MONTAN-UNION Zehn Minuten raus
Staatssekretär Globke wußte, daß die Entscheidung über einen Nachfolger des deutschen Vertreters bei der Hohen Behörde der Montan-Union in Luxemburg Dr. Heinz Potthoff noch ausstand. Auf der Tagesordnung der Kabinettssitzung im Palais Schaumburg - am Mittwoch vorletzter Woche - war dieser Punkt nicht eigens aufgeführt worden. So fragte denn Adenauer nach Globkes Hinweis in die Runde: »Wissen Sie keinen?«
Der Kanzler hatte 1952, als die Montan-Union installiert wurde, das Unbehagen von Industrie und Gewerkschaft über die erste supranationale Institution Europas dadurch überspielt, daß er den beiden Gruppen gestattete, die zwei deutschen Sitze in der Hohen Behörde je mit einem Mann ihres Vertrauens zu besetzen.
Für die Ruhrindustrie war der Duisburger Wirtschaftsanwalt Franz Etzel nach Luxemburg gegangen. Der DGB hatte den Ministerialdirektor im nordrhein-westfälischen Wirtschaftsministerium Dr. Potthoff entsandt. Als Etzel 1957 Bundesfinanzminister wurde, durfte die Industrie den Nachfolger stellen. Sie nominierte zunächst Franz Blücher, und nach dessen Tod Dr. Fritz Hellwig, bis dahin Direktor des Deutschen Industrieinstituts.
Am 20. Juni 1962 nun hatte Heinz Potthoff die Bundesregierung wissen lassen, daß er nach zehn Jahren Luxemburg sein Amt niederlegen wolle, obwohl sein Vertrag noch bis Ende 1963 lief. Potthoff war amtsmüde, und nach dem Gentlemen's Agreement aus den Gründertagen der Kohle- und Stahlgemeinschaft war es Sache der Gewerkschaften, den Nachfolger vorzuschlagen. Indes geriet die Nominierungsfrage in das Gestrüpp der gewerkschaftlichen Personalpolitik.
DGB-Chef Richter sowie seine Vertreter Rosenberg und Tacke meldeten beim Kanzler zunächst den Düsseldorfer Gewerkschaftsfreund Dr. Karl Bender, 55, als Nachfolger Potthoffs an. Er war von der Industriegewerkschaft Metall benannt worden.
Bender ist Montanfachmann und Sozialdemokrat. Nach dem Zusammenbruch hat er in der sogenannten Stahltreuhänder-Vereinigung die personelle Besetzung der westdeutschen Montanindustrie mit geregelt und war später in den Vorstand des Röhrenkonzerns Phoenix-Rheinrohr AG aufgerückt. Seit er dort zum Jahresende 1957 mit einer Abfindung von einer Million Mark ausgeschieden ist, betreibt Bender in Hamburg die Maschinenfabrik Christiansen & Meyer.
Kanzler Adenauer bat die DGBFührung, ihm weitere Kandidaten zu präsentieren, damit er seine Wahl unter einer größeren Zahl von Bewerbern treffen könne. Heinrich Gutermuths Industriegewerkschaft Bergbau und Energie entschloß sich deshalb, einen der Ihren ins Rennen zu bringen: den SPD-Genossen und Altgewerkschaftler Dr. rer. pol. Franz Grosse, 59, Geschäftsführer der Ruhrkohlenberatung GmbH in Essen. Grosse hat nach dem Kriege eine Zeitlang die volkswirtschaftliche Abteilung der Bergarbeitergewerkschaft geleitet.
Gutermuths Absicht, Dr. Grosse vorzuschlagen, scheiterte jedoch an seinem Kollegen Brenner. Der IG-Metall-Chef verlangte für seine Zustimmung einen Preis, den Gutermuth nicht zu zahlen bereit war: Der demnächst frei werdende Arbeitsdirektorenposten im Bundeskonzern Salzgitter AG, derzeit von einem Bergbau-Gewerkschaftler besetzt, sollte einem Metallgewerkschaftler überlassen werden. Gutermuth lehnte den Kuhhandel ab.
Der stellvertretende DGB-Vorsitzende Ludwig Rosenberg erkannte schnell, daß die mit Karl Bender zahlenmäßig schwach besetzte Kandidatenliste dem Kanzler als Handhabe für Eigenmächtigkeiten dienen könnte. Er bat Adenauer deshalb durch ein Telegramm nach Cadenabbia um eine »sofortige nochmalige Rücksprache«.
Nach Adenauers Rückkehr an den Rhein rief Rosenbergs Sekretärin Henriette Böckler täglich im Kanzleramt an und bat um einen Termin. Stets wurde ihr aufgetragen, es am nächsten Tag nochmals zu versuchen. Am Donnerstag der vorletzten Woche erfuhr Rosenberg schließlich, daß er sich weitere Anrufe sparen konnte.
