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RUSSLAND Zeichen von Hysterie

Nach der Duma-Wahl verschärft sich der Kampf um die Putin-Nachfolge. Es geht um Macht und schwarze Kassen, das Amt des Präsidenten ist bereits geschwächt.
aus DER SPIEGEL 50/2007

Wahlsieger sehen anders aus. Die ernste Miene, die Russlands Präsident Wladimir Putin beim Besuch eines Zentrums für Weltraumtechnik am Rande Moskaus zeigt, passt eher zu einer Beerdigung. Aber hat der Präsident nicht am Vortag bei der Duma-Wahl als Spitzenkandidat der Kreml-Partei »Einiges Russland« 64,3 Prozent der Stimmen eingefahren und seiner Gefolgschaft zwei Drittel der Sitze im Parlament verschafft?

Als müsste er dennoch gegen Enttäuschung ankämpfen, nennt der angespannt wirkende Kreml-Chef das Ergebnis einen »zweifellosen Erfolg« und einen »guten Sieg«. Und fügt hinzu, die Wahl zeige einen »hohen Grad an Legitimität unseres Parlaments«. Gerade daran bestehen Zweifel. Das Resultat für die Putin-Partei war nur durch trickreiches Vorgehen der Provinzverwaltungen zustande gekommen, dennoch hatte es nicht für die gewünschten gut 70 Prozent gereicht.

Der Wahlbetrug war offenkundig. Die von Moskau eingesetzten Machthaber in der Kaukasusrepublik Tschetschenien zum Beispiel scheuten sich nicht, ein Ergebnis von 99,36 Prozent für die Präsidentenpartei zu melden, die Nachbarn in Inguschien standen ihnen mit 98,72 Prozent kaum nach. »Es war keine freie, keine gleiche und keine demokratische Wahl«, kommentierte die deutsche Bundesregierung ungewohnt klar die Putin-Show, und das amerikanische »Newsweek«-Magazin gab seinen Lesern den Tipp: »Vergessen Sie die Wahl«, die reale Politik werde ganz woanders gemacht.

Wohl wahr. Seit Monaten wogt in Moskau ein Kampf der Clans um Macht und Milliarden, um Öl, um Gas, um schwarze Kassen. Nur vorübergehend hatte die Wahlkampagne der vergangenen Wochen einen Schleier über den Stellungskrieg gelegt.

Wie in keinem anderen größeren europäischen Land sind in Russland politische und wirtschaftliche Macht auf meist trübe Weise verquickt. Acht Führungsbeamte der Präsidentenverwaltung und zwölf Minister haben Aufsichtsratsposten in großen Staatskonzernen. Manche von ihnen stehen zudem im Verdacht, über Strohmänner an milliardenschweren Firmen beteiligt zu sein. Alle eint derzeit

nicht etwa die Sorge, wie die neue Duma abstimmen, sondern wer der Mann nach Putin wird.

Zu den dunkelsten Gestalten im Umfeld des Präsidenten gehört Igor Setschin, Vizechef der Kreml-Administration. Der Aufsichtsratsvorsitzende des Ölkonzerns Rosneft soll dem Staatsunternehmen über Zwangsversteigerungen Filetstücke des zerschlagenen Jukos-Konzerns einverleibt haben.

Setschins Name fiel zwei Tage vor der Wahl in einem Interview, das die Moskauer Tageszeitung »Kommersant« mit dem in den USA lebenden Geschäftsmann Oleg Schwarzman geführt hatte. Der behauptete, Setschin erpresse russische Unternehmen, um sie dann unter Wert aufkaufen zu lassen. Zwar dementiert Schwarzman jetzt die Vorwürfe. Doch Anatolij Tschubais, einflussreicher Chef des russischen Strommonopolisten Jes AG und Wortführer der Wirtschaftsliberalen, hält die Enthüllungen für glaubwürdig: Es sei die Wahrheit über Auswüchse eines Systems namens »souveräne Demokratie«. Des Systems Putin also. Setschin bestreitet die Anschuldigungen.

Um viel Geld geht es auch bei einer anderen Affäre, die Moskau in Atem hält. Seit über drei Wochen sitzt Vizefinanzminister Sergej Stortschak im Gefängnis Lefortowo ein. Der Vorwurf: Er habe 43 Millionen Dollar beiseitegeschafft. Finanzminister Alexej Kudrin, ein Putin-Vertrauter, der sich für Stortschaks Unschuld verbürgt, durfte seinen herzkranken Stellvertreter bisher nicht mal in der Haft besuchen.

