Sozialstaat Zierde der Fürsten
Gegen seine Gewohnheit gab sich Norbert Blüm verzagt: »Ich bin ratlos.« Für die nächsten Tage bleibe ihm nur »beten, beten, beten«.
Der frömmelnde Minister heuchelt jedoch nur Verzweiflung. Er weiß sich seinem Ziel sehr nahe. Politisch ist sein Reformprojekt Pflegeversicherung seit zwei Wochen auf bestem Weg. Ein Scheitern kann sich keine der beteiligten Parteien ohne Schaden leisten. Und sachlich sind sich Koalition und Opposition näher, als das Getöse in FDP und SPD glauben macht.
Die SPD hat den Zeitpunkt verpaßt, Blüm mit Aussicht auf Vorteil im Superwahljahr 1994 scheitern zu lassen.
Vor drei Wochen waren die Sozialdemokraten noch auf Konfrontationskurs. Einstimmig beschlossen die SPD-Ministerpräsidenten und das Parteipräsidium, Lohnkürzungen am Feiertag und das Pflegegesetz in der Länderkammer mit der SPD-Mehrheit abzulehnen, den Vermittlungsausschuß von Bundesrat und Bundestag nicht anzurufen und das Verfahren zu beenden.
Grund: Lohnraub an Feiertagen zur Finanzierung unzulänglicher und unsozialer Pflegeleistungen seien mit Sozialdemokraten nicht zu machen. Wenige Tage später sah die Lage anders aus. Beim Kamingespräch in Mainz ermunterte der SPD-Vorsitzende Rudolf Scharping seine 15 Kollegen aus der Union und dem eigenen Lager, Blüms Pflegeentwurf zu beraten.
Eine Mischung aus Einsicht und Eitelkeit half den Ministerpräsidenten beim Kompromiß. Die auf ihren Rang bedachten Länderfürsten würden sich zu gern damit zieren, bei der Vollendung der Bismarckschen Sozialreform mit Hand anzulegen. Außerdem erspart ihnen die Finanzierung der Pflege über Beiträge der Versicherten Milliarden Mark bei der Sozialhilfe. Also beschlossen sie einstimmig, Verbesserungen auf sechs Feldern zu verlangen.
Scharping band in nächtlichen Telefonaten die SPD-Verhandlungsführer Rudolf Dreßler und Franz Müntefering, Sozialminister in Nordrhein-Westfalen, ein. Seither, so ein SPD-Landesminister, könne die Pflegeversicherung nicht mehr scheitern.
Die neue Lage machte allerdings die FDP nervös. Hektisch verkündete FDP-Sozialexpertin Gisela Babel schon das Ende der Koalition, falls Union und Sozialdemokraten sich zu Lasten der Liberalen einigen sollten.
Nach einer Beratung im FDP-Präsidium und dem Koalitionsgespräch am vergangenen Dienstag war von Bündnisbruch nicht mehr die Rede.
Kanzler Helmut Kohl und CDU/ CSU-Fraktionschef Wolfgang Schäuble hatten ihr Versprechen erneuert, die »Pflege« einvernehmlich mit den Freidemokraten zu beschließen. Seither bauen die Parteien für die Vermittlungsverhandlungen vor. Ein dramatisches Stück soll vorgeführt werden, mit Krisen und Nachtsitzungen, wie es zum rechten Polit-Theater gehört.
FDP-Generalsekretär Werner Hoyer und sein Aufpasser Otto Graf Lambsdorff nennen als unabdingbare Forderung eine Kompensation für die zusätzlichen Lohnnebenkosten der Arbeitgeber. Die dafür jetzt im Gesetz vorgesehene Kürzung der Feiertagsbezahlung ist indes für die SPD als Eingriff in die Tarifautonomie unannehmbar.
Mögliche Lösung: Die Bundesländer streichen in eigener Regie einen Feiertag, der Bund muß sich bereitfinden, den Tag der Deutschen Einheit nicht am 3. Oktober, sondern jeweils am ersten Oktobersonntag zu begehen.
Die FDP wär's zufrieden, und 15 Landesherren würden mitmachen. Nur Edmund Stoiber aus Bayern und der Kanzler zieren sich noch. Aber eine Alternative, so meint ein hoher Beamter, sei nicht in Sicht. Und an zwei Feiertagen könne doch eine Jahrhundertreform nicht scheitern.
