KOALITION Zeit der Zumutungen
CSU-Vormann Michael Glos war gerade dabei, sich richtig in Fahrt zu reden. Die Wirtschaft sei schlapp, der Kanzler hilflos, polterte er am vergangenen Mittwoch im Bundestag, »wie lange noch will die Regierung tatenlos zusehen, wie Deutschland die Kräfte schwinden?«
Da wurde es Außenminister Joschka Fischer zu viel. Demonstrativ stand er auf, klopfte dem Kanzler auf die Schulter und verließ die Regierungsbank. Die Botschaft war klar: Wir stehen das durch. Und: Wir stehen das zusammen durch.
Die kleine Geste am Rande der großen Reden soll symbolische Wirkung vor allem in den eigenen Reihen und bei den Medien entfalten. Die Koalitionäre wünschen sich eine neue Aufbruchstimmung zwischen Rot und Grün in Berlin, wollen die Balgereien der vergangenen Wochen möglichst schnell vergessen machen. Im Kabinett und unter den Abgeordneten soll sich ein neues Wohlfühlklima ausbreiten.
Zuvorkommend wie selten begegnen sich seit den Parteitagen in Nürnberg und Rostock rote und grüne Koalitionäre auf den Fluren des Reichstags. »Die Grünen-Beschlüsse reichen über das Jahr 2002 hinaus«, lobte SPD-Generalsekretär Franz Müntefering. Und die designierte SPD-Präsidin Ute Vogt erklärte kurz und bündig: »Wir gehören zusammen.«
Auf einmal scheint die rot-grüne Perspektive wieder da, von der zuletzt nur in der Vergangenheitsform geredet werden konnte - nach der dem Kanzler verweigerten Koalitionsmehrheit für den Mazedonien-Trip der Bundeswehr und dem Streit um den Afghanistan-Einsatz, den Gerhard Schröder erst mit Hilfe der Vertrauensfrage für sich entschied.
Beim üblichen rot-grünen Morgengedeck herrschte am Dienstag vergangener Woche eine fröhliche Stimmung wie lange nicht mehr. SPD-Fraktionschef Peter Struck ("Ich frühstücke lieber mit Rezzo Schlauch und Kerstin Müller als mit Guido Westerwelle") gratulierte den grünen Freunden zum »schönen Ergebnis« von Rostock.
Doch die neue Zärtlichkeit ist nur gut inszeniert. Zehn Monate vor der Bundestagswahl ist eine pannenfreie Restlaufzeit der Schröder/Fischer-Regierung keineswegs garantiert.
Vor allem gegenüber SPD-Ministern und -Länderchefs keimt beim kleinen Koalitionär das Misstrauen. »Einzelne Ressortleiter«, argwöhnt die Grünen-Fraktionsführerin Kerstin Müller, »wollen wohl austesten, wie stabil wir nach den vergangenen Wochen noch stehen.« An Sprengsätzen unterschiedlichsten Kalibers herrscht kein Mangel. Beispiel:
Zumutung Einwanderungsgesetz: Bei einem lauten Abstimmungsgespräch mit den Grünen am vergangenen Dienstag ließ Innenminister Otto Schily keine Zweifel daran, dass für ihn beim Poker mit der Union einiges zur Disposition steht, was Rot und Grün zuvor verbindlich ausgehandelt hatten.
Zumutung Anti-Terror-Gesetze: Bei Schilys Sicherheitsgesetzen drängen außer der Union vor allem die SPD-geführten Länder Nordrhein-Westfalen und Nie-
dersachsen auf weitere Verschärfungen. Die Grünen, aber auch Justizministerin Herta Däubler-Gmelin, sperren sich gegen weitere Befugnisse für die Sicherheitsbehörden.
