HESSEN Zinn und Zinseszins
Das Land gab der Welt Goethe, Grüne Soße und Soldaten, die ein Fürst an Freund und Feind verhökerte. Es bescherte den Deutschen Frau Holle und einen »Babba« Hesselbach, der mit seinem breitmäuligen, erregten Gebabbel für die Fernseher den Hessen schlechthin verkörpert.
Jahrhundertelang war dieses »Herzland« zwischen, Rhein und Rhön, das »anatomisch formgerecht auf der linken Seite der Wirbelsäule, an dem starken Rückgrat Deutschlands« liegt (so der Darmstädter Schriftsteller Hans J. Reinowski), ein Hort deutscher Fachwerkromantik und rheinfränkischer Apfelweinseligkeit. Eine kurze Sternstunde lang leuchtete dort, 1848 in der Paulskirche, das Feuer einer deutschen Revolution.
Und jetzt, zwei Jahrzehnte nach dem Krieg, blüht in der Heimat von Abs und Asbach, Neckermann und Grzimek ein zweites deutsches Wunder: ein hessisches. Nicht mehr die Hochofen -Megalopolis an der Ruhr setzt den Maßstab für den deutschen Wohlstands-Auftrieb, sondern das Land am Main, wo die Brüder Grimm ihre Märchen schrieben. Glanz und Gloria prophezeien die Wirtschaftsforscher der angesehenen schweizerischen »Prognos AG« (SPIEGEL 27/1966) den einst sprichwörtlich »blinden« Hessen, die am kommenden Sonntag ihre sechste Nachkriegsregierung wählen werden.
In einer statistischen Vorausschau auf »Die Bundesrepublik Deutschland 1980« errechneten die Schweizer Wahrsager für Hessen die höchste Zuwachsrate an wirtschaftlicher Kraft von allen westdeutschen Bundesländern. Das sogenannte Bruttoinlandsprodukt des Landes wird danach zwischen 1961 und 1980 um 154 Prozent gestiegen sein (erwarteter Bundesdurchschnitt: 122,3 Prozent).
Die goldene Perspektive verdankt das Land laut Prognos
- einer besonders günstigen Zusammensetzung seiner Industrie, der (vor allem in Kunststoffverarbeitung, Chemie und Elektrotechnik) ein
überdurchschnittlicher Produktionsboom sicher ist;
- einer vorbildlichen Infrastruktur (Verkehrswege, Schulen, Wohnungen und Gemeinschaftseinrichtungen), die von Prognos mit der Bestnote 1 gewertet wurde.
Die Zukunft hat schon begonnen. Nicht nur Fabrikmetropolen wie die Chemiestadt Höchst oder der Opel-Standort Rüsselsheim, wie Offenbach (Lederwaren) oder Kassel (Fahrzeugbau), auch neuerschlossene Industriezonen locken immer mehr Bundesbürger in das Herzland. »Auf der Suche nach besseren Verdienstmöglichkeiten, Arbeits- und Lebensbedingungen« (so die Analyse) kehrten dem Ruhr-Revier seit 1960 rund 150 000 Menschen mehr den Rücken, als Zuwanderer zuzogen - so viele Bürger wie im (hessischen) Darmstadt leben. In derselben Zeit aber buchte Hessen ein Zuzugs-Plus von 110 000 - was der Bevölkerung der (nordrhein-westfälischen) Fabrikstadt Herne entspricht.
Zugleich wandelt sich Hessen, wo nach alter Volksmeinung die knauserigsten Deutschen leben, - vom Geizhals zum Großverdiener: Seit 1957 braucht das Land aus dem Finanzausgleich der Bundesländer keine Mark mehr in Anspruch zu nehmen. Hessen wurde zum Geldgeber, und bis 1965 schnellte die Summe seiner milden Gaben an arme Bundesländer von jährlich 46,3 Millionen auf 392,2 Millionen Mark. Seit drei Jahren schließlich steht Hessen mit dem Steueraufkommen pro Kopf (1965: 987 Mark, Bundesdurchschnitt: 737 Mark) unter den deutschen Flächenstaaten an erster Stelle.
So spricht manches für den Slogan »Hessen vorn«, den die sozialdemokratische Landesregierung in diesen Tagen unters Wahlvolk streut. Denn das grüne Land, mit 39,4 Prozent der Fläche waldreichstes Gebiet der Bundesrepublik, ist seit 15 Jahren unter roter Herrschaft. Und in dieser Zeit gedieh Hessen - so groß wie der fast gleichaltrige Staat Israel, bevölkert wie Groß-Paris (5,2 Millionen Einwohner), mit 268,7 Kilometer Zonengrenze - zu einem sozialdemokratischen Modellstaat.
Ihn regiert seit 1951 Georg-August Zinn, geboren 1901 In dem Frankfurter Äppelwoi-Viertel Sachsenhausen - mainisch konziliant als Regierungschef, preußisch streng in der Sache, und für den Freidemokraten Dr. Thomas Dehler »einer der wenigen im neuen Deutschland, auf die es ankommt«.
In vier Legislaturperioden bewältigte Zinn die altsozialistische Vergangenheit und beschränkte sich weise auf seine und anderer Wohlfahrt. Er zauberte das Mirakel nicht aus der Ballonmütze, er ließ es managen.
Und es gedieh still und stetig, bieder fast. Das Land blieb frei von politischen Affären, wie sie bei den rheinland-pfälzischen Nachbarn im Südwesten oder den bayrischen im Süden Usus waren. Die christdemokratische Opposition fand selten Angriffsflächen. CDU-Geschäftsführer Hans Tölle resigniert: In der öffentlichen Meinung dieses Landes gibt es keine Alternative zur SPD. Daß sie die absolute Mehrheit hat, ist eigentlich alles, was wir ihr vorwerfen können.«
Und Großindustrielle, die bei Bundeswahlen traditionell CDU wählen, in Hessen jedoch gleich beständig für Zinn stimmen, räumen ein, es sei »schwer, etwas Mieses ins Bild zu bringen«.
In dieses Bild passen:
- Westdeutschlands größter Anteil von Studierenden im Verhältnis zur Bevölkerungszahl (auf 100 000 Hessen kommen 549 Studenten; Bundesdurchschnitt: 401);
- die höchste Abiturientenquote (im Vorjahr 9,6 Prozent des Schülerjahrgangs; Bundesdurchschnitt: sieben Prozent).
