Zur Ausgabe
Artikel 43 / 80

»Zeit für Aktionen«

Der Bürgerkrieg in Bengalen und der Flüchtlingsstrom stellen Pakistan und Indien vor fast unlösbare Probleme. Die pakistanische Armee wird mit der zunehmenden Kampftätigkeit bengalischer Guerillas nicht fertig. In Indien verstärken sieben Millionen Flüchtlinge die Spannungen zwischen Hindus und Moslems. Die Falken beider Länder drängen zum Krieg gegen den Nachbarn als spektakulären Ausweg aus der innenpolitischen Misere.
aus DER SPIEGEL 33/1971

Nachts ausgestreute Flugblätter warnten die Bewohner der vom Bürgerkrieg halbzerstörten ostpakistanischen Hauptstadt Dakka, zu bestimmten Zeiten bestimmte Viertel ihrer Stadt zu meiden. Zum angegebenen Termin explodierten dort Bomben, geworfen von Partisanen der ostbengalischen Guerilla-Truppe Mukti Bahini (Befreiungs-Armee).

Kämpfer für die Befreiung von Bangla Desch (Bengalen-Land) schleiften den Schwiegersohn des westpakistanischen Besatzer-Generals Mian hinter einem Geländewagen zu Tode und schlugen ihm anschließend den Kopf ab.

Einen Tag lang waren Ende Juli Industrie- und Wohngebiete der Millionen-Stadt ohne Strom: Die Mukti Bahini hatte drei Kraftwerke Dakkas gestürmt und zerstört.

Im Nordosten der besetzten Provinz. bei Mymensingh, schossen Guerillas mit Maschinengewehren eine tieffliegende Mig-19 der pakistanischen Luftwaffe vom Himmel. In den ländlichen Gebieten Ostpakistans richten Freiheitskämpfer am hellen Tag Kollaborateure hin, in der Hauptstadt schneiden sie nachts Spitzeln der Regierung die Kehle durch.

Aus dem Gemetzel der ersten Bürgerkriegstage im März ist ein bengalischer Partisanenkrieg geworden.

Dreieinhalb Monate lang hatte der Schock nach dem mörderischen Schlag der Armee gegen das Autonomiestreben Ostpakistans die Bengalen paralysiert. Ungehindert konnten die aus dem Westen des geteilten Landes eingeflogenen Bataillone hinrichten, plündern und brennen.

Seit Juli aber haben die bislang wie Hasen gejagten Bengalen ihren Widerstand militärisch organisiert. Seither können westpakistanische Pioniere Brücken nicht so schnell reparieren, wie die Guerillas sie zerstören.

Derzeit stehen etwa 30 000 Untergrundkämpfer 80 000 regulären Soldaten gegenüber -- ein Verhältnis, das, wie Vietnam zeigt, zugunsten der Guerillas ausgelegt werden muß.

Die Armee, selbstbewußt ausgezogen, die -- wie man glaubte -- weichlichen Landsleute im Osten erneut zu kolonisieren, muß immer öfter Schlappen einstecken.

Der Kleinkrieg ruiniert die Wirtschaft des am Rand des Bankrotts lavierenden Landes. Westpakistanis beschleichen erste Zweifel an den ständigen Regierungsverlautbarungen, im Osten herrsche wieder Ruhe und Ordnung. Die Unruhe in der Bevölkerung wächst in dem Maß, in dem das Ansehen der Armee sinkt.

Pakistans regierender General Jahja Khan, durch und durch hartleibiger Militär ("Das Volk hat mich nicht an die Macht gebracht, ich bin selbst gekommen"), befürchtet Gesichtsverlust und steuert auf eine rasche militärische Lösung der Probleme zu.

Vom selbstverursachten, aber nun der Kontrolle entglittenen Chaos im eigenen Land würde -- so kalkuliert der General -- ein Schlag gegen den Erbfeind Indien erfolgreich ablenken.