Zumutung Rüstungsexporte: Im Bundessicherheitsrat stehen - nicht zuletzt nach türkischen Anfragen - weitere Rüstungsausfuhren zur Entscheidung an. Schon gehen die Grünen gegen die Absicht der Bundesregierung in Stellung, Mitglieder der internationalen Anti-Terror-Koalition mit ausgemustertem Bundeswehrmaterial auszustatten.
Schärfer vorgetragene Differenzen sind in den nächsten Wochen auch in der Debatte um die Sendeanlagen der Mobilfunkbetreiber zu erwarten. Während Wirtschaftsminister Werner Müller für eher großzügige Strahlengrenzwerte bei Mobilfunkantennen plädiert, setzen mittlerweile Hunderte von lokalen Bürgerinitiativen insbesondere die Grünen unter Druck, strengere Maßstäbe durchzusetzen.
Für herzhaften Streit sorgte vergangene Woche Müller auch mit seinem Bericht zur Energiepolitik. Ohne Rücksicht auf grüne Empfindlichkeiten formulierte er massive Zweifel an der von Rot-Grün beschlossenen Energiewende. Die Kosten seien unrealistisch hoch (Müller: 500 Milliarden Mark), und machbar sei das Ganze nur um den Preis internationaler Isolierung.
Die Grünen kochten vor Wut. »Eine politische Instinktlosigkeit erster Güte«, schimpfte der hessische Grünen-Chef Hubert Kleinert. Müller konterte öffentlich: »Sorry, aber ich versteh halt was von der Sache.« Vor seinem Antritt in der Politik arbeitete der parteilose Minister als Manager beim Veba-Konzern.
Besonders heftig giftete die grüne Energie-Fachfrau Michaele Hustedt: Müller wolle sich »wohl um einen Vorstandsposten beim Energiekonzern E.on bewerben«. Das wiederum ließ den Gerüffelten nicht kalt. Als Hustedt am Donnerstag bei der Beratung des Wirtschaftsetats im Bundestag ans Mikrofon trat, verließ er demonstrativ seinen Platz auf der Regierungsbank. Da half auch der Hinweis des SPD-Abgeordneten Hans-Georg Wagner auf ein drängendes Bedürfnis des Ministers nicht, die Atmosphäre zu entspannen.
Auch bei führenden Sozialdemokraten liegen gelegentlich Nerven blank. Als Schily am Donnerstagabend, beim Treffen der SPD-Ministerpräsidenten, über die Grünen zu lästern begann, stoppte ihn der Kanzler: »Ich kann den Grünen im Moment nicht mehr zumuten.« Grimmig sprang der Minister auf: »Die sind doch verrückt! Da kann ich ja gehen.« Nur mühsam gelang es der Runde, den Zornigen zu beruhigen.
Die Grünen haben inzwischen die Devise ausgegeben, sich nur noch auf Konflikte einzulassen, »die man auch gewinnen kann«, so die Fraktionschefin Kerstin Müller. Leichtfertig wollen weder die Grünen noch die Sozialdemokraten den frischen Koalitionsfrieden brechen.
Experte fürs gute Klima ist bei den Grünen Rezzo Schlauch, der Fraktionschef aus Stuttgart. Zu Tee und Orangensaft, Brötchen und Eiern berichtete er beim turnusmäßigen Koalitionsfrühstück über seinen glücklichen 250 000-Mark-Erfolg in der Quizshow von Günther Jauch, und weil die Laune so gut war, verständigte sich die Runde auf eine gemeinsame Klausur der Fraktionsspitzen Anfang Januar in Wörlitz bei Dessau. Der Hauptgang wurde vorab schon festgelegt: gebratenes Wildschwein.
Echt ist die gute Laune bei den grünen Realos. Noch in der Samstagnacht hatte Joschka Fischer seinen Kanzler vom Abstimmungserfolg zum Bundeswehreinsatz im Anti-Terror-Krieg der Amerikaner auf dem Rostocker-Parteitag unterrichtet. »Das war das grüne Godesberg«, jubelte er tags darauf, »in dem Antrag steht alles drin, was wir für die nähere Zukunft an Grundsatzentscheidungen brauchen«. »Eine Zäsur«, befand auch Rezzo Schlauch.
