KOALITION Zeichen des Zweifels
Helmut Kohl blickte ins Sommerloch - und ihn schauderte: Während der Bonner Ferien, so sorgte sich der Kanzler, könnten allein negative Schlagzeilen über sein aus den Fugen geratenes Kabinett das Bild bestimmen.
Andauernde Spekulationen um den Rücktritt von Genscher und den Einzug von Strauß in die Regierung, der Zank um Haushaltsmilliarden für Soziales und Umwelt würden, so die Befürchtung, sein ohnehin ramponiertes Image noch weiter beschädigen.
In der Kabinettsitzung am Dienstag voriger Woche verordnete Kohl deshalb ein Notprogramm: Die Ressorts sollen ihre Gesetzesvorhaben aus den Schubladen kramen und, von Regierungssprecher Peter Boenisch dirigiert, gut über die politikfreien Wochen verteilt unter die Deutschen bringen.
Letzte Weisung von Krisenmanager Kohl: »Das sollen die Bosse gefälligst _(Am Montag letzter Woche bei der Ankunft ) _(im Kloster Banz, mit dem ) _(CSU-Bundestagsabgeordneten Lorenz ) _(Niegel. )
selber machen.« Sprach''s und entschwebte anderntags, wie schon so oft dieses Jahr, in ferne Länder - diesmal nach Argentinien und Mexiko.
In Bonn ließ der Kanzler eine verunsicherte Koalition zurück, die sich tagtäglich strapaziösen Diskussionen über ihre so schnell verlorengegangene Unschuld stellen muß. Kohl hat es obendrein geschafft, daß ausgerechnet der, den er am meisten fürchtet und den er nach wie vor um jeden Preis von Bonn fernhalten will, heute dem Kabinettstisch näher ist als je zuvor: Franz Josef Strauß.
Zweimal hatte Kohl den Bayern abwimmeln können. Im Herbst 1982 lud er ihn ins Kabinett ein, freilich mit der Einschränkung, weder Kanzleramt noch die FDP-Ressorts für Auswärtiges und Wirtschaft stünden zu Disposition. Nach den Neuwahlen am 6. März 1983 wiederholte der Kanzler den Ruf: Diesmal sollte dem CSU-Vorsitzenden auch das Finanzministerium verwehrt bleiben. »Es wurde faktisch ein Null-Angebot«, bilanziert ein Strauß-Freund die Offerte, »Strauß wurde von Kohl und Genscher ausgegrenzt.«
Inzwischen ist Strauß in eine günstigere Startposition gerückt. In der Union kann ihm niemand mehr den Posten des Außenministers streitig machen, falls Genscher geht.
Lange Zeit war Strauß von seiner bayrischen Anhängerschaft und den CSU-Ministern im Bonner Kabinett wegen seiner häufigen Querschüsse gegen Kohl kritisiert worden. Nun aber, so ein CSU-Funktionär, »werden auch in Bayern hinter die Regierung Kohl nicht mehr die Ausrufezeichen des Entzückens, sondern die Fragezeichen des Zweifels gesetzt«.
Das zeigte sich vorige Woche offen auf der Klausurtagung der Bonner CSU-Landesgruppe im fränkischen Kloster Banz. Die Christsozialen halten die Kombination Kohl/Genscher nicht mehr für das beste Gespann, das bis 1987 einen neuen Sieg der Christliberalen vorbereiten könne.
Die CSU sei auch nicht bereit, so ein Teilnehmer der Sitzung, sich in Bayern »durch den Knochenfraß von Bonn« beschädigen zu lassen. Es werde daher bereits laut nachgedacht, ob die CSU notfalls noch vor dem Wahltag 1987 die Bonner Dreierkoalition verlassen solle, um wenigstens die Position im weißblauen Freistaat zu halten: »Wenn man schon in Bonn die Wahl ''87 abschreibt, wollen wir trotzdem die nächste Landtagswahl überleben.«
Auch in der CDU schrumpft die Abneigung gegen Strauß. Bundesarbeitsminister Norbert Blüm, der mit dem Bayern oft über Sozialpolitik oder Mitbestimmung gestritten hat: »Kein Zweifel, der Strauß ist eine Potenz. Mit Sicherheit wäre er eine Verstärkung.«
Noch hofft der Kanzler, er könne Strauß fern- und Genscher festhalten. Kohl fürchtet einen Außenminister Strauß, der ihm an Kompetenz überlegen wäre. Überdies würde ein Verzicht der FDP auf das Außenamt auch noch neuen Streit mit den Liberalen auslösen: Die müßten dann zum Ausgleich das von Friedrich Zimmermann (CSU) geführte Innenministerium verlangen.
Aber in Wahrheit kann Kohl nicht mehr fest auf Genscher rechnen. Der hat, seit ihn Partei und Fraktion mit seinem unseligen Amnestieplan im Stich ließen, nicht nur den Rücktritt vom Amt des FDP-Vorsitzenden beschlossen. Er erwägt auch, deutete er im Kreis von Vertrauten an, den Verzicht auf das Außenministerium.