Und: Der Brudermord in Bengalen wäre internationalisiert, die Großmächte müßten friedenstiftend eingreifen. Pakistan wäre nicht mehr Hauptdarsteller, sondern Charge im blutigen Spiel. Die Lösung des fast unlösbaren Konflikts müßten dann andere finden.

Schon vor zwei Wochen prophezeite Jahja ausländischen Journalisten: »Wir stehen sehr nahe vor einem Krieg mit Indien.«

Der Krieg mußte nicht einmal um Bengalen geführt werden. Schon zweimal, 1947 und 1965, schossen sich die Armeen Indiens und Pakistans wegen Kaschmir, der geteilten Himalaja-Provinz im Nordwesten des Subkontinents. Die Auseinandersetzungen begannen beide Male mit dem Vorwurf Indiens, Pakistan habe Agitatoren nach Kaschmir eingeschleust und dort Unruhe gestiftet.

Vor vier Wochen erklärte Indiens Staatsminister für Inneres, Pant, wieder einmal, seine Regierung wisse von »gewissen Vorbereitungen. Infiltratoren zu subversiven Aktionen über die Waffenstillstandslinie nach Kaschmir zu schicken.

Vor zwei Wochen gab Verteidigungsminister Ram vor dem Unterhaus zu, zwei pakistanische Mirage-Düsenjäger seien ungehindert nach Kaschmir eingedrungen und im Tiefflug über den Flughafen der Provinzhauptstadt Srinagar gerast.

Indien mußte in Kaschmir, 2000 Kilometer von der bengalischen Grenze entfernt, seine Truppen in Alarmzustand versetzen.

Die indischen Dschawans (Landser) an der Grenze zum pakistanischen Bengalen haben sich schon lange kriegsbereit eingegraben. In mittlerweile kaum mehr gezählten lokalen Zwischenfällen bekriegen sich Soldaten der verfeindeten Länder bereits über die Grenze hinweg. Denn auch in Indien wächst die Forderung nach einem Krieg gegen den Nachbarn.

Als die Autonomiebestrebungen der Bengalen die Möglichkeit einer Spaltung des Feindlandes Pakistan aufzeigten, schürten Indiens Regierung und Presse begeistert die sezessionistischen Ansätze beim Nachbarn. Inder machten mehr Reklame für ein freies Bangla Desch als die Bengalen selbst.

Als Pakistan dann mit Gewalt den von Indien mitgeschürten Aufstand in seinem Ost-Territorium unterdrückte, flohen die drangsalierten Bengalen zu den vermeintlichen Verbündeten -- nach Indien.

Über sieben Millionen Menschen. meist Angehörige der Hindu-Minderheit im Moslem-Staat, kamen bislang über die Grenze -- besitzlos. krank, verhungernd.

Die Flüchtlingskatastrophe kostete Indien einen großen Teil seiner Nahrungsmittelvorräte. Geld für Entwicklungsprojekte -- zehn Millionen Mark pro Tag -- muß in die Flüchtlingslager gepumpt werden.

Da sich das Land so sehr auf die Unterstützung Bangla Deschs festgelegt hat, kann es die Flüchtlinge jetzt nicht einfach über die Grenze zurückjagen. vor die Gewehre der pakistanischen Armee. Aber es kann die sieben Millionen, die sich noch immer täglich um etwa 40 000 Neuankömmlinge vermehren, auch nicht auf unbegrenzte Zeit beherbergen. Eine Integration der Flüchtlinge scheint ebenfalls ausgeschlossen: 50 Millionen Inder suchen selbst vergebens Arbeit und Verdienst.

Außer fruchtlosen Forderungen nach einer politischen Lösung der Ostpakistan-Frage hat Indien deshalb die Ausbildung und Ausrüstung ostbengalischer Guerillas organisiert. Hätte die Mukti Bahini Erfolg, könnte sie Ostbengalen befreien, dann stünde der Rückwanderung der Flüchtlinge nichts mehr im Weg.

