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ZU ONKEL RICHARD KONNTE JEDER KOMMEN

Von Gerhard Mauz
aus DER SPIEGEL 44/1965

Diskret bemüht sich der Präsident des III. Strafsenats am Bundesgerichtshof in Karlsruhe, Eberhard Rotberg, 62, dem Angeklagten über die ersten Minuten zu helfen. Er wertet es als »ein Zeichen für große geistige Beweglichkeit«, daß Werner Pätsch, 39, nachdem er am 15. Oktober 1963 aus dem Bundesamt für Verfassungsschutz, Köln, ausschied, den Beruf eines Programmierers erlernte.

Die Ermutigung ist am Platz. Denn Bundesanwalt Wagner und Oberstaatsanwalt Schmatloch als Vertreter der Anklage tragen vor: Pätsch, zur Geheimhaltung verpflichtet, soll gegen die Paragraphen 99 Absatz 1, 100 c Absatz 1 und 353 b des Strafgesetzbuches verstoßen haben, indem er Staats- und Amtsgeheimnisse preisgab.

Der Angeklagte selbst zur Sache: Im November 1956 trat er in das Amt ein. Zeitweilig war er Sachbearbeiter (gelegentlich auch Fallführer genannt) in der Abteilung IV, Spionage-Abwehr. Und- zwar in jener Sektion, der die Beschaffung von Material oblag. Präsident Rotberg: » Sie waren also ein operativ tätiger Verwaltungsangestellter.«

Von 1960 an spürte der operative Pätsch zunehmend gewisse Trübungen der Kooperation am Arbeitsplatz, die ihm »ein gewisses Unbehagen« bereiteten. Der Ton einiger Kollegen, deren Karriere bereits den Gipfel des Reichssicherheitshauptamtes weiland erklommen hatte, mißfiel ihm. »Wir hatten einen, der sich damit brüstete, an sechzig Todesurteilen Anteil gehabt zu haben.« Es sagte Pätsch nicht zu, daß ausgerechnet jenen erfolgsgewohnten- Männern die Fälle zugeschustert wurden, die eindrucksvolle Erfolge versprachen.

Zu den Gründen, »die Ihr Wohlbefinden im Amt beeinträchtigt haben« (Rotberg) zählte auch eine Technik der Materialgewinnung, die ordinär Telephonabhören und Postöffnen genannt wird. Präsident Rotberg, ein Paderewski im Umschreiben, spricht vom »Abschöpfen von Nachrichten, die von Personen ausgetauscht worden sind«. Pätsch schien es verfassungswidrig, derart am Leben der Mitmenschen teilzunehmen.

Doch dämpfte ihn fürs erste die Erläuterung, dies sei zwar das Geheimste im Amt, eigentlich dürfe man es nicht; aber man dürfe es wiederum doch.

Als ein später als Agent verurteilter Mann, der Fühlung mit einer Schwester von Pätsch verloren hatte, diesen ansteuerte auf der Suche nach der Anschrift, schöpfte Pätsch sogleich Verdacht und machte dem Amt Mitteilung. In der Folge meinte er, seinem korrekten Verhalten zum Trotz, man traue ihm nicht mehr. Zwar stellte das Amt dem Pätsch, als dieser seine zweite Ehescheidung hinter sich gebracht hatte, eine Wohnung zur Verfügung; die »hatte auch dienstliche Zwecke, weil sie sich in der Nähe eines 'Objekts' befand«.

Doch vor allem, vermutete Pätsch, wies man ihm die Wohnung zu, um ihn besser überwachen zu können. Er fühlte sich »massiv observiert«. Ein Gefühl, das für einen Verfassungsschützer fraglos besonders penibel ist, weiß er doch, was alles einem Schatten folgen kann. Pätsch nahm bald das wahr, was der schlichte Bürger meist nur in einschlägiger Literatur kennenlernt: Telephonknacken, Surren des Magnetbandes, verspätetes Eintreffen von Post, Begegnungen mit verlegenen Kollegen von der »Obs(ervation)-Gruppe« und so fort.

Vertrauenserklärungen konnten seine einmal aufgereizte Sensibilität nicht beruhigen. Auch war ja sein Vertrauen zum unmittelbaren Vorgesetzten schmal, da gerade dieser eine glorreiche Vergangenheit besaß. Präsident Rotberg klopft Pätschs Empfindlichkeit nach paranoischen Zügen ab; schließlich bestreitet das Amt bis heute entschieden, ein mißtrauisches Auge auf seinen Mitarbeiter geworfen zu haben.

Doch ganz geheuer ist's dem Präsidenten auch nicht: »Mitglieder der Observationsgruppe haben eingeräumt, daß sie Ihnen - zufällig - da oder dort begegnet sind.« Und gedankenvoll fügt er hinzu: »In der großen Stadt Köln ...«

Am 9. November 1962 erklärte der Bundesinnenminister im Bundestag, es werde nicht abgehört. Pätschs »gewisses Unbehagen« steuerte damals der Krise entgegen. Lügt der Minister, fragte sich Patsch - oder weiß er etwa nicht, was die ehemaligen SS-Leute in unserem Amt. »die sich ja nie um Recht und Gesetz gekümmert haben«, treiben. Kurz vor Ostern 1963 verdichtete sich Pätschs Abneigung dagegen, die Lüge eines deutschen Ministers für möglich zu halten, zu einem Brief an den Rechtsanwalt Josef Augstein in Hannover. Die Flucht des Pätsch in die Öffentlichkeit hatte begonnen.

Schon am zweiten Verhandlungstag tritt der erste der geheimnisvollen Ehemaligen in den Zeugenstand: Erich Otto Wenger, Regierungsrat, ehemals Gruppenleiter in der Abteilung Spionage-Abwehr, inzwischen »abgeordnet« zum Bundesluftschutzverband. Er war jener Vorgesetzter, dem Pätsch am stärksten die Ruinierung des Betriebsklimas anlastet. Zeuge Wenger sagt nur Gutes über Pätsch. Er ist ein großer schwerer Mann, mit viel Kinn. Und er hat alles »beigebogen«, wenn seine Mitarbeiter in der Klemme waren.

Pätsch sei nie observiert worden vom Amt, nie habe er sich, da wird der Zeuge dringlicher, über die Beschaffungsmethoden beschwert, auch war er dem Zeugen ja schon »als mimosenhaft avisiert worden«.

Präsident Rotberg: »Sie wären sehr laut, sehr deutlich, sehr energisch geworden?« Der Zeuge, treuherzig: »Da können Sie meine Sekretärin fragen ... Wenn ich einmal laut geworden bin, dann gab es dafür auch einen Grund.« Präsident Rotberg beharrt, ob der Zeuge nicht einer von denen sei, »die schon bei relativ mittleren Anlässen an die Decke gehen?« Nein, nein. Nur hat es eben sehr oft ernste Gründe gegeben. Denn so tüchtig wie die alten, erfahrenen Mitarbeiter waren die jungen Leute in der Gruppe natürlich nicht.

Von diesen erfahrenen Männern, die sich unter Hitler Erfahrungen erwarben, hat der Zeuge übrigens keinen ins Amt geholt, keinen »von dieser Sorte«, sagt er. Er selbst war SS-Hauptsturmführer im Amt IV (Gestapo) des Reichssicherheitshauptamtes.

Während Verteidiger von Winterfeld noch um einen Punkt ringt, der vielleicht doch öffentlich erörtert werden könnte, wiederholt sich, was schon am ersten Verhandlungstag geschah: Ausschluß der Öffentlichkeit aus Gründen der Geheimhaltung.

In den Abgang der Öffentlichkeit hinein spricht Präsident Rotberg von »Katz und-Maus-Spiel«, das hier getrieben werde.

Nachmittags wird Hubert Schrübbers, 57, gehört, Präsident des Amtes für Verfassungsschutz seit 1955, in schwarzem Anzug, beladen mit einer gewaltigen Aktentasche.

Auch dieser Zeuge rühmt die Tüchtigkeit der SS-Leute im Amt. Lange sind sie nur als freie Mitarbeiter beschäftigt worden, »weil man - die Tatsache der Belastung doch immerhin zu respektieren hatte«. Dann wurden sie auf Wunsch des Innenministeriums fest angestellt. Daß die Alliierten damit nicht einverstanden waren, kann sich der Zeuge nicht denken.