Einflußreiche CDU-Politiker wissen, daß sich Genscher für das Amt des Präsidenten der EG-Kommission interessiert, aus dem der Luxemburger Gaston Thorn Ende des Jahres ausscheidet. Schweren Herzens sei Kohl darauf eingegangen und habe, in Gesprächen mit den wichtigsten EG-Partnern, erreicht, daß der hochdotierte Brüsseler Job für Genscher erst mal freigehalten wird.
Mehr noch: Genscher soll bis zum Frühjahr 1985 Zeit gelassen werden, auf einem Sonderparteitag dem neuen Wirtschaftsminister Martin Bangemann den FDP-Vorsitz zu übergeben. Thorns Amtszeit könnte dann notfalls um drei Monate verlängert werden.
Selbst seinen Plan, den Intimfeind und Parteifreund Kurt Biedenkopf nach Brüssel wegzuloben, ließe Kohl dafür fallen. Im Dezember 1983 hatte der Kanzler erstmals den westfälischen CDU-Vorsitzenden für den EG-Posten genannt. Kohl wollte endlich seinen farblosen Günstling Bernhard Worms, den Spitzenkandidaten der nordrheinwestfälischen CDU, von dem lästigen Konkurrenten erlösen.
Kohls heile Kabinettswelt ist nicht nur durch Genschers Verfall und den vom Bonner Gericht erzwungenen Rücktritt des Wirtschaftsministers Otto Graf Lambsdorff gestört worden. Auch mit den eigenen Leuten läuft es nicht mehr so, wie der Regierungschef es gern hätte.
Vorbei ist es mit der Fügsamkeit, die Arbeitsminister Norbert Blüm bisher geübt hat. Er war es zwar, der brutale Schnitte ins soziale Netz exekutierte. Doch nun spielt er nicht mehr mit.
Letzte Woche, am Dienstagmorgen, versuchten Kohl und Finanzminister Gerhard Stoltenberg zwei Stunden lang, Blüm ein teures sozialpolitisches Projekt auszureden - vergeblich: Er will, von 1986 an, aus den Kassen des Bundeshaushalts, nicht aus den Reserven der Rentenversicherung, den Frauen als Gegenleistung für die Kindererziehung einen Rentenzuschlag zahlen.
Blüm hatte schon vorher in der Unionsfraktion, allen Warnungen Alfred Dreggers zum Trotz, den Konflikt öffentlich gemacht. Er blaffte den Fraktionsvorsitzenden, bekannt für zackigen Law-and-order-Kurs, an: »Herr Dregger, ich rede Ihnen bei der Polizei nicht rein, und Sie mir nicht bei der Rente. Können wir es dabei belassen?« Als Kohl seinen Arbeitsminister anfeixte, »Na, Sie Streithansel«, wurde Blüm ernst: »Herr Bundeskanzler, das ist keine Frage, um Späßchen zu machen.«
Kohl spürte vorige Woche, daß seine Autorität schwindet. Um Stoltenberg nicht als Verlierer dastehen zu lassen, mußte er die Entscheidung über Blüms Plan auf den Herbst vertagen.
Unfähig zu klaren Entscheidungen zeigte sich der Kanzler auch, als der Streit seines Kassenhüters mit Waldhüter Zimmermann geschlichtet werden mußte. Der Innenminister hatte sich in Banz für seine Umweltpolitik feiern lassen. Von Lob und Zuspruch beflügelt, wagte er sich mit seinen Ankündigungen wieder einmal ganz weit vor. Zimmermann: »Ich werde mich durchsetzen.«
Schon seit einiger Zeit ärgert sich der oberste Umweltschützer grün über den Kollegen Stoltenberg, der eine Subvention für abgasarme Autos strikt ablehnt. Es sei Zimmermanns »gutes Recht«, meinte der Finanzminister gönnerhaft, weiter engagiert für seine Pläne zu fechten. Aber in Wahrheit, so ließ Stoltenberg durchblicken, sei die Sache schon gelaufen. Der Kanzler wagte auch diesmal nicht, eine Entscheidung zu treffen: Er vertagte den Streit auf September.
Die Christsozialen nutzen die Zeit, gegen Stoltenberg zu sticheln. Aus ihrer Sicht benimmt er sich wie ein phantasieloser Finanzbeamter; Haushaltsposten habe er ja gut im Kopf, so die Meinung im Kloster Banz, aber so gut wie kein politisches Gespür in den Fingerspitzen. »Sparen«, gab Strauß die Richtung an, »ist kein Selbstzweck. Man muß auch politische Ziele verfolgen« - das heißt, den Grünen die Wähler wegnehmen.
Sein großes Ziel, dem alle Kritik an den widerspenstigen Bonner Regierenden dient, sieht Strauß wieder in größere Nähe gerückt: vom Sessel des Außenministers die Richtlinien des Bundeskanzlers zu bestimmen.