Als Kriegsgegner Hans-Christian Ströbele in der Fraktionssitzung am vergangenen Montag vortrug, grundsätzlich sei in Rostock noch nicht über die künftige deutsche Militärpolitik entschieden worden, platzte Parteichef Fritz Kuhn der Kragen. »Ströbele, jetzt reicht''s«, donnerte er, »ich habe mir lange genug auf die Zunge gebissen.« Matthias Berninger, Parlamentarischer Staatssekretär im Verbraucherschutz-Ministerium, schloss sich an: »Hör auf mit der Scheiße!«
Vor allem die Orts- und Kreisverbände hat der Konflikt um Krieg und Frieden kräftig durchgeschüttelt. In Köln verkündeten nach dem Beschluss von Rostock zunächst knapp fünf Dutzend Mitglieder ihren Austritt und die Gründung einer neuen Partei. Name: »Die wahren Grünen«. Übrig blieb davon allerdings nur eine Hand voll Abtrünniger. Baden-Württemberg beklagte den Verlust von etwa 50 Mitgliedern sowie die Auflösung von zwei Ortsgruppen.
Doch die Partei hat schon schlimmere Zeiten durchgemacht. In Berlin meldeten sich vergangene Woche sogar 24 Neumitglieder. HORAND KNAUP, GERD ROSENKRANZ
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Kriegsschauplatz Irak?
Die Koalition fürchtet ein neues Abenteuer der Amerikaner.
Bei den Berliner Koalitionären grassiert die Furcht, von den USA in ein neues militärisches Abenteuer gezogen zu werden - diesmal im Irak. Immer wieder erreichen die Regierung und die CDU/CSU-Opposition Signale, dass ein weiteres Schlachtfeld im Kalkül der US-Militärs zumindest eine Rolle spielt.
Tatsächlich wurden im Nachbarland Kuweit bereits »Erkundungsteams« der Bundeswehr gesichtet. Ist das schon ein Indiz für deutsche Mitwirkung auf dem nächsten Kriegsschauplatz? Nein, sagen die Militärs und wiegeln ab: Washington befürchte Terroranschläge auf US-Stützpunkte in der Region - Saudi-Arabien und Kuweit eingeschlossen. Falls gewünscht, könnten auf den Basen getreu dem Bundestagsbeschluss deutsche ABC-Abwehrkräfte samt dem Spürpanzer »Fuchs« einrücken. Konkrete Vorbereitungen für Attacken auf Saddam Hussein, den die USA verdächtigen, das al-Qaida-Netzwerk zu unterstützen, seien trotz regelmäßiger Drohungen des Präsidenten George W. Bush nicht erkennbar - bisher.
Gleichwohl warnten Kanzler Schröder und Außenminister Fischer den US-Präsidenten, eine Ausweitung der Kämpfe auf den Irak könne die weltumspannende Anti-Terror-Koalition sprengen. Die Berliner Koalition, so ihre Sorge, wohl gleich mit. »Dabei könnte uns mehr um die Ohren fliegen«, sagte Schröder vergangene Woche im Bundestag, »als jeder von uns zu tragen in der Lage ist.«
Viel wahrscheinlicher ist derzeit der Einsatz deutscher Kommando-Soldaten in Somalia. Darüber sprechen die Militärs aber ebenso ungern wie über die Pendelflüge der »Transall«-Transporter zwischen den US-Basen Mildenhall in England und Incirlik in der Türkei. Dass diese neben Decken und Medizin auch Raketen und andere Munition befördern, gilt als ausgemacht. Die Brüsseler Nato-Zentrale stoppte zwar vergangene Woche Planspiele, Schutztruppen oder Luftbrücken für Hilfswerke in Afghanistan zu organisieren. Doch kaum denkbar, dass Deutschland sich verweigert, wenn eine Friedenstruppe beschlossen wird. »Wenn Fernsehbilder verhungerter und erfrorener Kinder kommen«, sagt ein Berater von Verteidigungsminister Scharping voraus, »sind wir ohnehin dran.«
Ein kleines Kontingent mit einigen hundert Heeres- und Luftwaffensoldaten könnte Scharping sogar losschicken, ohne eine erneute Abstimmung im Bundestag riskieren zu müssen: Das Mandat von Mitte November erlaubt ihm ausdrücklich, die Truppen auch für »Leistungen zum Zweck humanitärer Hilfe« einzusetzen.
