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Zinn-Regierungen

aus DER SPIEGEL 21/1947

Eine dumpfe Atmosphäre der Unruhe lastete über La Paz, der 3594 Meter über dem Meeresspiegel gelegenen Hauptstadt von Südamerikas Zinnrepublik Bolivien. Gerüchte über einen Umsturzplan kursierten unter den 200 000 Einwohnern, denen noch der Aufstand vom Juli vorigen Jahres in den Gliedern steckte. Zweitausend Tote und Verletzte waren der blutige Saldo der Revolte gewesen, die das Ende des totalitären Regimes von Gualberto Villarroel gebracht hatte.

Präsident Enrique Hertzog hatte rechtzeitig Wind von den Gerüchten bekommen. Der überaus gemäßigte 49jährige Arzt war erst am 9. März vom Kongreß zum Staatsoberhaupt proklamiert worden. Um seine junge Stellung zu halten, griff er sofort durch. Er ließ die gut organisierten Anhänger seines Amtsvorgängers Villarroel verhaften. Diese Organisation hatte versucht, gemeinsam mit Massenaufständen der Indianer den Präsidenten zu stürzen. Victor Andrade, früher bolivianischer Botschafter in den USA, und elf andere Prominente der Bewegung wurden festgenommen. Außerdem machte man viele Offiziere dingfest, die zu der im vorigen Jahre aufgelösten, als faschistisch bezeichneten »Santa-Cruz-Loge« gehörten.

Das Kabinett zog aus der gespannten Lage die Konsequenzen. Es trat zurück. Für diesen Schritt soll aber auch die Unzufriedenheit der Bergarbeiter mit der sozialen Lage maßgebend gewesen sein. Präsident Hertzog hat Besprechungen über die Bildung einer neuen Regierung begonnen. Sie soll alle Parteien umfassen.

Im Dezember 1943 hatte Gualberto Villarroel, der Chef der nationalrevolutionären Bewegung, mit Hilfe junger Offiziere den Präsidenten Enrique Penaranda gestürzt. Das Ziel seiner nationalistischen Linksbewegung war der Kampf gegen den Einfluß des Industrie- und Finanzkapitals. Villarroels Regierung war eine der wenigen, die nicht im Solde der großen Zinnkönige vom Schlage Simon Patinos standen. Patino, ein Halbindianer, war ursprünglich Gehilfe in einem Kaufhaus. Er kaufte sich dann für 250 Dollar einen Anteil an einer Zinnmine. Nach Jahren des Schuftens wurde der Chollo Patino Zinnkönig und war einer der fünf reichsten Männer der Erde. Er zog sich dann nach Europa zurück und dirigierte von Paris aus die bolivianische Politik, wählte Präsidenten aus und protegierte Minister. Während des Weltkrieges Nr. 2 nützte er die gute Konjunktur im Zinngeschäft. In der vergangenen Woche ist er im Plaza-Hotel in Buenos Aires als 86jähriger gestorben. Seine Ueberreste sollen in einem Mausoleum aus blauem Marmor, das auf der Anden-Hochfläche Boliviens steht, beigesetzt werden.

Präsident Villarroel regierte, wenn auch gegen das Großkapital, zu diktatorisch und zeigte Neigungen zum Faschismus. Am 12. März 1945 wurde auf ihn ein erfolgloses Attentat verübt. Dann brach im Juli 1946 ein Studentenaufstand aus, der Ströme von Blut kostete, aber erfolgreich war. Villarroel wurde dabei von seinen Gegnern kurzerhand an einer Laterne vor dem Regierungssitz aufgeknüpft.

Die neue Regierung versprach die Wiederherstellung aller Freiheiten für das Volk und Freilassung der politischen Gefangenen.

Enrique Hertzog, das neue Staatsoberhaupt der 1,3 Millionen Quadratkilometer großen Hochlandsrepublik, steht vor schweren Aufgaben. Seit 1939 haben sieh die Lebenshaltungskosten für die dreieinhalb Millionen Einwohner (40 Prozent davon Indianer, 32 Prozent »Cholos«, Mischlinge, 19 Prozent Weiße und 9 Prozent Ausländer) verdreifacht.

Das schwierigste Problem aber bleibt das Zinn. Vier Fünftel des Staatseinkommens und zwei Drittel des Nationaleinkommens stammen aus den Zinnbergwerken. Seit Kriegsende hat die Nachfrage nach Zinn nachgelassen. In Malaya produzieren die Minen auch schon wieder. Boliviens Zinnkönige wollen daher alle weniger ertragreichen Bergwerke schließen. Die Arbeiter aber sind dagegen.

Die Regierung steht zwischen beiden und sucht zu vermitteln. Ein Lichtblick ist ein neues Wirtschaftsabkommen, das jetzt mit Argentinien abgeschlossen wurde.

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