Doch ein Partisanenkrieg ist kein Blitzkrieg, er könnte Jahre dauern -- eine Aussicht, die selbst fanatische indische Tauben in Falken verwandelte.

Dschajaprakasch Narajan, Gründer der »Gandhi-Friedens-Stiftung«, bislang Vorkämpfer gewaltlosen Widerstands: »Die Zeit für Aktionen ist gekommen. Wir müssen der Mukti Bahini Artillerie, Gewehre, Panzer-Abwehrwaffen, Maschinengewehre und Sprengstoffe geben.«

Tripathi, Finanzminister des an Ostpakistan grenzenden und von Flüchtlingen überschwemmten Bundesstaates Assam, Balradsch Madhok, Führer der rechts-nationalistischen Dschan-Sangh-Partei, Gurupadaswami, Führer der Opposition im indischen Oberhaus, sie und viele andere betrachten die Austreibung von Millionen von Pakistanis nach Indien als pseudo-militärischen Angriff auf ihr Land -- der mit adäquaten Mitteln abgewehrt werden müsse.

Außenminister Swaran Singh, Erziehungsminister Siddhartha Schankar Ray und Verteidigungsminister Dschagdschiwan Ram deuten an, ein Krieg könne Indien »aufgezwungen werden«.

Der Direktor des indischen Instituts für Verteidigungs-Studien und -Analysen, Subrahmanjam, rechnete in einem geheimen Vortrag indischen Journalisten und Geheimdienstlern vor, ihr Land sei Pakistan militärisch überlegen. Die Dschawans könnten zumindest einen Teil Ostpakistans erobern und dort unter einer Bangla-Desch-Regierung die Flüchtlinge wieder ansiedeln.

Eine alttestamentarische Lösung schlagen dagegen Mitglieder der Dschan-Sangh-Partei vor: »Wenn Pakistan sieben Millionen Hindus in unser Land treibt, dann können wir sieben Millionen Mohammedaner nach Pakistan treiben. Wir haben schließlich 60 Millionen Moslems in Indien.« Die militant hinduistische Partei spricht aus, was ein Angsttraum der indischen Regierung ist: ein Rachefeldzug der Hindus gegen die mohammedanische Minderheit als Antwort auf das Massaker der pakistanischen Armee an Hindus in Ostbengalen.

Zwar vermeiden indische Zeitungen und die Regierung in Neu-Delhi sorgfältig jeden direkten Hinweis. in Ostpakistan werde mit ein Religionskrieg gegen Hindus geführt.

Doch den indischen Massen bleibt nicht verborgen, daß 85 Prozent der Flüchtlinge Hindus sind. Und sie lesen in ihren Zeitungen Aussagen der Flüchtlinge über Greueltaten der pakistanischen Armee.

So etwa, daß im ostpakistanischen Dorf Haluaghat ein pakistanischer Major junge Männer bat, Blut für verwundete Soldaten zu spenden. Kanülen wurden in die Venen der Freiwilligen eingeführt, und dann wurde so lange Blut abgesaugt, bis die Spender tot waren.

Solche Taten der pakistanischen Moslem-Armee erhitzen die latente Spannung zwischen Hindu-Mehrheit und Moslem-Minderheit in Indien.

Schon kam es zu Zwischenfällen. In Barasat nahe der bengalischen Grenze stürmten Hindu-Flüchtlinge aus Ostpakistan eine Moschee und forderten einheimische Mohammedaner auf, sie sollten doch nach Pakistan abhauen.

Ein drohendes Religions-Gemetzel im eigenen Land könnte selbst besonnene indische Führer zur Flucht nach vorn -zum Krieg gegen Pakistan -- treiben.

Noch stemmt sich Premierminister Indira Gandhi gegen das Kriegsgeschrei der Falken ihres Kabinetts. Doch auch sie erkannte: »Wir müssen durch die Hölle gehen, um mit der gegenwärtigen Situation fertig zu werden.«

Zur Ausgabe
Artikel 43 / 80
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren