RICHTER Zeit für Kinder
An der Hand des älteren Herrn ging eine Sechsjährige, und als eine Funkstreife um die Ecke kam, stoppte sie das ungleiche Paar -- sicher ist sicher.
Doch die Umsicht war in diesem Falle überflüssig. Der fremde Onkel entpuppte sich als Helmut Ostermeyer, 50, Familienrichter beim Bielefelder Amtsgericht, zuständig für Ehescheidungen. In einem langen Gespräch mit dem kleinen Mädchen hatte er Klarheit gesucht, ob die Mutter das Kind auch künftig behalten oder ob es nach der endgültigen Trennung der Eltern doch besser zum Vater ziehen sollte.
Einen ganzen Nachmittag blieb auch Ostermeyers Kollege Hans-Christian Prestien, 34, selber Vater von vier Kindern, bei einer knapp Zweijährigen, um ihr Verhältnis zu den zerstrittenen Eltern zu erkunden. Das Kleinkind, das bei Mutter und Oma lebte, hatte den Vater schon fast drei Monate nicht gesehen.
Doch als der dann kam, schleppte das Gör gleich seinen Stoffschlumpf zu ihm -- für Prestien eines von einigen deutlichen Signalen, daß die Kleine auch zum Vater noch eine tiefe emotionale Bindung hat. Nichts spräche dagegen, so richtete Prestien später, daß der Mann sein Kind auch künftig regelmäßig sehen dürfte. Von einem Besuchsverbot, das gelegentlich ausgesprochen wird, konnte keine Rede sein.
Seit im vorletzten Jahr nach neuem Recht die Familiengerichte installiert wurden, können Richter mehr als früher das Wohl des Kindes nicht nur berücksichtigen, sondern überhaupt erst ermitteln. Was aber in Bielefeld seither betrieben wird, geht noch über die inzwischen gängige Praxis hinaus.
Nicht nur wollen die Richter in jedem Fall auch versteckte Wünsche und Emotionen der Kinder erkunden -- in Maßen geschieht das auch anderswo -, sie versuchen überdies, zur eigenen Meinungsbildung, dem Kind möglichst entgegenzukommen, bis hinein ins Kinderzimmer.
Das sind ganz neue Sitten. Von alters her haben Richter, die über die Zukunft der Kinder zu entscheiden hatten, weniger nach Augenschein als nach Aktenlage geurteilt und danach, was überlastete Fürsorger vom Jugendamt zu Papier brachten.
Früher wurde der Konkurs einer Ehe von verschiedenen Juristen nacheinander verhandelt. Da war eine Kammer nur für Scheidungen zuständig, eine andere für Unterhaltsfragen und eine dritte schließlich für Sorgerecht und Vormundschaft.
Nun, seit alle Fragen, die Ehe und Familien angehen, von einem Richter entschieden werden, kommen auch die Kinder schon eher zu ihrem Recht. Die schlimmen Folgen der Scheidung können zwar nicht vermieden, wohl aber gemildert werden. Wenn nur einer das Sagen hat, ist die Kungelei unter den Parteien nicht mehr so einfach.
Die Anwälte, die früher oft die einzigen Scheidungsnutznießer waren, sehen die Bielefelder Richteraktivitäten denn auch mit Mißtrauen. Jedes Kind anzuhören sei vom Gesetz gar nicht vorgesehen, moniert der Bielefelder Rechtsanwalt Klaus Thomsen, dies schränke »das natürliche Elternrecht durch nicht gerechtfertigten Staatseingriff unnötig ein
Psychologen dagegen werden mehr Verständnis aufbringen. »Ich bedaure«, sagt der Tübinger Professor Reinhart Lempp, ein angesehener Kinder-Psychiater, »daß die Kinder nicht gehört werden müssen, wenn die Eltern sich scheiden lassen.«
Was gesetzlich nicht vorgeschrieben, aber auch keineswegs untersagt ist, erfüllen die acht Richter beim Bielefeld er Familiengericht aus eigenen Stücken: Sie hören sich jedes Kind an, und nur wenn es schon älter ist, lassen sie es in die Amtsstube kommen.
