WÄHRUNG / DEVISENMANGEL Zebra aus dem Nichts
Jahrhundertelang träumte die Menschheit vergeblich davon, aus Nichts Gold zu schaffen. Seit vier Wochen weiß sie das Rezept. Deutsche halfen bei der Niederschrift.
»Dies ist ein geschichtliches Ereignis«, erläuterte Bundeswirtschaftsminister Karl August Schiller die Alchimistentat. Und Amerikas Notenbankchef William McChesney Martin befand: »Ein Meilenstein.«
Den Meilenstein der Weisen, von US-Schatzminister Henry Fowler sogleich »Papiergold« genannt, fanden Notenbank-Gouverneure und Wirtschaftsminister des sogenannten Zehnerklubs im Londoner Lancaster House**. Dort waren die Klubmitglieder Ende vergangenen Monats zusammengekommen, um einen Auftrag des Internationalen Währungsfonds (IWF) auszuführen: Die zehn reichsten Industrieländer der westlichen Welt sollten sich rechtzeitig zum Jahrestreffen des IWE in Rio de Janeiro -- von Montag bis Freitag dieser Woche -- über einen Plan einigen, wie das Währungssystem des Westens vor drohender Auszehrung gerettet werden kann.
Die internationale Währungsordnung, nach der Jahr für Jahr Im- und Exporte im Wert von mehreren hundert Milliarden Mark finanziert werden
* Mit Italiens Schatzminister Colombo (l.) und Englands Schatzkanzler Callaghan am 26. August in London.
müssen, stammt aus dem Jahre 1944. Sie platzt aus allen Nähten.
Denn die Gold- und Devisenreserven der nichtkommunistischen Länder stiegen nicht mehr in dem Ausmaß, wie es der ständig wachsende Welthandel erfordert hätte. Der gesamte jährliche Außenhandel der westlichen Welt hat sich von 1958 bis 1966 fast verdoppelt (von 781 auf 1487 Milliarden Mark), die Gold- und Devisenbestände in den Tresoren der Zentralbanken dagegen wuchsen nur etwa um ein Viertel (von 220 auf 261 Milliarden Mark).
Den Mangel an »internationaler Liquidität«, wie Fachleute die jederzeit in allen Ländern akzeptierten Zahlungsmittel auch nennen, verdankt die Welt Amerika. Als im Juli 1944 auf der Weltwährungskonferenz von Bretton Woods (US-Staat New Hampshire) die Vertreter von 44 Nationen das Geldsystem für die Nachkriegszeit berieten, legten der damalige US-Schatzminister Henry Morgenthau und sein Cheftheoretiker Harry White den Nachkriegskurs der Weltwährungen nach amerikanischem Gusto fest.
Seitdem rechnen zu international voll verwendungsfähigem Geld nur das Gold und solche Devisen, die in Gold umtauschbar sind. Da aber nur das amerikanische Schatzamt in der Lage war, jederzeit Gold gegen eigene Währung zu verkaufen (die Unze zu 35 Dollar***), bedeutete die Annahme des amerikanischen Plans, daß der Dollar zur Leitwährung der westlichen Welt avancierte.
Zwar versuchte Englands Delegierter in Bretton Woods, der Nationalökonom Lord Keynes, den White-Morgenthau-Plan noch in letzter Minute zu Fall zu bringen. Doch das amerikanische Gewicht wog zu schwer. In Fort Knox, der Goldkammer der USA, lagerten bei Kriegsende Goldbarren im Wert von 92 Milliarden Mark, die Bank von England hatte nur noch Gold für acht Milliarden Mark im Safe (1939: 11,5 Milliarden).
Vergebens hielt der Volkswirt aus Cambridge den Amerikanern vor, ihr auf Gold begründetes Währungssystem sei im Zeitalter der Flugzeuge und internationalen Telephonverbindungen ein Anachronismus. Beispielsweise könne ein plötzlicher Stopp der Goldproduktion die internationale Liquidität gerade dann verknappen, wenn sie am meisten benötigt werde: in Zeiten blühender Weltkonjunktur.
»Was wir statt dessen brauchen«, so rief der englische Währungslord aus, »ist eine internationale Geldeinheit, die nicht von den Zufälligkeiten der Goldproduktion oder den Goldverkäufen einzelner Länder abhängig ist.«
Es bedurfte erst jahrelanger Interventionen der Sowjets, ehe Amerika die Theorie von Keynes be-
** Dem Zehnerklub gehören an: USA, Kanada, Japan, Großbritannien, Frankreich, die Niederlande, Belgien, Italien, Schweden und die Bundesrepublik.
