Zipfelmütze für das Museum
Pieter Brueghel und Hendrick van Avercamp haben solche Bilder gemalt: holländisches Land im Winter, zerfurcht von weidenumsäumten Wassergräben, deren Eis sich schier endlos ausdehnt bis zum grauen Himmel am Horizont. Am Dorfrand laufen Kinder Schlittschuh.
Die Landschaft gibt es noch in Friesland, und auch die kleinen Städte, die sich zuweilen so puppenstubenhaft konserviert haben, als kämen sie direkt aus dem 16. Jahrhundert. Aber von der Stille, die zumal Avercamp festgehalten hat, war am Donnerstag vergangener Woche nichts zu spüren.
In Leeuwarden, der friesischen Hauptstadt, geht es schon morgens um fünf hoch her. Einen Tag nach Aschermittwoch ist dort Karneval ausgebrochen - auf dem Eis.
Ganz Holland hat auf diesen Festtag 22 Jahre lang warten müssen. So lange nämlich hat es die »Elfstedentocht« nicht mehr gegeben - ein Schlittschuh-Marathon über 199 Kilometer, das in einer großen Schleife von Leeuwarden aus durch Frieslands elf Städte führt.
Damit das Eis auf den »Sloten«, den Wassergräben zwischen den Marschwiesen, trägt, muß es 15 bis 20 Zentimeter dick sein. Dafür braucht es mindestens zwei Wochen lang ununterbrochen strengen Frost. So einen Winter gab es zum letzten Mal 1963. Zwar hatte in der Nacht zum Donnerstag Tauwetter eingesetzt, über dem dunkelglänzenden Eis lag ein dünner Wasserfilm, der die Gleitfläche schmierig machte.
Doch Rennleiter Gerrit van der Ham befand, das Eis sei »prima«. Er konnte nicht anders; denn hätte er die »Tocht« wieder abgesagt, die Menge der wartenden Schlittschuhfanatiker vor der Friesland-Halle hätte ihn wohl als Puck mißbraucht.
Als erste wurden 277 Rennläufer auf die Strecke geschickt. Nervös wie Windhunde hatten sie vor dem Start in der Friesland-Halle in einer Art Käfig ausharren müssen. Exakt um 5.30 Uhr wurden die Gitter weggezogen, und die »Wedstrijdrijders« trabten los, erst mal 1200 Meter weit ohne Schlittschuhe durch ein Spalier juchzender Zuschauer bis zum Becken des Zwettehavens.
Am meisten fürchteten sie sich vor der Dunkelheit. Das unpräparierte Natureis war ja keineswegs überall spiegelglatt. Bei Geschwindigkeiten von 30 Kilometern
in der Stunde können auch kleine Knubbel und Hindernisse zu tückischen Fallen werden.
Der Start fürs gemeine Volk - 16 000 Schlittschuh-Touristen mit Vaseline gegen die Kälte im Gesicht - währte vier Stunden lang: ein lärmendes, grandioses Durcheinander.
Sechs Stunden nach dem Start ist die Spitzengruppe nicht weit von Dokkum entfernt, der letzten Stadt vor dem Ziel in Leeuwarden. Vier Männer sind vorn, ein Bauer, ein Gärtner, ein Lehrer und ein Heizungsmonteur. Sie gleiten rasend schnell, den Oberkörper fast horizontal abgewinkelt, die Hände in der typischen Haltung der Schlittschuh-Langläufer auf dem Rücken verschränkt. Das sieht leicht und elegant aus, aber die Gesichter sind vor Anstrengung verzerrt.
Wie Radrennfahrer bei der Tour de France wechseln sich die vier alle zwei Minuten in der Führungsarbeit ab. So bleiben immer drei im Windschatten, um Kraft zu sparen.
Die Bewegungen der vier sind von perfekter Harmonie: weit ausholende, wiegende Gleitschritte. Nur ab und zu richtet sich einer auf, weil der Rücken zu schmerzen beginnt. Die Läufer essen fast ununterbrochen in dieser Schlußphase. Schokolade, Rosinen und Müslischnitten sollen dafür sorgen, daß es dem Körper nicht an Zucker mangelt.
Der Vorsprung wächst, um 12 Uhr beträgt er drei Minuten auf die erste Verfolgergruppe, in der abgeschlagen auch der hohe Favorit Dries van Wijhe mitläuft.
Wer bei der Elfstedentocht siegt, ist nicht nur Held des niederländischen Vaterlandes, dessen schartige Schlittschuhe und Zipfelmütze im »Schaatsmuseum« von Hindeloopen aufbewahrt werden und dessen Name in den Sockel des Denkmals vor der Friesland-Halle zu Leeuwarden eingemeißelt wird.
Der Gewinner kann auch so viel Geld machen, daß er, worauf Dries sich gefreut hatte, »nie mehr zu arbeiten braucht«. Die Rennleitung braucht sich deshalb nicht zu sorgen, daß diesmal etwas Ähnliches passieren könnte wie 1956 bei der elften Elfstedentocht.