100 000 Kinder verlieren jährlich den Vater oder die Mutter durch Scheidungsurteil. Experten schätzen, daß mehr als eine Million Kinder als Scheidungswaisen heranwachsen -- Kinder, die häufiger als ihre Altersgenossen unter Lernschwierigkeiten oder anderen Behinderungen leiden.
Die Bielefelder Familienrichter versuchen, den häufig unabwendbaren Schaden wenigstens so gering wie möglich zu halten. Weil die scheidungswilligen und oft zerstrittenen Eltern kaum noch in der Lage sind, die Interessen des Kindes zu vertreten, sieht Richter Prestien sich und seine Kollegen »als neutrale Dritte«.
Wie selten solche Mühen sind, wird deutlich, wenn eine Kollegin, die hohe Hamburger Richterin Lore-Maria Peschel-Gutzeit, den Bielefeldern schreibt: »So bin ich bei beiden Familiensenaten des Oberlandesgerichts Hamburg die einzige Richterin, die Kinder grundsätzlich anhört. Diese Idee setzt sich erst langsam durch.«
Daß es noch eine ganze Weile dauern dürfte, bis das Bielefelder Beispiel Schule macht, ist naheliegend. In einer Analyse von 371 einschlägigen Akten aus ganz Hessen hat der Frankfurter Rechts-Professor Spiros Simitis nachgewiesen, daß sich Richter im wesentlichen auf die Berichte des Jugendamtes verlassen und daß sie ganz selten nur versuchen, die Aktenlagen mit eigenen ergänzenden Ermittlungen aufzuhellen. Wie auch: »Während des Studiums«, so Simitis, »werden die Richter jedenfalls in gar keiner Weise darauf vorbereitet, daß sie es in ihrem Beruf auch mit Kindern zu tun haben werden.«
Diese Tatsache war freilich auch für die Bielefelder das größte Problem. »Man muß damit aufhören«, sagt Prestien, »Juristen, die keine Ahnung von psychologischen Sachverhalten haben, auf die Menschheit loszulassen« -- und auf die Kindheit dann schon gar nicht. Regelmäßig kommt die Bielefelder Richterriege deshalb mit dem Psychologen Wolfgang Klenner zusammen. Dieser Professor, der das Institut für Heilpädagogik an der Evangelischen Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bielefeld leitet, vermittelt den Juristen psychologisches Grundwissen anhand von Themen wie »Gesprächsführung insbesondere mit Kindern« oder »psychologische Untersuchungsmethoden«.
Neben solchen freiwilligen Fortbildungsseminaren läßt Klenner die Richter »bei der Diagnostik, bei der Begegnung mit dem Kind teilhaben. Damit der Richter sich abschauen kann, wie der Psychologe mit dem Kind umgeht«.
So viel Aufwand ist für den gewöhnlichen Richter kaum zumutbar und auch den Bielefeldern nur unter besonderen Verhältnissen möglich. Denn Prestien, nicht nur am Kindswohl interessiert, hat einen besonders arbeitsintensiven Komplex aus der Entscheidungssuche bei der Auflösung einer Ehe herausgelöst.
Die neuen gesetzlichen Regelungen zum sogenannten Versorgungsausgleich -- danach werden Rentenansprüche, die während der Ehe angewachsen sind, geteilt -- erachtet er als womöglich verfassungswidrig. Ein Verfahren, bei dem eine Ehe seit Jahren nur noch auf dem Papier bestand, die Rente gleichwohl geteilt werden müßte, hat er deshalb in Karlsruhe vorgelegt -- und solange die Verfassungsrichter nicht entschieden haben, lassen die Bielefelder die Frage nach dem Versorgungsausgleicb unberücksichtigt. So haben sie Zeit für die Kinder.