Und 66,7 Prozent aller hessischen Volksschüler besuchen eine voll ausgebaute Schule. Die Stadtstaaten ausgenommen, hält das sozialdemokratische Paradeland auch hier den deutschen Rekord. Denn im CDU-regierten Rheinland-Pfalz etwa sind es lediglich 39,6 Prozent, in Bayern gar nur 31,7.
Hessen bietet die relativ meisten Studienplätze an öffentlichen oder staatlich anerkannten privaten Ingenieurschulen. Und es verabschiedete - im Mai dieses Jahres - nach heftigem Gerangel mit der Professorenschaft als erstes Bundesland ein Hochschulgesetz, das den Studenten - ein erhebliches Mitsprache- und Selbstbestimmungsrecht einräumt und die vier hessischen Hochschulen von traditionellem Ballast befreit (SPIEGEL 12/1965).
Wiesbadens Finanzminister Albert Osswald teilt die Deutschen in »Hessen« und »andere« ein. Und er ließ errechnen, was den anderen dadurch entgeht, daß sie nicht Hessen sind:
- Zwischen 1955 und 1964 war das Sozialprodukt im Jahresdurchschnitt pro Hesse um 216 Mark höher als beim Rest der Bundesbürger. Oder anders: In zehn Jahren hat das Land mit seinen durchschnittlich 4,7 Millionen Einwohnern rund zehn Milliarden Mark mehr erwirtschaftet, als im Schnitt von 4,7 Millionen Bundesbürgern erwirtschaftet wurde.
- Das Steueraufkommen lag in Hessen jährlich um 42 Mark je Einwohner höher als im Bundesdurchschnitt. Umkekehrt: In zehn Jahren hat Hessen rund zwei Milliarden Mark mehr Steuern eingenommen, als es, auf die Bevölkerungszahl umgerechnet, im Bundesdurchschnitt hätte einnehmen müssen.
- In diesem Zeitraum hat Hessen je Einwohner 25 Mark mehr investiert, als im Bundesdurchschnitt investiert wurde: Oder: In zehn Jahren hat Hessen eine Milliarde Mark mehr angelegt, als es nach seiner Einwohnerzahl im Bundesdurchschnitt hätte anlegen sollen.
Quer durch die Statistik liegt »Hessen vorn": 96 Prozent aller Landesgemeinden haben zentrale Wasserversorgung (Bundesdurchschnitt: 70 Prozent). Klassifizierte Straßen je 1000 Quadratkilometer: Hessen 738, Bundesdurchschnitt 623. Zuwachs des Sozialprodukts je Einwohner zwischen 1958 und 1965: Hessen 100,3 Prozent, Bund 84,4 Prozent. Steuerkraft der Gemeinden pro Bürger: 248 Mark in Hessen, 221 im Bund.
Aber: Hessen ist auch das meistverschuldete Land im Bund. Hessens Schulden pro Einwohner: 946 Mark, Bundesdurchschnitt: 871. Für den Finanzminister Osswald ist das allerdings nur ein Schuld-Schein: »Hessens höhere Verschuldung- ist ausschließlich durch die Stadt Frankfurt am Main verursacht, deren Schuldensumme (pro Kopf: 2240 Mark, insgesamt 1,5 Milliarden) allein fast zwei Drittel der Schuldensumme aller kreisfreien Städte bindet.«
Gleichwie: Das Füllhorn ergoß sich auf alle. Das Land verschonte den Lebensabend: Als die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege forderte, alljährlich 10 000 Plätze in Altersheimen zu schaffen (Hessen-Anteil danach: 1000), legte Wiesbaden bereits 2000 Plätze pro Jahr vor.
Und es verschonte den Knast: Hessen baute als erster Bundesstaat eine separate Strafanstalt für 18 bis 21jährige, deren Haft auf Resozialisierung und stutenweisen Strafvollzug ausgerichtet ist. Und am 1. Oktober trat die »Rechtsverordnung über den Vollzug des Jugendarrests« in Kraft, wonach Jugendliche ihren Arrest nicht mehr in Anstalten absitzen dürfen, in denen Kriminelle büßen.
Das Regiment der Zinn-Soldaten, zum größten Teil in verschnörkelten Altvillen der Kurstadt Wiesbaden untergebracht, führte den Bonnern vor, wie langfristige Gemeinschaftsaufgaben angepackt werden können: Es offerierte den Großen Hessenplan«, eine 33-Milliarden-Mark-Investitionsliste für die nächsten zehn Jahre (siehe Interview Seite 66).
Es reformierte im Innern; so etwa die Beamtenschaft durch eine »Dienstpostenbewertung«, die - auch das erstmals im Bund - den Nutzwert eines Staatsdieners nach exakten Tätigkeitsmerkmalen bemißt. Und es mischte mit in auswärtigen Angelegenheiten; so nimmt Wiesbadens Sozialminister Heinrich Hemsath für sich in Anspruch, im Bundesrat das »Sozialpaket« des einstigen Bundeskollegen Theo Blank torpediert zu haben: »Das hat ihn Haare und noch mehr Galle gekostet.«
Heute ein einig Land von Sozis, war die Heimat der blinden Hessen, wo's, wie der Volksmund sagt, nur leere Schüsseln gab und nichts zu essen, noch bei Kriegsende zweigeteilt - im Süden
Hessen-Darmstadt, das 1806 Großherzogtum und im November 1918 Volksstaat wurde; im Norden Hessen-Kassel, das spätere Kurhessen (Bismarck: »Hurhessen"), das 1866 Preußen als Provinz anheimfiel.
Was die hessischen Duodezfürsten nicht vermochten oder erst gar nicht vollbringen wollten und was in der Weimarer Republik am preußischen Widerstand scheiterte, vollzogen die amerikanischen Besatzer 1945 mit einem Federstrich: die Zusammenfassung aller hessischen Landesteile (außer Rheinhessen mit Mainz) zu einem einheitlichen Bundesstaat.
Im Norden noch von plattdeutscher Spröde belastet, im Süden schon von rheinischer Fröhlichkeit getrieben, scheint Hessen von der Natur berufen, Bindeglied zwischen den zwei Deutschlands zu beiden Seiten des Mains zu sein: Land der Mitte, Angelpunkt zwischen Nord und Süd.