Damals führten fünf Freunde aus Dokkum. Statt zu spurten, faßten sie sich auf der Zielgeraden an den Händen und liefen gemeinsam über die Linie. Dem Volke gefiel''s, aber die Rennleitung weigerte sich, sie als Sieger anzuerkennen, und rückte noch nicht einmal die goldenen und silbernen Kreuzchen heraus, die ihnen als Preis zugestanden hätten.
Diesmal hören die ersten vier einen Kilometer vor dem Ziel ganz plötzlich mit dem Führungswechsel auf. Sie richten sich auf, als wären sie ratlos, das Rennen scheint zu stocken. Es ist die Phase vor dem Sprint, die Läufer belauern sich. Denn wer den Spurt zu früh anzieht, verliert. Die beste Position ist die zweite oder dritte, bei der man aus dem Windschatten heraus blitzschnell mit rudernden Armen nach vorn schießen kann.
Jan Kooiman, der Lehrer, verliert die Nerven, er zieht den Sprint an, 400 Meter vor dem Ziel. Henri Ruitenberg, der 28 Jahre alte Heizungsmonteur, gilt als der beste Sprinter der Gruppe. Jos Niesten, ein Topläufer, der seine Helfer mit 20 Paar Ersatz-Schlittschuhen rund um die Strecke plaziert hatte, schnellt seitlich hervor - eine Idee zu spät, Ruitenberg und der vierte Mann, der jüngste, Evert van Benthem, liegen schon gleichauf vorn und sorgen mit weit schwenkenden Armen dafür, daß niemand mehr vorbeikommt.
Um zwölf Uhr, 16 Minuten und 47 Sekunden reißt van Benthem die Arme zum Siegesjubel hoch. Der Milchbauer aus St. Jansklooster, klein, schmächtig und nur 63 Kilo schwer, ist neuer Star der Elfstedentocht. Seine Zeit: sechs Stunden und 46 Minuten, das macht eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 29,2 Stundenkilometer. Bisher lag der Streckenrekord bei sieben Stunden 35.
Königin Beatrix ist zur Stelle, um ihm die Hand zu drücken und den Siegerkranz in den blaugelben Friesenfarben umzuhängen. Ihr Mann, Prinz Claus, den Niederländern ohnehin als Miesepeter bekannt, fehlt: Er mochte, in Verkennung der holländischen Seele, wegen des Schlittschuh-Spektakels nicht eine Auslandsreise abbrechen.
Vor diesem Moment überschäumender Begeisterung war Jan Sipkema, dem Vorsitzenden des Elfstedentocht-Komitees, besonders bang. 1963, beim letzten Marathon, hatte das Eis am Ziel unter dem Gewicht der Menschenmassen gefährlich zu krachen begonnen, und Ihre Majestät, Königin Juliana, die Mutter von Beatrix, mußte schleunigst ans sichere Ufer retirieren.
Aber alles hält. Van Benthem, der Überraschungssieger, der auf dem weichen, abtauenden Eis wegen seines geringen Körpergewichts einen unverhofften Vorteil hatte, stellte sich vor den Kameras des Niederländischen Fernsehens so vor: »Ich habe 40 Kühe, eine Frau und einen Sohn.«
Das Volksfest geht weiter bis spät in die Nacht hinein. In den Dörfern an der Strecke spielen Musikkapellen auf, die Zuschauer feuern die endlosen Reihen der Schlittschuhläufer mit Schlachtgesängen an, als wären sie im Fußballstadion. Manche Läufer geben eine hopsende Tanzeinlage zum Takt der Musik, animiert durch einen gelegentlichen Schluck Genever aus dem Flachmann.
Bei der Ankunft sind viele so erschöpft, daß sie auf den Knien kriechend oder auf dem Bauch die letzten Meter durchs Ziel rutschen. Andere können sich aus ihrer Eisläuferposition nur schwer aufrichten und laufen minutenlang stöhnend wie mit einem Hexenschuß herum.
Wer''s geschafft hat, wird mit dem Bus zurück in die Friesland-Halle transportiert. Dort wartet noch eine Strapaze besonderer Art: Die abgekämpften Läufer müssen sich ihre Straßenschuhe aus einem kunterbunten Haufen von vielen tausend Paaren herauswühlen.
Als sich die Dämmerung über Friesland senkt, fährt die Polizei ("ein Irrenhaus ist das hier«, flucht einer der Beamten) mit Minitreckern auf, die Anhänger ziehen. Damit sollen in der Nacht liegengebliebene und versprengte Läufer aufgelesen werden. _(Im Siegerkranz, links von der Schleife, ) _(rechts vorn Königin Beatrix. )
Im Siegerkranz, links von der Schleife, rechts vorn Königin Beatrix.