*** Eine Unze = 31,1035 Gramm.
griff: Über Agenten an allen wichtigen Goldhandelsplätzen der Welt warf Moskau, um Mißernten im eigenen Land durch Weizenkäufe im Westen ausgleichen zu können, allein zwischen 1958 und 1964 mehr als 1900 Tonnen Gold (Wert: 8,6 Milliarden Mark) auf den Weltmarkt und brachte damit die mühsam gehaltene goldene Balance ins Wanken. Amerikas Notenbankiers, die zwar an einem stetigen Wachstum der Goldreserven in der Welt interessiert waren, aber nicht von Fehlplanungen der sowjetischen Landwirtschaftspolitik abhängig sein wollten, wurden plötzlich nervös.
In noch ärgere Bedrängnis gerieten sie, als 1965 Frankreichs de Gaulle seinen Kampf gegen den goldähnlichen Dollar begann. De Gaulle, der nur an vier Dinge glaubt -- den lieben Gott, Frankreich, de Gaulle und das Gold-, wies die Bank von Frankreich an, ihre Dollar beim amerikanischen Schatzamt zu präsentieren. Erneut bereuten die Währungs-Beamten in Washington, 1944 nicht auf Keynes gehört zu haben.
Binnen zweier Jahre holte Goldfinger de Gaulle insgesamt Goldbarren im Wert von sechs Milliarden Mark (89 Güterwagen voll) aus Fort Knox und ließ sie mit Flugzeugen und U-Booten unter schwerer Bewachung nach Frankreich schaffen.
Sein Ziel war es, zum reinen Goldstandard der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zurückzukehren und den Goldpreis auf 70 Dollar je Unze zu verdoppeln.
Auf diese Weise hoffte der General, nicht nur den Dollar zu stürzen. Er wollte auch den Ausverkauf französischer Unternehmen an US-Konzerne stoppen, die -- begünstigt durch die 1944 festgesetzten Wechselkurse -- bereits seit Jahren Schlüsselpositionen in der französischen Elektronik- und Automobilindustrie besetzt hielten.
Für die Amerikaner wurde es jetzt höchste Zeit, einen wirkungsvollen Schutzwall um ihre hartbedrängte Währung zu errichten. In aller Eile legte US-Schatzminister Henry Fowler einen Plan vor, durch den ausreichende neue Zahlungsmittel für den internationalen Handel beschafft und somit der Dollar im täglichen Kursgefecht an den Börsen entlastet werden sollten. Es war -- mit wenigen Änderungen -- der Plan von Keynes.
Der Internationale Währungsfonds in Washington, der über die Währungspolitik von insgesamt 106 Staaten wacht, müsse -- so Fowler -- ermächtigt werden, seinen finanzschwachen Mitgliedern zu neuen Geldmitteln zu verhelfen. Der Fonds brauche dazu keine Noten zu drucken. Es genüge, die bisherigen sogenannten Kreditlinien zu erweitern, das heißt, die Kreditsummen aufzustocken und darüber Buch zu führen.
Anders jedoch als die schon heute üblichen Kredite sollte das neue Buchgeld des IWF nicht zurückgezahlt werden, sondern als neue »Reserveeinheit« zwischen den Notenbanken zirkulieren. Wie bislang nur Dollar und Gold sollten künftig die zusätzlichen Kredite zum Ausgleich von Zahlungsbilanzdefiziten verwendet werden können.
Fowlers Plan sah im einzelnen vor: Jedes IWF-Mitgliedsland erhält entsprechend seinem Stimmrecht im Fonds einen Teil der neugeschaffenen Reservewährung im Gegenwert von insgesamt vier bis acht Milliarden Mark pro Jahr zugeteilt (im Fall der Bundesrepublik: 228 bis 456 Millionen Mark pro Jahr).
Will ein Land Über sein zusätzliches Geld verfügen, um beispielsweise damit Importwaren zu bezahlen, so tauscht es das IWF-Geld beim Währungsfonds gegen harte Devisen ein. Der Fonds ist verpflichtet, das Kunstgeld anzunehmen und es gleichzeitig bei Überschußländern gegen Dollar, Mark oder Franken unterzubringen. Kommt auch ein Überschußland eines Tages in Devisennot, darf es seinerseits das Kunstgeld wieder in harte Währung umtauschen.
Die Entwicklungsländer waren von dem Plan begeistert. Sie schließen ihre Zahlungsbilanzen seit langem mit Defiziten ab und sahen in dem Plan die einmalige Chance, zu einer finanziellen Gratis-Ausstattung zu kommen. Doch Frankreichs de Gaulle und sein Finanzminister Michel Debré legten sich quer. Debré: Frankreich könne es nicht zulassen, daß ausgerechnet den Ländern, die finanziell über ihre Verhältnisse lebten, auf diese Weise internationale Schulden erlassen würden.
Der Vorwurf galt direkt auch den Amerikanern, die 1965 bei ihren Handelspartnern 5,2 Milliarden Mark und 1966 sogar 5,6 Milliarden Mark anschreiben lassen mußten. Auf internationalen Konferenzen hielt Debré Amerika unverhohlen vor, Frankreich könne kein Interesse daran haben, den USA aus Rücksichtnahme auf den Dollar die Finanzierung des Vietnam-Krieges zu erleichtern. Zusammen mit den anderen EWG-Ländern verfügt Frankreich heute über einen größeren Gold- und Devisenschatz als die USA (siehe Graphik).