Schon zur Zeitwende errichteten die Römer hier ihren Limes, um sich vor Überfällen der germanischen Chatten zu schützen, den Urvätern der heutigen Nordhessen, die unberührt von römischer Kultur in rauhen Wäldern hausten und an denen Tacitus denn auch lediglich »kraftvolle Körper, feste Gliedmaßen und furchterregende Blicke« zu rühmen wußte. Im Süden des Landes dagegen übernahmen die weniger knorrigen Franken das römische Erbe.
Das kulturelle Nord-Süd-Gefälle, das damals entstand, hielt sich fast zwei Jahrtausende. Noch heute scherzt man in der nordhessischen Hauptstadt Kassel, wie Oberbürgermeister Dr. Karl Branner (SPD) zu erzählen weiß: »Wenn eine Revolution kommt oder gar die Welt untergeht, dann ab nach Kassel: Dort passiert alles erst fünfzig Jahre später.«
Nur im Süden, wo nicht Eichen rauschten, sondern Reben reiften und wo im Rheingau seit alters her ein vielgerühmter Wein gekeltert wird, waren die Hessen stets auf der Höhe der Zeit und sogar Teilhaber am sogenannten deutschen Geniestrich, der sich - ähnlich dem türkischen Halbmond - vom Bodensee über Schwarzwald, Taunus, Thüringer Wald ins Sächsische erstreckt und traditionell hehre Geister zeugt.
Aus dem südhessischen Geisteshumus sprossen der Dichter Goethe, der sich mundartlich korrekt als »Geede« vorstellte, die Schriftsteller Grimmelshausen, Hutten, Börne und Büchner, der Philosoph Lichtenberg, der Staatsreformer Freiherr vom Stein, der Chemiker Justus von Liebig, der Rechtswissenschaftler Savigny, Telephonerfinder Philipp Reis und Neutöner Paul Hindemith.
Die Amerikaner klammerten Geniestrich und Nordmark zum Bundesland mit dem frühesten Frühling (an der Bergstraße), den meisten Mirabellenbäumen (426 000) und der gefährlichsten Autobahn (Frankfurt-Mannheim). Georg-August Zinn formte es zum »durch und durch erfolgreichen Modell deutscher Demokratie, das sich vom Bonner Modell in einigem sehr, in vielem beachtlich unterscheidet« (Professor Eugen Kogon).
Zinns Rezept: »Wir haben hier versucht, den Gedanken eines produktiven Sozialismus auf pragmatischer Grundlage zu entwickeln.« Der Jurist und zweifache Ehrendoktor, ehemalige Reichsbanner-Führer und Feldwebel des Zweiten Weltkrieges sagte schon in seiner ersten Regierungserklärung am 10. Januar 1951: »In den Köpfen mancher Kleinbürger spuken noch die Karikaturen von Sozialdemokraten aus den Witzblättern um die Jahrhundertwende. Sowenig sich Teile des Bürgertums von dieser veralteten Vorstellung lösen können, sosehr sind wir frei von Vorstellungen, Dogmen und Lehren, die nur aus ihrer Zeit heraus verständlich sind.«
Daß es ihm Ernst damit ist, bewies er zum ersten Mal, als er weitgehende Sozialisierungspläne aus den Gründerjahren des Landes zunächst bis zur Unkenntlichkeit verstümmelte und den Rest dann begrub.
1946 hatte die »Verfassungsberatende Landesversammlung« mit Dreiviertel-Mehrheit den Artikel 41 der hessischen Verfassung verabschiedet, wonach Bergbau, Eisen- und Stahlerzeugung, Energiewirtschaft und Verkehrsbetriebe in Gemeineigentum übergeführt werden sollten.
Die CDU stand damals Pate. Hesse Heinrich von Brentano, später Bundesaußenminister und ein Duz-Freund des Landesvaters Zinn, am 29. September 1946 in der Landesversammlung: »Wir sind der Überzeugung, daß die alte kapitalistische und liberalistische Wirtschaftsform sich überlebt hat und daß sie in die heutige Zeit nicht mehr paßt.«
146 Betriebe, so zählte der damalige Wirtschaftsminister Dr. Werner Hilpert (CDU) zusammen, hätten nach Erlaß der Ausführungsgesetze zum Artikel 41 unter Staatsobhut geraten müssen. Georg-August Zinn aber machte bald nach seinem Amtsantritt eine andere Rechnung auf.
Zinn subtrahierte von 146: zunächst 78 Unternehmen, die ohnehin in öffentlicher Hand waren (meist Kommunalbetriebe); zwölf Firmen, die zumindest zu 51 Prozent der öffentlichen Hand gehörten; drei weitere, die unter alliierte Entflechtungsmaßnahmen fallen sollten; noch einmal drei, die ihren Verwaltungssitz außerhalb des Landes Hessen hatten.
44 Klein- und Mittelbetriebe schirmte der Landesvater mit dem Verfassungsartikel 43 ab, der lediglich gebietet: »Selbständige Klein- und Mittelbetriebe ... sind ... zu fördern und besonders vor Überlastung und Aufsaugung zu schützen.« Es blieben noch sechs bedrohte Unternehmen.
Zinn verhandelte so lange mit den Eigentümern, bis sie ein Mehrheitspaket an Betriebe der öffentlichen Hand abgaben und somit dem staatlichen Zugriff entzogen waren. Sozialisiert wurden schließlich nur Teile der Buderus -Eisenwerke in Wetzlar.
Bis 1965. Dann lancierte der Hessen-Premier ein Gesetz, wonach Staatsbetriebe, deren »Verbleiben in Gemeineigentum wirtschaftlich nicht mehr zweckmäßig ist ... auf sonstige Vermögensträger übertragen werden« können. Ein Vermögensträger fand sich ein. Zinn verhandelte mit Franz Grabowski, dem Bevollmächtigten des Multiaktionärs Flick. Bald darauf waren die Buderus -Werke wieder völlig in privater Hand.
