegen Parallel-Einrichtungen wehren werden: Für mehr Universitätskliniken gebe es nicht genug Krankengut für die Forschung.

Da nach Auffassung des Wissenschaftsrats der Vergrößerung der bestehenden Hochschulen eine Höchstgrenze gesetzt ist - selbst bei großzügigem Ausbau dürften die Fakultäten nicht ins Unüberschaubare wachsen, um die Selbstverwaltung der Hochschulen nicht unmöglich zu machen -, wird die Gründung neuer Hoher Schulen empfohlen.

Eine Sonderkommission des Rats unter Vorsitz des nordrhein-westfälischen Kultusministers Schütz soll in den nächsten Monaten die möglichen Standorte für die vier neuen Hochschulen prüfen, deren Errichtung vorgeschlagen wird.

Bisher steht lediglich fest, daß wahrscheinlich eine neue Technische Hochschule in Nordrhein-Westfalen aufgebaut wird, weil der Düsseldorfer Landtag als einziges westdeutsches Parlament schon Mittel für die Planungsarbeiten (500 000 Mark) bewilligt hat. Eine Universität wird vermutlich in Norddeutschland zur Entlastung Hamburgs und Kiels, eine weitere in Westdeutschland und eine dritte in Süddeutschland gebaut werden.

Der Wissenschaftsrat hat festgelegt, daß für den Aufbau einer neuen Hochschule ein »geschlossener Geländekomplex von mindestens 150 Hektar Größe« erforderlich ist. Nur durch die Einrichtung von vier weiteren Hochschulen meint der Wissenschaftsrat genü-, gend Studienplätze in Westdeutschland schaffen zu können, um die 240 000 bis 260 000 Studenten auszubilden, die es nach seinen Berechnungen im Jahre 1970 geben wird.

Als eine »zusätzliche Maßnahme« empfiehlt der Rat, »das derzeitige System der Kolleggelder zu ändern«. Auf diese Weise könnten unnötige, zeitraubende »Pflichtvorlesungen« abgeschafft werden, die heute in den Geisteswissenschaften vielfach nur gehalten werden, um die Kolleggelder* zu erhöhen.

Der Vorschlag des Wissenschaftsrats sieht vor, die Kolleggelder zu pauschalieren (normale Kolleggeld-Garantien heute: 2500 bis 11 000 Mark je Semester) und die Grundgehälter zu erhöhen.

Im Wissenschaftsrat werden jetzt die nächsten Haushaltsberatungen im Bund und in den Ländern abgewartet, an denen abgelesen werden kann, wieweit sich die staatlichen Organe an ihre Unterschrift unter die Empfehlungen des Wissenschaftsrats gebunden fühlen, wenn es um das Bezahlen geht.

Noch bevor das Gutachten fertig war, gab es Ende April 1960 - auf der Jahresversammlung des Stifterverbandes in Wiesbaden ein erstes Indiz, daß sich mindestens der Bund vorbehält, weniger zu tun, als er durch seine Mitarbeit im Wissenschaftsrat empfohlen hat.

Bundesfinanzminister Etzel sprach damals vor den Mäzenen der Wirtschaft davon, daß die Empfehlungen des Wissenschaftsrats nur als »Diskussionsgrundlage« anzusehen seien.

* Kolleggelder sind die Zahlungen, die von

den Studenten an die Professoren je Vorlesung und Semester zu leisten sind.

Hochschul-Fürsorger Coing, Lübke: Kurzfassung für den Kanzler

Schütz

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