Ungarn Zielflug Athen
Es begann wie ein harmloser Schülerstreich. Zwei junge Männer in Blue Jeans stiegen am Nachmittag des 7. Januar in das Mädcheninternat auf dem Marktplatz von Balassagyarmat in Nordungarn ein, trieben 14 kichernde Backfische in ein Zimmer und verrammelten die Tür von innen.
Dann wurde es plötzlich blutiger Ernst: Die beiden Kidnapper packten Maschinenpistolen und Revolver aus, luden durch und verlangten von der Heimleitung für die Freilassung der 14 bis 16 Jahre alten Teenager 100 000 US-Dollar in bar, einen aufgetankten Bus und freies Geleit bis zur österreichischen Grenze -- andernfalls würden sie die Mädchen eines nach dem anderen erschießen.
Wer die jugendlichen Gangster waren, die erstmals in Ungarn nach westlichen Vorbildern Beute und Fluchtweg durch Geiselnahme erzwingen wollten, hatte die Miliz von Balassagyarmat bald heraus: András Pintye, 19, seit längerer Zeit ohne Beschäftigung, und dessen Bruder László, 18, Gewerbeschüler, beide in der Kleinstadt 60 Kilometer nördlich von Budapest als Anführer einer Halbstarken-Gang bekannt.
Beide waren von der Polizei schon oft auf frischer Tat festgenommen worden. Vor Gericht gestellt wurde das Brüder-Paar aber nie. Denn der Vater der Rocker war Oberstleutnant der Grenztruppen in Balassagyarmat und Mitglied des Parteikomitees im Bataillon.
Die Mutter von András und László hatte als Funktionärin im örtlichen Partei-Aktiv das Sagen. Wann immer ihre mißratenen Sprößlinge aufgegriffen wurden, intervenierten die Pintye-Eltern -- kraft ihrer Ämter mit Erfolg.
Die Partei verfolgt die Kriminalität ihrer höheren Söhne und Töchter schon seit langem mit Sorge. Unter den Autoknackern, Automaten-Dieben, Devisenschiebern und Urkundenfälschern stellen Kinder von Parteifunktionären, Industriemanagern, Armee- und Polizeioffizieren -- als »Neue Klasse« die Hauptnutznießer des ungarischen Wirtschaftwunders -- einen wesentlichen Anteil.
Eine Untersuchung über die ungarische Jugend-Kriminalität aus dem Jahr 1969 deutet das Problem unter der Kapitel-Überschrift »Falsche Erziehung« nur an: »... Die aus solchen Familien stammenden Jugendlichen sind an die Erfüllung ihrer Wünsche gewöhnt und verlieren bei der geringsten Schwierigkeit ... sofort den Halt.«
Die jüngste Studie der Soziologen, die der Generalstaatsanwalt Géza Szénási im Frühjahr des Vorjahres veröffentlichte, stellt fest, daß Wohlstandsmentalität der Hauptgrund für die um 14 Prozent angestiegene Jugendkriminalität ist. Die Täter, die sich in Banden ("Galerien") organisieren, gehören fast ausschließlich zur Großstadtjugend. Und: Sie sind überwiegend Kinder reicher Leute, deren Taten von ihren einflußreichen Eltern vertuscht werden.
Auch im Fall des Kidnappings von Balassagyarmat half zunächst die Protektion der Alten. Der Oberstleutnant aus der Provinzgarnison sorgte dafür, daß fünf Tage lang Fernsehen, Rundfunk und Zeitungen über die bewaffnete Geiselnahme schwiegen.
Der Versuch, die Pintye-Brüder durch lange Belagerung zu ermüden, scheiterte -- die Polizei, die das Heim für höhere Töchter, ein ehemaliges Nonnenkloster, umstellt hatte, mußte angesichts des Arsenals der Erpresser, das aus Papas Kaserne stammte, nachgeben. Sie stellte das verlangte Geld sowie den Bus bereit.
Doch inzwischen hatten es sich die beiden anders überlegt. Aus Furcht, Österreich könne sie womöglich ausliefern, verlangten sie nun nach einem aufgetankten Helikopter -- zum Zielflug nach Athen. Die griechischen Obristen -- so ihr Kalkül -- würden sie einem kommunistischen Staat nicht überlassen.
Doch nach 120 Stunden Belagerung. wenige Stunden vor dem Ablauf der letzten Frist, am 12. Januar, gelang es der lauernden Miliz, zusammen mit dem Antwort-Schreiben einen Polizeihund in das verbarrikadierte Zimmer einzuschleusen, Auf Zuruf sprang der Hund den András Pintye an, der kam im Handgemenge dem Fenster zu nahe und wurde von einem Scharfschützen aus dem Nachbargebäude erschossen.
Bruder László gab auf, ihn -- aber auch seine Eltern -- brachte die Polizei noch am gleichen Tag aus der Stadt. Die Öffentlichkeit erfuhr von dem aufregenden Wildwest in Balassagyarmat nur durch eine Fünfzeilen-Meldung -- sechs Tage nach der Tat -- in der Parteizeitung »Népszabadság": die Behörden hätten zwei jugendliche Erpresser »unschädlich« gemacht.