Seine Robustheit in politischen Händeln führt Zinn auf die Ahnen zurück: »Ich stamme aus einem alten niedersächsischen Bauerngeschlecht, das waren alle Welfen.«
Die Zuneigung des eher konservativen Ingenieurs-Sohns zum Sozialismus entwickelte sich an der Wasserkante: »Ich hatte während des Ersten Weltkrieges in Hamburg einen Lehrer, der mich in meinen Vorstellungen sehr maßgeblich beeinflußt hat, einen Dr. Adams. Da lernten wir keine Geschichtsdaten auswendig, sondern beschäftigten uns mit Athen und Sparta, den Bauernkriegen und den Stein-Hardenbergschen Reformen. Das hat mir den Weg ins politische Leben gezeigt.« Noch vor dem Abitur ging er in die SPD.
In seiner schlichten Wiesbadener Residenz, einem ehemaligen Erholungsheim für Polizeibeamte, treibt Zinn seit je Politik, als sei er Georg-August von Hessen. Als ihm die Partei nach den letzten Landtagswahlen 1962 zu sehr ins Konzept reden wollte, räumte Zinn seinen Schreibtisch in der Staatskanzlei aus und drohte heimzugehen. Die Funktionäre kuschten. Zinn: »Ich bräuche selbständige Meinungen, aber die, Entscheidungen treffe ich allein.«
Als er vor sieben Jahren den nordrhein-westfälischen Professor Dr. Ernst Schütte als Kultusminister und den früheren Maschinenschlosser Heinrich Hemsath, der aus Münster stammt,' als Sozialminister in sein Kabinett holte, gab es »in Hessen manche Herren, die sich selbst Hoffnungen gemacht hatten« (Zinn). Jedoch: »Ich wollte die beiden haben, und das habe ich durchgesetzt.«
Seine Einfälle gedeihen zuweilen -zu demonstrativen Schaustellungen, die ihm zusätzliche Publizität und seinen Mitarbeitern Mehrarbeit bescheren. Als in einer Kabinettssitzung beiläufig von den rund hundert Burgen und Schlössern im Staatsbesitz die Rede war, die allmählich zu zerbröckeln drohen, murmelte Zinn vor sich hin: »Was machen wir denn bloß damit?«
Während die Minister weiter palaverten, zog der Regierungschef an seinem Zigarillo (Marke: »Febrero") und überraschte die Runde wenige Minuten später mit dem Hinweis: »Die Amerikaner übernachten doch so gern in so was.« Zinn schlug vor, einige der Ruinen auszubauen und dem Fremdenverkehr nutzbar zu machen. Heute können Gäste bereits auf sechs hessischen Staatsburgen Ritter für eine Nacht sein.
Auch das lauteste und bunteste Spektakel des Landes, der alljährliche,"Hessentag«, ist einem Gedankenblitz Zinns entsprungen. »Das machen wir mal«, hatte Zinn erklärt, und seit 1961 findet in jeweils einer anderen hessischen Stadt ein Volksfest statt, zu dem bis zu 430 000 Besucher (1964 in Kassel) strömen; um nach dem Willen des Regierungschefs ihr Heimatbewußtsein
zu pflegen und »das Gefühl der Zusammengehörigkeit aller Hessen« zu stärken.
Tatsächlich sind Zinns Hessentage keine dörflichen Feuerwehrfeste für Volkstänzer und Trachtenträger, sondern modern organisierte Massenfestivals, bei denen zum Beispiel ein kriegsstarkes Bundesgrenzschutz-Kontingent einen rasenden Formations-Twist vollführt und die Menge zum feierlichen Abschluß Hessens Hymne »Fest im Glauben und Vertrauen« lauscht.
Längst ist der Hessentag zur Institution geworden: »Die Organisationen knüppeln sich und die Industrie steht kopf, um da 'reinzukommen«, konstatierte Zinns Pressesprecher Helmut Goebel. Und Finanzminister Osswald schließt aus Zinns Politik der Ideenstärke: »Heute gehört an die Spitze des Staates eben auch ein gewisser Managertyp.«
Die Manager-Konturen des Premiers prägen auch seine Umgebung. In der Wiesbadener Zentrale wimmelt es von jungen Leuten, die trotz des SPD-Mitgliedsbuches einer Wirtschaftsführungskraft ähnlicher sehen als den Absolventen eines Parteilehrgangs.
Wirtschaftsminister ("Dynamit«-) Rudi Arndt, selbst erst 39, läßt nur Berater unter 40 um sich sein: Sein Staatssekretär Dr. Leonhard Lutz (parteilos) war vor seiner Berufung nach Wiesbaden Spitzenmann bei Henschel in Kassel, und auch der Leiter der Arndtschen Zentralabteilung, Ministerialrat Dr. Härtl, bewährte sich bei der Frankfurter Henninger-Brauerei freiwirtschaftlich.
Minister Arndt, der den Personalbestand seines Hauses von 275 auf 240 Beschäftigte reduzierte: »Ich habe auch ein paar Sozialdemokraten hinausgeworfen. Es gibt nichts Schlimmeres als Sozialdemokraten, die unfähig sind.«
Solcher Wind weht bis in die Provinz. Denn: Mit wem immer er spricht, und wohin er immer kommt, um sich - meist bei Bier und Steinhäger - unter seine Landeskinder zu mischen, stets trägt. Regierungschef Zinn ein Notizbuch bei sich, in das er, wie einst Sepp Herberger, heimlich die Namen von jungen Leuten schreibt, die ihm angenehm auffallen.
Und mancher tüchtige Genosse aus Zinns Notizbuch sah seinen Ehrgeiz nicht mehr darin, im Schatten des Landesherrn zu werkeln. Er zog als dessen Herzog in eine der Kreisstädte und wurde Landrat: Opas Verwaltung war tot.
Zuerst gerieten die alteingesessenen Bediensteten unter Hessens Neue Welle; so im Landratsamt von Wetzlar, wo der
39 Jahre alte Dr. Werner Best das Regiment übernahm. Eines Tages sah der jugendliche Doktor bei seiner Morgenrunde durch das Landratsamt vor der Tür der Paßabteilung eine betagte Dame auf dem Flur warten. Auf die Frage des Landrats gab sie zur Auskunft, sie wolle ihren Paß abholen, doch hätten die Beamten sie beschieden zu warten. Nun stehe sie hier schon eine halbe Stunde.
Landrat Best ("Das werden wir gleich haben") marschierte in den Amtsraum, entdeckte die beiden Beamten beim Frühstück, gebot ihnen, sie sollten nur weitermachen, suchte den Paß der alten Dame heraus; unterfertigte ihn selbst und hieß einen der Paßmänner die Sachen packen.