Auch dem CSU-Vorsitzenden und seinem Gefolge ist klar, daß sie den noch amtierenden Genscher nur mit Hilfe der Freidemokraten aus dem Amt heben können. Aber sie sind zuversichtlich, daß die Liberalen den AA-Chef, dem sie schon den Parteivorsitz verleideten, solange demontieren, bis er zermürbt aufgibt.
Bangemann, so die Einschätzung in der Unions-Spitze, werde natürlich »an die Tete drängen« und Genscher bald auch als Vize-Kanzler ablösen. Und wenn der neue Wirtschaftsminister zum FDP-Chef aufgerückt sei, werde er auch der einzig wichtige liberale Ansprechpartner für die Union.
Begierig nahmen die Bayern in Banz daher die Nachricht auf, Genscher setze sich nach Brüssel ab. Die Kunde erschien ihnen plausibel: Für den Außenminister letzte Gelegenheit zu einem Abgang in Ehren. »Wenn das so weiter läuft«, so ein Strauß-Freund über die Streitigkeiten in der FDP, »kann er doch nur noch zum Nulltarif ausscheiden.«
In den oberen Rängen der Freidemokraten lösten die Gerüchte erst ungläubiges Staunen aus, abwegig erschienen sie freilich nicht. »Wenn er das jetzt machte«, meint Fraktions-Vize Hans-Günter Hoppe, »würde die Partei sich verraten fühlen.« Genscher sah sich zu einem Dementi gezwungen. Den Parteifreunden schwor er »Stein und Bein«, so ein Gesprächspartner, er bleibe in Bonn.
In dieser Woche sollen, im FDP-Vorstand, auch Unsicherheiten über einen vorzeitigen Rücktritt vom Parteivorsitz ausgeräumt werden. Nach den Plänen von Genscher, Bangemann und Generalsekretär Helmut Haussmann wird der Wechsel endgültig auf Februar terminiert. Haussmann ermahnte telephonisch die FDP-Landesfürsten, wenn diese Entscheidung mit Mehrheit getroffen sei, »muß die Zeit der losen Sprüche vorbei sein«.
Die FDP-Spitze hat spätestens vorige Woche gemerkt, daß es ernst wird. Wenn Genscher das Außenministerium aufgibt, wird dieser »Erbhof« (Strauß) nur schwer zu halten sein. Trotz aller Bekenntnisse aus dem Munde Bangemanns oder Haussmanns, Strauß müsse an Bonner Entscheidungen stärker beteiligt werden - so hatten sie sich das doch nicht gedacht.
Als Außenminister, beteuern die Liberalen jetzt, sei Genscher ihnen lieb und teuer. Die Vorstellung, die FDP könne mit diesem Ressort keinen Staat mehr machen, werde nur von wenigen geteilt. Vor allem aber möchten sie Kohl nicht im Stich lassen, der Strauß unbedingt von seinem Kabinettstisch fernhalten will.
Die Freidemokraten spekulieren darauf, daß gerade christsoziale Minister, trotz aller Schmeicheleien, einem Wechsel von Strauß mit Bangen entgegensehen. Schon jetzt nämlich werden in der CSU die Preise kalkuliert, die für das Außenministerium zu zahlen wären. Mindestens zwei Ressorts könnte die FDP als Ersatz verlangen, zur Not sogar drei. Auch Namen der Betroffenen werden schon genannt.
Werner Dollinger hat sich nach Ansicht von Strauß nicht bewährt, weil er sich als Verkehrsminister zu wenig um bayrische Straßen kümmerte und sogar noch Bahnstrecken in der Heimat stillegte. Landwirtschaftsminister Ignaz Kiechle hat es mit dem Obersten in München verdorben, weil er sich in Brüssel nicht für die Bauern schlug, die bei der Europa-Wahl prompt der CSU wegliefen. Als Dritter wäre der Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit Jürgen Warnke dran, weil Entwicklungshilfe die Bayern nicht interessiert. »Wir haben Togo und Zaire«, so ein CSU-Mann »und sonst nichts.«
Besonders delikat aber wäre die Lage für Innenminister Zimmermann. Er kann sich ausrechnen, daß die Liberalen dann das Ressort, das ihnen bei der Wende verlorenging, zurückfordern. Er müßte dafür ein Himmelfahrtskommando übernehmen: das Verteidigungsministerium.
Spitzenpolitiker der FDP berichten belustigt von merkwürdigen Begegnungen mit CSU-Abgeordneten, die davor warnen, Genscher zu demontieren. »Die sagen, treibt uns nicht«, schildert ein FDP-Präside die Gespräche, »laßt Franz Josef erst siebzig werden.«
Das wäre im Herbst 1985, gut ein Jahr vor der Bundestagswahl.
Am Montag letzter Woche bei der Ankunft im Kloster Banz, mit demCSU-Bundestagsabgeordneten Lorenz Niegel.