Nigeria Ziviler Handschuh
Im Namen Gottes beschworen sorgenvolle Mütter in Lagos den nach England geflohenen Gewinner der nigerianischen Präsidentschaftswahlen, Moshood Abiola.
Obwohl sie für ihn gestimmt hatten, flehten sie Abiola an, vorerst bitte im Exil auszuharren. In Lagos seien Truppen aufmarschiert, um ihn bei seiner angekündigten Heimkehr festzunehmen und unter der Jugend, die den rechtmäßig Gewählten im Triumph empfangen wollte, ein Blutbad anzurichten.
»Wenn Sie uns vor der drohenden Katastrophe retten«, gelobten die Mütter in Zeitungsanzeigen, »werden Ihnen die Lagoser für immer dankbar sein.«
Abiola blieb in London, und in Nigeria gab das verhaßte Militär am Donnerstag voriger Woche formell die Macht ab - ohne blutige Konfrontation. Dennoch kommt Afrikas volkreichster Staat nicht zur Ruhe. Denn viele der 90 Millionen Nigerianer sind überzeugt, daß der Militärherrscher Ibrahim Babangida den Übergang zum Zivilregime nur vortäuschen will.
Zwar verkündete der General endlich seinen viermal verschobenen Rücktritt als Präsident und Oberbefehlshaber. Aber anstelle des demokratisch gewählten Abiola ernannte er den Geschäftsmann Ernest Shonekan, 57, zum Regierungschef. Der Mann war Babangida schon als Vorsitzender eines völlig machtlosen Übergangsrates zu Willen gewesen.
Shonekan steht einer Interimsregierung vor, deren Entscheidungen von einem Offiziersrat gebilligt werden müssen - ein »ziviler Handschuh für die militärische Faust«, urteilte die Financial Times. Die Übergangsregierung, erklärte die Bürgerrechtsbewegung »Kampagne für Demokratie«, sei die verschleierte »Fortsetzung der Militärdiktatur«.
In Lagos blieben Büros, Banken und Geschäfte aus Protest geschlossen, Eltern schickten ihre Kinder nicht zur Schule.
Nach wie vor fürchten die Nigerianer, daß sich die politischen Spannungen in ethnischen Konflikten entladen könnten. Deshalb verließen Angehörige fremder Stämme in Scharen Lagos und das in Nigerias Südwesten liegende Yoruba-Land und reisten in ihre Herkunftsgebiete: Ibo in Richtung Osten, Haussa und Fulani in den Norden. Dort packten Zugezogene ihre Koffer.
Niemand fühlt sich sicher, der in seiner Nachbarschaft zur Minderheit gehört. Die Stimmung erinnert fatal an den Vorabend des Bürgerkriegs um die Sezessionsprovinz Biafra, in dem zwischen 1967 und 1970 über eine Million Menschen umgekommen waren.
Nun könnte sich die Geschichte des Landes wiederholen, das mit einem »Überfluß an talentierten Menschen und Naturreichtümern« gesegnet, aber mit einer »korrupten Führung« geschlagen ist (so der einheimische Dichter Chinua Achebe).
In den 33 Jahren Unabhängigkeit erlebte Nigeria fünf Militärcoups und vier Putschversuche. Nur neun Jahre regierten Zivilisten das Riesenreich mit seinen 250 Stammesgruppen.
Nigerias Konflikte entsprangen immer Machtkämpfen zwischen den Haussa/Fulani im Norden (wo die Mehrheit der Bevölkerung lebt) und den Yoruba und Ibo im Süden (wo dank der Ölfunde der größte Teil des Bruttosozialprodukts erwirtschaftet wird). Die Wähler stimmten stets für Parteien, die ihre eigene ethnische Gruppe vertraten.
Um das zu verhindern, hatte der aus dem Norden stammende Babangida bei den Präsidentschaftswahlen am 12. Juni nur zwei Parteien zugelassen: die konservative National Republican Convention (NRC) und die gemäßigt linke Social Democratic Party (SDP).
SDP-Kandidat Abiola, 56, ein moslemischer Yoruba aus dem Süden, gewann über 58 Prozent der Stimmen und siegte in 20 von Nigerias 30 Bundesstaaten, darunter sogar in Kaduna, dem Heimatstaat seines aus dem Norden kommenden Gegners Bashir Tofa, 45. Zum erstenmal hatte sich in freien Wahlen ein nigerianischer Politiker landesweit durchgesetzt.
Doch der Militärclique um Babangida paßte der Sieger nicht, der General erklärte die Wahlen für ungültig, weil es angeblich doch Unregelmäßigkeiten gegeben habe. Mit seinem Coup stürzte Babangida Nigeria in die schwerste Krise seit dem Biafra-Krieg.
Die Militärregierung setzte gegen Demonstranten in Lagos und im Südwesten Truppen ein. Sie verbot Zeitungen und verhaftete die Führer einer Bürgerrechtsbewegung, die sich rasch ausbreitete.
Trickreich will Babangida nun Zeit gewinnen und den anschwellenden Protest entschärfen. Mit Shonekan wählte er als Nachfolger keinen Nordnigerianer, sondern einen Stammesbruder Abiolas aus dem Süden. Doch die Nigerianer verlangen einen legitimen Führer und nicht einen Statthalter der Generäle.
Abiola nennt Shonekan einen »Verräter« und schmäht die Übergangsregierung: »Wie immer man das Tier zurechtputzt, es bleibt ein Bastard.«
Babangida hat dafür gesorgt, daß die neue Regierung vom Militär abhängig bleibt: Als eine seiner letzten Amtshandlungen beschloß der General, die Benzinpreise drastisch anzuheben - eine wirtschaftlich notwendige, aber höchst unpopuläre Maßnahme, die Babangida in seiner achtjährigen Regierungszeit nie gewagt hatte.
Wenn die Preiserhöhung Unruhen auslöst, haben die Militärs jedenfalls wieder einen Vorwand zur Intervention. Y
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