Best-Kollege Eitel Oskar Höhne in Eschwege ("Ein Landrat muß kein Bürokrat sein, sondern Geschäftsmann, Manager und ein cleverer Junge") begann seine Amtstätigkeit im ehemaligen Landgrafenschloß der Zonengrenzstadt damit, daß er von den »elf kleinen Chefs«, die er vorfand, sechs ihrer Würde beraubte: »Wenn einer nämlich Chef ist, dann arbeitet er nicht mehr. Die habe ich zum Arbeiten gewonnen.«
Höhnes zweite Tat: Er drückte einem seiner jüngeren Beamten den Landeshaushaltsplan in die Hand, stellte den Mann von allen anderen Tätigkeiten frei und befahl: »Hier haben Sie ein dickes Buch. Schreiben Sie alles auf, was für uns da drin steckt.« Der Beamte entdeckte »'ne immense Zahl von Töpfen«.
Höhne: »Dann habe ich gefleht, gebeten, gebettelt, geheult, geschimpft, gedroht und getrommelt.« Mit dem Zinn -Kies, den er so lockermachte, baute Höhne die Kreisstraßen aus, holte Industrie heran und plant jetzt den Bau eines supermodernen Krankenhauses. Für die Hospitalküche will er den Chefkoch eines renommierten Hotels engagieren.
Zuvor jedoch richtete er eine Vorschule für künftige Krankenschwestern - die erste in Deutschland - ein, um den chronischen Schwesternmangel beizeiten zu beheben. Um das Institut so attraktiv wie möglich zu machen, kleidete Höhne die Mädchen in maßgeschneiderte, lindgrüne Kostüme, die er selbst aussuchte. Höhne: »Ich habe nämlich die Idee, daß man das Leben erfreulich gestalten muß.«
Vor zwei Jahren überredete der Eschweger Landrat den Gießener Augen-Professor Curt Cüppers, alle Schulkinder des Kreises bis zu zehn Jahren - insgesamt 3714 - auf Augenschäden zu untersuchen, um vor allem Schielern rechtzeitig helfen zu können. Die Aktion war erstmalig in Europa. Als nächstes will sich Höhne »dem Ohrenproblem zuwenden«.
Höhne hat erreicht, daß die alte FDPHochburg Eschwege heute hinter Kassel-Land und Groß-Gerau bei Wahlen die größte SPD-Mehrheit (über 60 Prozent) bekommt. Der Landrat: »Hier hat sich ein Strukturwandel auch im geistigen Bereich vollzogen. Ich hoffe, das ist moderne Sozialdemokratie.«
Von diesem Wandel zehren die Leute noch im fernen Hamburg. So schwärmte der Darmstädter Polit-Professor Eugen Kogon in Erinnerung an seine Fernseh-Zeit als »Panorama«-Moderator: »Wohin wandten sich die Redakteure und Reporter, wenn es galt, über schwierige hintergründige Zusammenhänge, die der Aufklärung bedurften, zuverlässige Auskunft zu erhalten? An die Behörden Hessens.«
Der »problem- und weltoffene Geist« (Kogon), den Georg-August Zinn seinem Hessen eingegeben hat, machte das Land zu einer Freistatt unorthodoxer und origineller Geister, die nirgendwo wie hier sich heimisch fühlten - so der Linksaußen unter Deutschlands Politologen, der Marburger Professor Wolfgang Abendroth; der feinsinnigunkonventionelle Soziologe und Philosoph Theodor Adorno; der Freiheitsfanatiker und Generalstaatsanwalt Fritz Bauer; der Unternehmerschreck und Metallarbeiter-Führer Otto Brenner und der dauernde Protestant Martin Niemöller.
In Hessen reiben sich an der Weltoffenheit nicht einmal die Kirchen, obwohl hier Gemeinschaftsschule die Regelschule ist. Als jüngst der Hessische Staatsgerichtshof einer Klage des zum linken SPD-Flügel zählenden Frankfurter Ehepaars Hoffmann stattgab und den Hoffmann-Sohn Till, 9, von der Teilnahme am morgendlichen Schulgebet befreite, versöhnte Georg-August Zinn seine Kirchen, ohne die Parteigenossen zu verprellen.
Er brachte (wie die CDU) im Landtag einen Antrag ein, wonach die christliche Gemeinschaftsschule in der Verfassung verankert werden sollte. Nachdem sich Parteien und Parteichristen darüber gründlich zerredet hatten, schlug Zinn eine einfache Landtagsentschließung vor, die angenommen wurde und alle zufriedenstellte: Die hessischen Schulen seien von christlichem Geiste erfüllt.
Zinns Hessen-Geist beflügelte den Frankfurter Intendanten Harry Buckwitz, in seinem Hause Bertolt Brecht zu inszenieren - zum Mißfallen abendländisch gestimmter Bundesprominenz; als Brechts »Galilei« auf Buckwitzens Spielplan kam und Demonstrationen angedroht wurden, erschien Zinns Kultusminister Ernst Schütte demonstrativ zur Premiere.
Und er verkraftet das Fähnlein der letzten Linken: den SPD-Bezirk Hessen -Süd, der noch immer über Wehners Reformkurs mault, auf Freundschaft mit Brenners IG Metall hält und den die »Frankfurter Allgemeine« als den »utopischen Flügel« der Partei bespöttelt.
Aber auch zu der weit weniger linken Prominenz des Geld- und Landesadels unterhält das SPD-Regime nahezu herzliche Beziehungen. In seiner mit Swimming-pool ausgestatteten roten Klinkervilla in der Wiesbadener Rosselstraße 19 empfing Zinn nicht nur den VW-Chef Nordhoff, den er überredete, ein VW -Zweigwerk bei Kassel zu errichten, sondern auch den Krupp-Hausmeier Berthold Beitz, den Chef der Farbwerke aus dem benachbarten Höchst, Professor Winnacker, und Deutschlands Reichsten, Friedrich Flick, der später urteilte: »Von allen Ministerpräsidenten, die ich kennengelernt habe, imponiert mir Herr Zinn am meisten.« Und mit Hessens größtem Grundbesitzer, dem Fürsten zu Ysenburg, der in seinen Gewächshäusern Kaffee züchtet, pflegt Zinn zuweilen im Walde zu spazieren.