Fowler suchte Hilfe in Bonn. In einem Brief an Bundeswirtschaftsminister Schiller beschwor der Amerikaner den Deutschen, er möge auf der EWG-Währungskonferenz vom 17. und 18. April in München Amerikas Geldpläne unterstützen. Und Schiller half.
Als die EWG-Experten nach zweitägigen Beratungen das Münchner Maximilianeum verließen, hatten die Deutschen Debré umgestimmt. Er war nunmehr bereit, auf der Jahrestagung in Rio zusammen mit den anderen EWG-Ländern die Erweiterung der IWF-Kreditlinien zu
befürworten. Der Franzose beharrte jedoch, das neue Geld dürfe nicht verschenkt werden. Debré: »Pie Kredite müssen an den Fonds zurückfließen.«
Schiller und seinem Mitstreiter Dr. Otmar Emminger von der Frankfurter Bundesbank war der erste Schritt zur Versöhnung der streitenden Parteien gelungen. Die Franzosen blieben am Verhandlungstisch.
Den Deutschen war noch mehr geglückt: Auf ihr Zureden hin begruben die Franzosen in München de Gaulles Plan, den reinen Goldstandard wieder einzuführen sowie den Goldpreis zu erhöhen. Frohlockte Emminger nach der Konferenz: »Ein großer Fortschritt.
Dann machten sich die Deutschen daran, auch noch den letzten Graben zuzuschütten, der die amerikanischen und französischen Geldstrategen trennte:
> Bundesbankdirektor Emminger, Vorsitzender der Stellvertretergruppe des Zehnerklubs, arbeitete den Entwurf für die Londoner Konferenz aus;
> Bundeswirtschaftsminister Schiller vermittelte mit mehreren Briefen zwischen Amerikas Fowler und Frankreichs Debré;
> Bundeskanzler Kiesinger suchte die Präsidenten Johnson und de Gaulle in persönlichen Gesprächen zum Einlenken zu bewegen.
Als Minister Schiller am 26. August im Londoner Lancaster House zur entscheidenden Sitzung erschien, standen die Chancen 100 zu 50: Nach wie vor wollte US-Schatzminister Fowler, daß die neuen Kredite den Mitgliedsländern gratis zur Verfügung ständen (keine Rückzahlung; in der Expertensprache: » 100-Prozent-Geld"). Sein Argument: Wenn Amerika erst einmal den Vietnam-Krieg beendet habe, werde bald auch das US-Zahlungsbilanzdefizit verschwunden sein. Aus den Notenbanktresoren der Überschußländer flössen dann die Dollar nach Amerika zurück. Am Ende würden die heute reichen Länder selbst Devisennot leiden.
Finanzminister Debré bestand jedoch darauf, die Schuldnerländer sollten die neuen Kredite voll zurückzahlen, wenn mehr als 50 Prozent der Summen in Anspruch genommen würden (Expertensprache: »50-Prozent-Geld").
Schiller machte den Vermittler: »Einigen wir uns doch bei 75 Prozent!« Als Debré weiterhin auf seinen 50 Prozent beharrte, drängte Schiller abermals: »Aber Herr Kollege, 75 Prozent ist doch schon die Mitte zwischen 100 und 50,« Und, als der Franzose weiter unnachgiebig blieb: »Wie wär's denn mit 70 Prozent?« Da stimmte Debré zu.
Der amerikanische Star-Kolumnist Joseph Alsop feierte den diplomatischen Erfolg des Dreigestirns Emminger-Schiller-Kiesinger als einen Sieg der »New Germans«, der neuen Deutschen. Und Fowler war zufrieden: »Das neue Geld ist fast so gut wie Gold.«
In dieser Woche müssen noch in Rio die Notenbank-Gouverneure und Wirtschaftsminister der 106 IWF-Mitgliedstaaten über den Plan abstimmen. Laut Meinung von Experten ist dem Londoner Entwurf die Zustimmung gewiß.
Die Franzosen weisen darauf hin, bei dem neuen Zahlungsmittel handele es sich lediglich -- wie sie immer gefordert hatten -- um Kredite: voll zurückzuzahlen binnen fünf Jahren für den Fall, daß ein Schuldnerland mehr als 70 Prozent seiner Kreditlinie in Anspruch nimmt.
Mit gleichem Recht betonen die Amerikaner, die neuen sogenannten Ziehungsrechte stellten echtes Geld dar. Laut dem Londoner Plan wird ein Schuldnerland, das seine Kreditlinien nur bis zu 70 Prozent in Anspruch nimmt, von der Rückzahlung befreit.
»Wir haben ein echtes Zebra zur Welt gebracht«, meint Deutschlands Notenbankier Emminger: »Jeder kann es betrachten, wie er will als schwarzes Tier mit weißen Streifen oder als weißes Tier mit schwarzen Streifen.«