Der Mazedonien-Einsatz der Bundeswehr, der vor drei Monaten beinahe die Koalition gesprengt hätte, gilt mittlerweile als unproblematisch. Voraussichtlich nächste Woche muss der Bundestag über die Verlängerung der auf drei Monate befristeten Aktion entscheiden. Die Fraktionsspitzen von Rot und Grün erwarten keine Gegenstimmen. ALEXANDER SZANDAR-
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Marginales Grün
Am »Terrorismusbekämpfungsgesetz« des Innenministers konnten die Grünen nur kosmetische Änderungen anbringen.
Der Innenminister hält von den Grünen nicht mehr allzu viel, und er sagt es auch. Bei der ersten Lesung der Anti-Terror-Gesetze im Bundestag belehrte Otto Schily den rechtspolitischen Sprecher der Grünen, Volker Beck: »Im Grunde sind das, was wir besprochen haben, Marginalien.«
Tatsächlich blieb der Kern des zweiten Sicherheitspakets, die Ausweitung der Kompetenzen für Geheimdienste und Polizei sowie die Verschärfungen im Ausländerrecht, vom kleinen Koalitionspartner nahezu unangetastet. Der Bundesrat will mit Hilfe von SPD-Stimmen das Gesetz sogar noch weiter verschärfen - neuer Zündstoff für die Koalition. Künftig soll
* der Bürger mit Hilfe so genannter biometrischen Daten in seinem Pass, also Erkennungsmerkmalen wie Fingerabdruck, Gesichts- oder Irisvermessung, identifiziert werden;
* der Verfassungsschutz von Ausländer- und Asylbehörden Informationen aus dem Ausländerzentralregister und damit aus Asylverfahren abrufen dürfen;
* der Bundesnachrichtendienst (BND) Einblick in alle Konten- und Geldbewegungen bei Banken nehmen können; die Telefonfirmen werden verpflichtet, alle gespeicherten Verbindungsdaten anzugeben;
* es dem Verfassungsschutz und dem BND erlaubt sein, auch von privaten Firmen Auskünfte über Kunden oder Mitarbeiter einzuziehen;
* das Bundeskriminalamt erweiterte Ermittlungskompetenzen bekommen, etwa bei bundesweit organisierten Taten;
* Ausländern das Einreisevisum verweigert oder deren Abschiebung erleichtert werden, wenn die »Annahme gerechtfertigt« ist, dass sie Terrorsympathisanten oder Gewalttäter sind.
Datenschützer und Bürgerrechtsorganisationen laufen seit Wochen Sturm gegen das Gesetzesvorhaben, das einige von ihnen in der Bundestagsanhörung am vergangenen Dienstag erneut als »Demontage des Rechtsstaats« (Republikanischer Anwälteverein) brandmarkten. Der Altliberale Burkhard Hirsch glaubte, bei Schily einen »totalitären Geist« erspäht zu haben.
Das Paradoxe: Selbst unter den Befürwortern harter Gesetze nimmt kaum ein Experte ernstlich an, mit den vorgeschlagenen 17 Gesetzesänderungen in Schilys Sicherheitspaket könnten Terrorattentate wie die am 11. September in den USA verhindert werden.