Solch illustrer Bekanntenkreis kam dem Landesherrn auch bei der wesentlichsten Aufgabe zustatten, die ihm in den anderthalb Jahrzehnten seiner Regentschaft zufiel: die Einebnung des wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Gefälles zwischen Stadt und Land, zwischen Süd und Nord.
Im unterentwickelten Norden, dessen chronische Arbeitslosigkeit schon den Preußen eine ständige Sorge war, pflanzte die Landesregierung immer neue Industrien an, so das Volkswagen-Zweigwerk in Altenbauna bei Kassel und die Agrarmaschinenfabrik Massey -Ferguson in Eschwege an der Zonengrenze.
Und als die Farbwerke Hoechst ein neues Trevira-Werk nicht im heimischen Hessen, sondern fern in Bayern bauen wollten, rief Zinn unverzüglich den Farbenchef Winnacker an und intervenierte. Mit einer siebenstelligen Förderungshilfe überzeugte der Sozialdemokrat den Großindustriellen, daß es besser sei, im Lande zu bleiben. Hoechst baute das Werk in Bad Hersfeld, wo die bodenständige Textilindustrie nahe der Zonengrenze seit dem Kriege ohne ihr thüringisches Hinterland an Auszehrung litt.
Großstadt und Dorf rückte Zinn mit einem kompletten Reformprogramm aneinander. Um die auch in Hessen grassierende Massenflucht aus abgeschiedenen Weilern und aus den verödeten Zonengrenzgebieten zu stoppen und »das Leben auf dem Lande lebenswert« (Zinn) zu machen, beschloß die Wiesbadener Regierung - mit Zustimmung der CDU - die soziale Aufrüstung des Landvolks. Schwerpunkt: der Bau von Dorfgemeinschaftshäusern, die derweil neben Schule, Elternhaus und Kirche zu einem attraktiven Pol dörflichen Lebens geworden sind.
Ende dieses Jahres werden in Hessen 315 solcher Häuser (22 davon in Gemeinden mit weniger als 200 Einwohnern) in Betrieb sein - mit Gesellschaftsräumen, Turnhallen, Bibliotheken, Bastelräumen, Kindergärten, Kegelbahnen, Gefrier- und Waschanlagen und sogar Mostereien und Dorfbackhäusern.
Anfangs witterten die Kirchen sozialistischen Unrat und fürchteten, der konfessionslose Zinn wolle die Gläubigen, dem Dorfpastor entfremden. Doch bald erkannten die Gemeindehirten, daß sie ihre Schäfchen nirgends besser als im Dorfgemeinschaftshaus zusammentreiben konnten. In Dillhausen (Oberlahnkreis) ging die Initiative zum Bau eines Gemeinschaftshauses von der katholischen Kirchengemeinde aus.
Und um das flache Land, auf dem 42 Prozent aller Hessen wohnen, auch kulturell zu aktivieren, verordnete die Regierung kühne Schulpolitik. Gleichzeitig mit dem nördlichen SPD-Nachbarn Niedersachsen, aber konsequenter und großzügiger, zogen Zinns Schulmänner ein Netz von vollgegliederten Mittelpunktschulen über das Land, um den Dorfkindern die gleichen Bildungsmöglichkeiten wie ihren Alterskameraden in der Stadt zu eröffnen.
Voriges Jahr mußten noch knapp 20 Prozent der hessischen Volksschüler ein- bis dreiklassige Schulen besuchen. Im Herbst dieses Jahres waren bereits 148 Mittelpunktschulen in Betrieb, 74 in Bau, 54 in der Planung. Weitere 200 sind vorgesehen.
Zwar war die Opposition zunächst anderer Meinung. Im Landtag riefen die Bürgerlichen: »Rettet die Dorfschule!« und ließen die Sitzung auffliegen. »Heute«, so amüsiert sich Kultusminister Schütte, »wirft man uns dagegen vor, wir hätten die Mittelpunktschulen zu klein gebaut.«
Einen ähnlichen Wandel des CDUSinns konstatierte die hessische SPD, als die Regierung Zinn nicht nur die soziale, sondern auch die technische Aufrüstung des hessischen Dorfes in Angriff nahm und die Bauern bewog, sich aus Wettbewerbsgründen zu Maschinengemeinschaften zusammenzuschließen. Der Frankfurter SPD-Chef Walter Möller erinnert sich: »Die CDU hat geheult, das sei ja kommunistisch. Heute sagt sie: Mehr davon, mehr davon.«
Nicht nur die einsamen Dörfer, auch die einsamen Alten Hessens konnten Zinn und Zinseszins nicht entrinnen: Mit 208 Millionen Mark, dem Gegenwert von 35 Starfightern schuf Hessen bislang 12 000 Ruheplätze in Altenheimen, baute sieben Ferienheime sowie siebzig Altentagesstätten, damit - so Sozialminister Hemsath - »die Alten auch mal aus Ihrer Mansarde herauskommen«.
Die SPD wußte dabei hinter sich die Kirchen. Als die Regierung im erzkatholischen Landkreis Fulda ein Altenheim bauen ließ, schrieb Monsignore Plettenberg, der Generalvikar des Fuldaer Bischofs, an Hemsath: »Wir bestätigen Ihnen, daß wir Ihrer Meinung sind. Wir wünschen Ihrem Sozialplan Gottes Segen und alles Gute.« Den Segen, der ganz offenbar auf Zinns Regiment ruht, nehmen die roten Landpfleger nicht immer in Demut hin. Der sozialdemokratische Hessen-Stolz ging so weit, daß die Regierung alle Neu- und Erweiterungsbauten, die sie im Lande finanzierte, mit Bronzetafeln zieren ließ, auf denen der Name des zuständigen Ministers prangte. Und im oberhessischen Rommelhausen trieben die Genossen die »landesherrliche Selbstverewigung« (Hessens CDU) noch weiter: Den mit öffentlichen Mitteln finanzierten Bau von zwei Wohnhäusern krönten sie auf der Bautafel mit dem Vermerk: »Hier baut die SPD«.
Aller Kritik an solchen Überschwenglichkeiten begegnet Georg-August Zinn mit Gelassenheit, wie weiland der Großherzog von Darmstadt: »Mer nemme's uff uns.« Genüßlich weist Zinn darauf hin, daß - so meint er jedenfalls - Heimatgefühl und Landesstolz im rotweißen Hessen heute schon stärker ausgeprägt seien als im weißblauen Freistaat Bayern.