Kudrin, letzte Galionsfigur der Liberalen in der Regierung, verwaltet den sogenannten Stabilitätsfonds, eine durch Öl- und Gaseinnahmen auf 98 Milliarden Euro angewachsene Sonderkasse. Das Finanzpolster weckt Begehrlichkeiten einer Fraktion aus Sicherheitsleuten, zu deren führenden Köpfen Setschin zählen soll. Bei der Verhaftung des Vizefinanzministers trat ein von Putin neu formiertes »Ermittlungskomitee« in Aktion, das als verlängerter Arm des Inlandsgeheimdienstes FSB agiert.

Auf das Konto der forschen Ermittler geht auch die Verhaftung eines Generals der Drogenpolizei. Deren Chef, Generaloberst Wiktor Tscherkessow, ist Putin seit gemeinsamer KGB-Zeit verbunden. Er hatte im Oktober Alarm geschlagen: In einem Aufsatz im »Kommersant« konstatierte Tscherkessow einen »Krieg der Geheimdienste« und warnte vor korrupten Kollegen im FSB. Die seien dabei, »ein großes Land in einen Sumpf nach dem Vorbild der schlimmsten lateinamerikanischen Diktaturen zu verwandeln«.

Selbst Putin ist nicht mehr sakrosankt. Das Kreml-loyale Wirtschaftsmagazin »Expert« beobachtet bei ihm ein zunehmendes »Auseinanderfallen von Rhetorik und Realität«. Angewidert von der allgegenwärtigen Korruption, wenden sich Mittelschicht und städtische Intelligenz immer mehr vom Präsidenten ab.

Putin wisse, dass äußerst destruktive Prozesse abliefen, »die er einfach nicht steuern kann«, sagt der Moskauer Politologe Stanislaw Belkowski. Nicht nur er versteht die monströse Wahlkampagne mit ihrem unverhältnismäßigen Druck auf die Opposition und der Polarisierung in Freund und Feind als Zeichen von Unsicherheit und Hysterie. »Wir beobachten die Sprengung des Putin-Systems, das in den letzten acht Jahren geschaffen wurde«, glaubt auch Lilija Schewzowa von der Carnegie-Stiftung. Nach der Präsidentenwahl 2008 werde Russland ein schwaches Parlament haben und eine schwache Präsidentschaft dazu - beides brauche Putin für seine selbsterfundene Rolle als »nationaler Führer«.

Trotzdem bleibt der Posten des Staatschefs offenbar so wichtig, dass sich die Kreml-Clans auf keinen Kandidaten einigen können. Voraussichtlich Anfang nächster Woche aber soll ein Parteitag von »Einiges Russland« den Kandidaten küren. Putin selbst ist als künftiger Parteichef im Gespräch.

Als aussichtsreicher Favorit für das Präsidentenamt gilt Premierminister Wiktor Subkow, 66, den Putin im September überraschend an die Regierungsspitze schob; jüngst empfing er seinen früheren Mitarbeiter aus der St. Petersburger Stadtverwaltung demonstrativ herzlich in seiner Moskauer Vorstadtresidenz. Subkow hat zwar kein Charisma, er wirkt wie ein Apparatschik der Sowjetzeit, aber gerade das könnte ihn aus Putins Sicht zum pflegeleichten Statthalter machen. Allerdings besitzt er mächtige Gegner, etwa im Energiegiganten Gasprom.

Im Gespräch für das höchste Staatsamt sind nach wie vor auch Vizepremier und Ex-Verteidigungsminister Sergej Iwanow sowie Walentina Matwijenko, die Gouverneurin von St. Petersburg. Der langjährige Auslandsaufklärer Iwanow gilt als kompetent vor allem in der Sicherheits- und Außenpolitik - und als Gegner Setschins, Matwijenko dagegen als eine zupackende Frau, die in die jüngsten Intrigen der hauptstädtischen Elite nicht verstrickt ist.

Gespenstischer kann die Lage in Moskau kaum sein: In rund zweieinhalb Monaten soll Russland seinen nächsten Präsidenten wählen. Doch keiner der potentiellen Kreml-Kandidaten wirbt bislang offen für sich und sein Programm. Das Spektakel um die an sich bedeutungslose Duma-Wahl, so schreibt die Zeitung »Wedomosti«, habe die Hoffnung auf einen ruhigen Machtwechsel im Frühjahr nicht gerade erhöht. UWE KLUSSMANN

Uwe Klussmann

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