Der Gesetzestext wurde in Windeseile verfasst. Nach den Anschlägen am 11. September haben die Fachabteilungen »ihre Zettelkästen geleert«, wie Max Stadler (FDP) über das Sammelsurium spottet, damit das Paragrafenwerk möglichst schnell durch Parlament und Bundestag gejagt werden kann.
Gesichert ist die Finanzierung. Eine 700-Millionen-Mark Finanzspritze und 2320 neue Stellen für den Sicherheitsapparat sollen das »Terrorismusbekämpfungsgesetz« allein im Jahr 2002 flankieren. RÜDIGER SCHEIDGES
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Am Rand des Spielfelds
Die grünen Ausländer-Experten sind zurzeit nicht gefragt: Innenminister Schily verhandelt mit der Union. Er will einen Kompromiss - notfalls auch gegen die Grünen.
Die Grünen sind derzeit nur Zuschauer. Auf der Bühne stehen Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) - und die Länderpolitiker der Union.
Gleich zweimal traf Schily den brandenburgischen Innenminister Jörg Schönbohm (CDU) in den vergangenen Wochen zu vertraulichen Vier-Augen-Gesprächen. Das Thema: ob Schönbohm nicht doch noch dem geplanten Zuwanderungsgesetz zustimmen könne. Und wenn ja, unter welchen Bedingungen.
Obwohl Mitglied der Oppositionspartei im Bund, darf sich der märkische Minister fühlen, als habe seine Stimme Gesetzeskraft.
Hat sie auch, jedenfalls nahezu.
Denn auf seine Stimme kommt es an, was Schilys Koalitionspartner, die Grünen in Berlin, mehr schmerzt als alles andere. Und so meldete sich auch Fraktionschefin Kerstin Müller vom Rande des Spielfeldes misstrauisch zu Wort: »Ein Zurückweichen in den Kernfragen kommt nicht in Frage.«
Nur mühsam hatten die Grünen Schily erst Ende Oktober in einer Nachtsitzung wichtige Zugeständnisse abgerungen. Bei Rotwein (eine Flasche für sechs Unterhändler) und trocken Brot servierte der Sozialdemokrat schließlich einen Kompromiss, den die Grünen als Erfolg verkaufen konnten.
Die Anerkennung der »nichtstaatlichen Verfolgung« als Abschiebehindernis sowie die Begrenzung des Alters, bis zu dem Ausländerkinder nachziehen dürfen, auf 14 Jahre waren Wünsche der grünen Humanisten. Beides ließ Schily in den Entwurf, der seit Anfang November vorliegt, hineinschreiben.
Eine Rücknahme, und sei es nur in Teilen, würde der kleine Koalitionspartner als Zumutung empfinden. Wenn zentrale Punkte geändert würden, droht der rechtspolitische Sprecher der Grünen, Volker Beck, dann könne es die Koalition auch »gleich ganz lassen«. Doch den Grünen bleibt zurzeit nicht viel anderes übrig, als das muntere Treiben von SPD und CDU argwöhnisch zu belauern: Trau, schau, wem.
Schily hat die Grünen, aber für die Zustimmung im Bundesrat braucht er die Union. In der Länderkammer herrscht Stimmengleichheit zwischen sozialdemokratisch dominierten und unionsgeführten Ländern. Die vier Stimmen Brandenburgs, wo eine Große Koalition das Sagen hat, sind entscheidend.
Schert Schönbohm aus der Ablehnungsfront der Union aus und stimmt zu, konterkariert er damit den Versuch des bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber, CDU und CSU auf einen Kurs zu zwingen. Handelt er Schily Zugeständnisse ab, bringt er womöglich die rot-grüne Koalition in neue Kalamitäten.
Die Taktiker in der SPD rechnen bereits, wie weit sie gehen können, um zumindest Brandenburg zur Zustimmung zu bewegen - wenn möglich, ohne den grünen Partner zu demontieren.