Ausgenommen allerdings Frankfurt, wo die Alteingesessenen, die abends im »Gemalten Haus«, beim »Schneider Dauth« am Sachsenhäuser Affentorplatz
oder im »Fetten Fritz« beim Äpfelwein hocken und das Nationalgericht Rippchen mit Kraut verzehren - beflügelt von der Philosophie des Heimatdichters Friedrich Stoltze: »Es will mer net in de Kopp enei, wie kann en Mensch net von Frankfort sei.« Sie sind noch immer stolz darauf, daß nie ein weltlicher oder geistlicher Herr in ihrer Stadt regiert hat.
Dieser Stadt-Stolz freilich gründet auch in der Gegenwart. Die »wichtigste und interessanteste Stadt mit der größten Zukunft« (Frankfurts SPD-OB Professor Brundert) hat sich durch die Gunst ihrer zentralen Lage zu einem »vitalen Zentrum des neuen freien Deutschland« (John F. Kennedy) herausgemacht: Mit 104 deutschen und 37 ausländischen Kreditinstituten trat es die Nachfolge Berlins als Finanzmetropole an, als Zentrum des deutschen Bücherhandels und des Pelzgeschäfts das Erbe Leipzigs. Es ist Deutschlands Hauptstadt der Luftfahrt und des Verbrechens: Der *Rhein-Main-Flughafen ist mit fünf Millionen Passagieren je Jahr nach London und Paris-Orly der drittgrößte in Europa; im letzten Jahr geschahen 658 Missetaten pro 10 000 Einwohner (an zweiter Stelle: Köln mit 577 Delikten).
So meinen denn auch die Ur-Einwohner, daß »Hessen bei Frankfurt« liegt, und sagen, wenn von Wiesbaden, Rüdesheim, Kassel oder Klein-Krotzenburg (bei Offenbach) die Rede ist, geringschätzig: »Dribbe im Hessischen«.
Dribbe in Bonn, so freilich freuen sich Frankfurter und Hessen gemeinsam, hat man heute die Sorgen, die sich beinahe die Main-Metropole zugezogen hätte: Mit nur 24 Stimmen unterlag Frankfurt damals dem Bonner Konkurrenten bei der Wahl der Bundeshauptstadt - und das Land muß sich nun mit dem Bundeskriminalamt, Statistischen Bundesamt und 21 weiteren Bundesbehörden zufrieden geben.
Daß die Hessen gleichwohl nicht bereit waren, sich mit der Rolle des Musterknaben aus der Provinz zu begnügen, wurde den siegreichen Bonnern bald schmerzlich klar. In drei Prozessen rückten sie - als Alleinkläger oder Vorreiter - das ins Zwielicht geratene Bonner Grundgesetz wieder zurecht: Sie stritten erfolgreich vor dem Bundesverfassungsgericht
- gegen Adenauers Vorhaben, eine regierungseigene Fernsehanstalt zu installieren (Hessen-Anwalt Dr. Adolf Arndt: »Der Fiskus ist keine Tarnkappe, mit der die Bundesregierung die wabernde Lohe der Kompetenz durchreiten kann, um die Brunhilde des Fernsehens zu erringen");
- gegen die steuerliche Abzugsfähigkeit von Parteispenden (Prozeßziel laut Zinn: das Ende der »steuerprivilegierten Finanzierung politischer Parteien auf dem Wege über anonyme Organisationen");
- gegen die Parteienfinanzierung aus Haushaltsmitteln - ein Rechtsstreit, in dem sich die Genossen Anwälte Adolf Arndt (für Hessen) und Gerhard Jahn (für Bonns SPD) als Kontrahenten gegenüberstanden (Zinn: »Wir haben den Bundesvorstand lediglich unterrichtet, und er hat keine Bedenken gehabt").
Ein weiteres Scharmützel wird in Wiesbaden in aller Stille vorbereitet: eine Normenkontrollklage gegen die Bonner Notstandsgesetze, die Zinn für verfassungswidrig hält. Der Hessen-Chef will zunächst allerdings die Verabschiedung des kompletten Gesetzeswerks abwarten; ändert der Bundestag das Grundgesetz so gründlich, daß auch die bereits gültigen Notstandsvorschriften hineinpassen, wäre eine Normenkontrolle rechtlich sinnlos.
Erneut rückt jetzt das rote Musterland in den Bonner Blickwinkel: Die Landtagswahl am kommenden Sonntag trifft Ludwig Erhard und die Christen-Union in einer schwachen Stunde. Sie ist - mehr noch als in Nordrhein-Westfalen, wo des Kanzlers immergrüner Siegerlorbeer abhanden kam - Richtspruch über das politische Desaster in der Bundeshauptstadt.
So zieht denn eine christdemokratische Kerntruppe in das Wahlgefecht gegen den roten Riesen, der Hessen seit 1962 mit absoluter Mehrheit (50,8 Prozent) beherrscht.
Sieben Tage lang reist der Bonner CDU-Fraktionschef Rainer Barzel durchs Feindesland, Innenminister Lücke wirbt in Fulda, Kai-Uwe von Hassel kämpft in Ziegenhain und Wetzlar, Außenminister Schröder spricht in Offenbach. Wissenschaftsminister Stoltenberg, Bundestagspräsident Gerstenmaier, die Minister Seebohm, Stücklen und Gradl, Ministerpräsident Lemke aus Schleswig-Holstein und Franz-Josef Strauß aus Bayern - sie kommen oder kamen, den von allen Polit-Propheten erwarteten Einbruch in die letzthin 28,8 Prozent CDU-Stimmen zu dämmen.
Auf wirkungsvollen Beistand des Partei-Fußvolks darf die Bonner Gesandtschaft dabei nicht bauen. Denn Landesvorsitzender Dr. Wilhelm Fay handelte sich schon Wochen vor der Wahl eine herbe Abstimmungsniederlage ein.