Dieses Argumentationsmuster taucht bei jedem Streitpunkt auf.
Die Liberalen, so Fraktionschef Hermann Otto Solms, ließen nicht an der Beitragsbemessungsgrenze von monatlich 5400 Mark für die Pflegeversicherung deuteln - das ist genau der Betrag, der auch für die Gesetzliche Krankenversicherung gilt. Die Summe ist die Bezugsgröße für den Pflegebeitrag von einem Prozent ab 1994 und 1,7 Prozent ab 1996.
Die SPD dagegen will die um knapp 2000 Mark höhere Bemessungsgrenze der Rentenversicherung zum Maßstab nehmen. Dann käme mehr Geld in die Kasse, die Besserverdienenden würden stärker beteiligt. Diese Umverteilung aber macht die FDP nicht mit.
Einen plausiblen Grund, die Verhandlungen deswegen scheitern zu lassen, hat die SPD aber nicht.
Noch leichter läßt sich der Streit um den Kreis der Pflichtversicherten lösen. Die Liberalen, immer um die Pfründen der privaten Versicherungen bemüht, beharren darauf, nur die Mitglieder der Gesetzlichen Krankenkassen auch in die Gesetzliche Pflegeversicherung zu zwingen. Die Privatversicherten sollen Kunden der Assekuranzunternehmen bleiben.
Die Sozialdemokraten dagegen möchten eine Volksversicherung für alle. Zwei Pflegeversicherungen, eine fürs gemeine Volk und eine »de luxe« für Abgeordnete, Beamte und Freiberufler, meint Dreßler, dürfe es nicht geben.
Darf es wohl doch. In der Krankenversicherung ist es ja auch so geregelt, und die Sozialdemokraten mäkeln seit Jahrzehnten nicht mehr daran. Ohnehin wären mehr als 90 Prozent der Bürger nach dem Regierungsentwurf kollektiv abgesichert. Auch hier kann die SPD nachgeben.
Entscheidender ist für Scharping und Dreßler ein anderer Punkt: Für sie liegt das Leistungsniveau der geplanten Versicherung zu niedrig. Nur bei einer Aufstockung der Pflegeleistungen sei das Ziel zu erreichen, 80 Prozent der Pflegebedürftigen wirklich von der Sozialhilfe unabhängig zu machen. Für die notwendigen Verbesserungen - 2100 Mark pro Monat für die Pflegekosten im Heim reichen oft nicht aus - fehlt allerdings das Geld.
Das Problem kann nur zusammen mit dem letzten, schwersten Konflikt gelöst werden, der angestrebten Beteiligung der Länder an den Investitionskosten für Pflegeheime und ambulante Pflegestationen.
Die Länder sparen durch die Pflegeversicherung rund 8 Milliarden Mark an Sozialhilfe. 3,6 Milliarden davon sollen sie für Pflegeinvestitionen dem Bund überlassen, ohne jeden Einfluß auf Planung oder Ausstattung der Heime. Das würde den monatlichen Pflegezuschuß auf etwa 2600 Mark erhöhen.
Die Länder sind im Prinzip zu einem solchen Opfer bereit. Doch sie wollen nicht darauf verzichten, über die Verteilung des Geldes wenigstens mitzubestimmen.
Die Liberalen wittern hinter dieser Forderung Verschwendung und Unwirtschaftlichkeit. Wenn Landräte sich künftig mit Pflegeheimen Denkmäler setzen können, so das Argument, werde dort die gleiche Renommiersucht wirken wie ehedem beim Bau von Krankenhäusern.
Die Liberalen werden sich jedoch den Landesherren beugen müssen. Auf Hoyers Liste der Eckpunkte taucht die Absicht, den Provinzeinfluß einzudämmen, schon gar nicht mehr auf.
Blüm denkt noch weiter. Obwohl alle Ministerpräsidenten nach mehr Mitsprache verlangen, sollen in der unvermeidlichen politischen Gewinn- und Verlustrechnung nach einer Einigung die Sozialdemokraten herausgehoben werden. Blüm: »Ich werde das zum SPD-Gewinnpunkt erklären.«
Damit die Bilanz der Sozialdemokraten stimmt. Y
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__33_ Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat
_____ / Vor Abstimmung über Pflegeversicherung
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