Zumindest die Union scheint willig, nicht nur in Brandenburg. Auch der Bremer Innensenator Kuno Böse und der saarländische Ministerpräsident Peter Müller sind im Gegensatz zu den Bayern überzeugt, dass ein Kompromiss richtig ist. »Es ist gut, dass über Integration geredet wird, und es ist gut, das in einem Gesetz zu regeln«, sagt Böse. »Das Thema eignet sich nicht für den Wahlkampf.«
Das sieht CSU-Chef Stoiber völlig anders. Als »Potentaten der CDU, die nicht hundertprozentig kalkulierbar sind«, beschimpfte deshalb CSU-Landesgruppenchef Michael Glos die Renegaten aus der Schwesterpartei. »Wenn die auf Alpenfestung Bayern machen, mache ich auf gallisches Dorf«, konterte Schönbohm.
Dabei ist es eher ein Kampf um Symbole. Die zwischen Regierung und Opposition umstrittenen Gesetzesregelungen bedeuten bei rund 7,3 Millionen in Deutschland lebenden Ausländern nur geringe quantitative Veränderungen.
Anders als die Fundamentalisten von der CSU sehen die Realos in den Reihen der Christdemokraten, wie dringend Deutschland Zuwanderer braucht.
Trotz einer Arbeitslosigkeit von fast 4 Millionen Arbeitnehmern fehlen der Wirtschaft 1,2 bis 1,4 Millionen qualifizierte Kräfte. Im Bereich der Informationstechnologie sowie in der Metall- und Elektrobranche fahnden die Unternehmer regelrecht nach Facharbeitern. Der Wissenschaft und Forschung fehlen 40 000 Mitarbeiter. Weit mehr als zwei Drittel der Unternehmen mit Fachkräftemangel, hat das Institut für Wirtschaftsforschung herausgefunden, sehen »ihr Wachstum und ihre Konkurrenzfähigkeit gefährdet«. Eine Politik, die eine »systematische, umfassende Öffnung« des deutschen Arbeitsmarktes für Ausländer ablehne, »schadet dem Standort Deutschland«, warnen auch die Experten der Stiftung »Marktwirtschaft und Politik«.
So weit will nicht einmal die SPD gehen - geschweige denn die CDU.
Durch die »viel zu hohe« Altersgrenze, moniert Schönbohm, werde Integration »nicht geschafft, sondern erschwert«. Höchstens zehn Jahre alt dürften Kinder beim Nachzug sein, fordert der Saarländer Müller, der sich an diesem Mittwoch mit Schily treffen will.
Dabei ziehen pro Jahr nur knapp 8000 Kinder aus Ländern außerhalb der Europäischen Union nach Deutschland. Die von der CDU gewünschte Herabsetzung der Altersgrenze von jetzt 16 Jahren auf 10 Jahre würde die Zahl nach Angaben der Ausländerbeauftragten der Bundesregierung, Marieluise Beck, um »weniger als 1000 Fälle« verringern.
Für noch unerheblicher hält die Flüchtlingsorganisation der Vereinten Nationen (UNHCR) die Auswirkungen des zweiten Ärgernisses der Union: der »nichtstaatlichen« sowie der »geschlechtsspezifischen Verfolgung«. Während Böse »ganze Völkerschaften« betroffen sieht, hat die UNHCR in keinem Land Europas gestiegene Flüchtlingszahlen registriert, nachdem die Regelung eingeführt wurde.
Nicht nur die Uno-Flüchtlingskommissare warnen vor der Heraufbeschwörung von Schreckensszenarien; auch der Chef des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, Michael Rogowski, fordert die Union auf, »endlich von der Blockademauer runterzusteigen und sachlich zu diskutieren«.
Auf eine solche Diskussion setzen auch die Grünen. »Wenn es nur um die Fakten geht«, sagt Unterhändler Volker Beck, »dann müsste auch die CDU zustimmen.«
Wenn. RÜDIGER SCHEIDGES, HOLGER STARK
* Auf dem Flughafen Wunstorf.