Mit einem Propaganda-Etat von (laut Fay) 700 000 Mark hatte die Hessen-CDU, zusammen mit den Freidemokraten, eine Art Vorauswahl heraufbeschworen: ein Volksbegehren über die Einführung der Briefwahl, die Hessen als einziges Bundesland seinen Stimmbürgern verwehrt. Das Kalkül der Bürgerlichen: Bei der letzten Bundestagswahl zum Beispiel stimmten von den 199 326 hessischen Briefwählern 44,9 Prozent für die CDU (FDP: 13,6), aber nur 37,4 Prozent für die SPD. Gelänge es, das System auch für die Landeswahlen zu installieren, so ließe sich - bei gleichem Wählerwillen - eine knappe absolute Mehrheit der Sozialdemokraten abwenden.
Am Tage der Volksbefragung schickte der Landeswahlleiter, Zinns Ministerialrat Adolf Gemmer, Flugblätter in alle Haushaltungen, die den Hessen klarmachten, daß es einer Briefwahl im Grunde gar nicht bedürfe. Denn rechtzeitig vor der Abstimmung hatten die Sozialdemokraten ein Gesetz verabschiedet, wonach Kranke und Bettlägrige ihr Votum an Ort und Stelle vor einem ambulanten Wahlvorstand abgeben können ("Bettenwahl"). Im übrigen darf jedermann, der am Wahltag verhindert ist, drei Wochen vorher seinen Stimmzettel abgeben.
Statt der erforderlichen 20 Prozent stimmten nur 6,9 Prozent der Wahlberechtigten für den Oppositionsplan. Fay: »Wir beugen uns der Entscheidung des hessischen Volkes.« Im Wahlkampf hält der CDU-Führer seinem Widersacher Zinn die seit langem ausstehende Verwaltungsreform vor - die gewiß überfällig ist, aber von kaum einem Wähler vermißt wird.
Hessens FDP hofft Nutzen aus der christdemokratischen Schwäche an der Bundes- und Landesfront zu ziehen. Etliche Freidemokraten glauben gar, auf einen Stimmenanteil um 15 Prozent (1962: 11,5) hinaufkatapultiert zu werden, wenn nur ausreichend vergrämte Bürgerliche von der CDU überlaufen. An zugkräftigen Regionalpolitikern mangelt es freilich auch dieser Oppositionspartei: Als jüngst die »Frankfurter Rundschau« den FDP-Landesvorsitzenden Kohl, Landrat in Frankenberg an der Eder, in einer Überschrift als FDPVorsitzenden »Koch« vorstellte, fiel das niemandem auf - kein Leser rührte sich, kein FDP-Anhänger.
Gelassen geben sich die Regierenden. Sie halten Maß mit den Wahlrednern: Nur Parteichef Willy Brandt, Herbert Wehner und der Bonner Fraktions-Vize Helmut Schmidt sind geladen.
Sie scherzen mit den politischen Gegnern: Als die FDP Plakate mit dem Spruch »20 Jahre sind genug, weckt Hessen auf mit Freien Demokraten« sowie einem Wecker mit der Zeigerstellung fünf vor zwölf anklebte, überreichte Frankfurts SPD-Stadtrat Möller dem FDP-Fraktionsvorsitzenden im Stadtparlament, Wolfgang Mischnick, einen Riesenwecker und erläuterte, Mischnicks Parteifreunde hätten wohl die Entwicklung der letzten Jahre verschlafen.
Und sie verhöhnen den Kanzler: In einer Wahlzeitschrift wird Ludwig Erhard als »Bundesgenosse« herzlich willkommen geheißen. Er werde dank seiner konfusen Bonner Geschäftsführung
die Wahl wohl gewinnen helfen (für die SPD), und man sei gern bereit, seine Reisekosten zu übernehmen.
Gleichwohl wirken die Sozialdemokraten emsig an einem neuerlichen Wahlerfolg. Wie zu Anfang des Jahres die Genossen an Rhein und Ruhr, so erscheinen jetzt die hessischen Funktionäre den Wählern leibhaftig: Etwa 500 SPD-Werber werden allein in Frankfurt an rund 100 000 Wohnungstüren ausschwärmen, die Wähler höflich zu wählen auffordern und - falls es sich so ergibt - auf die Erfolge der SPD zu sprechen kommen.
Voran lief Frankfurts OB Professor Brundert fünfzigmal treppauf, treppab, stets freundlich aufgenommen. Stadtrat Möller: »Hätte der Oberbürgermeister alle ihm angebotenen Getränke konsumiert, wäre seine Reise schon viel früher zu Ende gewesen.«
Fast neuartig wie die Wahlwerbung sind auch die Plakate der hessischen Sozialdemokraten. Sie flimmern in einer Farbe, für die Herbert Wehners Reform -Genossen seit langem blind sind: Tiefrot.
Dazu Georg-August Zinn: »Ich finde Rot nun mal besonders schön.«
Hessische Märchenfigur Frau Halle, hessischer Exportartikel Söldner, hessischer Genius Goethe: Im Land der Wälder . . . Hessen-Produkt Opel-Autos
... wuchs in 15 Jahren...
Hessen-Symbol Hesselbach*
ein roter Modellstaat
Hessen-Bewohner Grzimek, Neckermann, Abs*: Leere Schüsseln, nichts zu essen?
Hessen-Ministerpräsident Zinn
»Mer nemme's uff uns«
Hessischer Wirtschaftsminister Arndt
Dynamit im Amt
Hessischer Sozialminister Hemsath
Wind in die Provinz
Hessische Gemeinschaftshäuser: »Es ist schwer...
... etwas Mieses ins Bild zu bringen": Hessisches Altersheim, Jugendgefängnis
Gäste-Schloß Hirschhorn
Ritter für eine Nacht
Hessentag in Friedberg (1966): »Die Industrie steht kopf«
Hessische Dorfstraße
Höchste Abiturientenquote
Hessische Autobahn
Höchste Unfallziffer
Hessischer Landtag: Kraftvolle Körper, furchterregende Blicke
Chemiezentrum Höchst: Die Sozialisierung beschlossen . .
... und begraben: Lederzentrum Offenbach
Landesvater Zinn; Hessen*: »Ich finde Rot besonders schön«
* Der Frankfurter Schauspieler Wolf Schmidt mit Partnerin Liesel Christ.
* SPIEGEL-Titel 38/1960 44/1955 und 45/1965.
* Auf dem Hessentag 1964 in Kassel. In der unteren Reihe rechts: Zinn mit Kassels Oberbürgermeister Dr. Karl Branner.