Zur Beschleunigung der Entscheidung hatte ein Besuch des deutschen Mitglieds der Behörde, Hellwig, beigetragen, das in Bonn vor nachträglichen Folgen warnte, die eine weitere Verzögerung nach sich ziehen könnte. Hellwig wies darauf hin, daß nach dem Ausscheiden auch des holländischen Vertreters Spierenburg aus der Hohen Behörde zwei Plätze neu zu besetzen seien. Dem Montan-Unions-Vertrag gemäß sei es so, daß nur der erste der zwei Kandidaten von einer der sechs Regierungen ernannt werde. Der zweite Mann werde dann von den Mitgliedern der Behörde »kooptiert«.
Die Italiener nun, die bislang nur durch einen Mann in der Behörde vertreten waren, arbeiten seit langem darauf hin, ihren Einfluß in dem Führungsgremium der Kohle- und Stahlgemeinschaft zu verstärken. Falls die Holländer Bonn mit der Nominierung eines Nachfolgers für Spierenburg zuvorkommen würden, eo warnte Hellwig, würde der zweite deutsche Mann vermutlich durch einen Italiener verdrängt werden. Durch diese Aussicht fühlte sich Adenauer zusätzlich zur Eile gedrängt. Als seinen Kandidaten hatte er den Staatssekretär des Bundesfinanzministeriums, Karl Maria Hettlage, im Auge. Von ihm wußte Adenauer, daß er dem Bundesfinanzminister Heinz Starke nicht genehm ist. Als Hettlage durch einen Mitarbeiter aus dem Palais Schaumburg von Adenauers Absichten erfuhr, erbat er sich einen Tag Bedenkzeit. Während dieser Frist wollte er sich mit Starke aussprechen und zumindest versuchen, sein Verhältnis zu seinem Minister entscheidend zu verbessern und in Bonn zu bleiben.
Der Bundesfinanzminister indes war an diesem Tage für Hettlage nicht erreichbar. Er kam auch am nächsten Morgen erst just zu dem Zeitpunkt in die Kabinettssitzung, als Adenauer seiner unbeantwortet gebliebenen Einleitungsfrage nach Vorschlägen die Erklärung folgen ließ: »Ich schlage Herrn Hettlage vor.« Heinz Starke, obwohl völlig unvorbereitet; stimmte unbewegten Gesichts sofort zu. Er machte keinen Versuch, Hettlage zu halten, obgleich er erst so kurze Zeit im Amt ist, daß er eines erfahrenen Beraters noch dringend bedarf.
Als Heinz Starke (FDP) im Herbst 1961 sein Amt übernommen hatte und sich in die schwierige Materie einarbeiten mußte, blieb es nicht aus, daß sich, für alle Mitarbeiter sichtbar, zwischen dem neuen Minister und dem routinierten Hettlage gelegentlich eine Sachkenntnis-Kluft auftat. Der Staatssekretär war in seiner Laufbahn unter anderem Finanzdezernent des Deutschen Städtetages, Kämmerer der Reichshauptstadt Berlin und Leiter der Finanzabteilung im Rüstungsministerium Speer gewesen.
Hettlage hatte unter Starkes kränkelndem Vorgänger Etzel alle Fäden in die Hand bekommen und ließ den Junior nicht so leicht ans Bonner Hauptbuch heran. Starke, der seinen Mitarbeitern anfangs »beschämende Brüllszenen« ("Frankfurter Allgemeine Zeitung") nicht ersparte, konnte deshalb nicht widerstehen, ihn fortzuloben.
Nach Konrad Adenauers Vorschlag schickte die Versammlung im Palais Schaumburg den bereitwillig aufbrechenden Hettlage »für zehn Minuten« aus der Kabinettssitzung. Als er wieder hereinkommen durfte, erklärte der Kanzler: »Wir haben abgestimmt. Sie werden für die Montan-Union benannt.« Hettlage akzeptierte.
Der Deutsche Gewerkschaftsbund aber war über Adenauers Wahl derart verärgert, daß er seine Mitschuld an dem Personaldilemma völlig außer acht ließ. In einer Verlautbarung wertete der DGB des Kanzlers Kniff als einen neuerlichen »Beweis dafür«, daß Bonn »nichts versäumt, das Verhältnis zwischen Gewerkschaften und Bundesregierung zu verschlechtern«.
Hohe Behörde-Vertreter Potthoff Nach zehn Jahren europamüde
DGB-Kandidat Bender Durch Kanzler-Kniff...
Bonner Kandidat Hettlage ... nach Luxemburg