Immerhin wurden die Ehemaligen auch zu den obligatorischen Cocktailpartys eingeladen. In der Abteilung Pätschs waren es sechs, deren »Leben und Taten als offenes Buch dalagen«, die zwar belastet waren, aber ohne Schuld. Inzwischen hat man sie »umgesetzt« oder pensioniert. Der »optischen Bereinigung« halber.

Der Verteidiger macht Vorhalte, Uneinigkeit bricht aus, ob es nicht wieder mal soweit sei. Das Gericht berät, nein, noch ist es nicht soweit. Der Spruch von Katz und Maus ist Präsident Rotberg nicht bekommen. Er bringt aus der Beratung auch eine Erklärung mit: Er habe nur den Versuch des Verteidigers gemeint, einen Punkt in der öffentlichen Sitzung abzuhandeln, den die Bundesanwaltschaft für geheimnisträchtig hielt. Ein mutiges Dementi. Doch eine Minute später merkt Präsident Rotberg an: »Ich darf ja jetzt nicht mehr sagen.« Und so lacht denn alles über seine Katz-und -Maus-»Überleitung von der öffentlichen in die nichtöffentliche Sitzung« in Gestalt »einer etwas lockeren Bemerkung«.

Am nächsten Tag, Mittwoch letzter Woche, Auftritt von Richard Gerken, 65, Regierungsdirektor »in Ruhe«, ehemals Leiter der Abteilung Spionageabwehr und Geheimdienst-Schriftsteller. Er stellt sich mit hochgezogener linker Schulter. Pätsch war ein Durchschnittsbeamter, kein »Springer«. Der Zeuge spricht von der »überragenden Qualität der Alten«. »Diese Leute waren Könner«. Die »jungen Anfänger« verstanden das Geschäft halt noch nicht. »Und deshalb kriegten sie keine Erfolge.« Präsident Rotberg: »Gab es denn nur Könner, die früher bei der SS gewesen sind?« Der Zeuge räumt ein: »Ach nein, es gab da Leute, die sich sehr bald bewährt haben ...«

Was den Herrn Wenger angeht: »Er war der Tüchtigste, er kannte keinen Sonntag, er kannte keinen Sonnabend. Er war kein Politiker, er war nichts als ein pflichtgetreuer Beamter. Es mag sein, daß er eine rauhe Schale hatte, aber er hatte ein ganz butterweiches Herz.«

Nie hat sich jemand über Gruppenleiter Wenger beschwert. Die »besseren Leute«, also die »Alten«, hatten ganz einfach die größeren Erfolge - und das erregte Neid.

Als die »Alten« noch da waren, da hat man tolle Resultate erzielt. Zahlen, »die absolut einmalig sind. Die gibt es in der ganzen Welt nicht noch einmal«. Heute - »da sehen Sie, was uns angetan worden ist« - werden gerade noch 50 Prozent vollbracht. Wahrhaftig, die Lage war noch nie so ernst. Und als der Verteidiger noch einmal insistiert, wie es denn mit dem Ton gewesen sei, da bricht der Zeuge vollends aus; stünde er nicht hier, er würde sich das Hemd aufreißen: »Herr Rechtsanwalt Sie haben gehört, ich bin Onkel Richard, zu mir konnte jeder kommen!«

Am Nachmittag ist der ehemalige Vizepräsident des Amtes, Radke, 65, dran, der 1964 auf eigenen Wunsch ausschied. Auch er sagt: Nie wurde Pätsch überwacht. »Zumindest hätte dann die Amtsleitung informiert werden müssen.« Die Telephonüberwachung durch die Alliierten? Sie wurde von denen stets nur vorgenommen, wenn sie ihre Sicherheitsinteressen im Spiel sahen: »Wir haben gar nicht gesehen, daß diese Dinge uns überhaupt berührten.« Und auch bei ihm erkundigt sich Präsident Rotberg nach »einer Reihe von älteren Mitarbeitern ... die noch aus der NS -Zeit die Eierschalen an sich hatten ...«

Der Zeuge bringt eine neue Variante: Entscheidenden Einfluß »auf die Einstellung der NS-Leute hatte (der erste Verfassungsschutzchef Otto) John«.

Später kommen drei Zeugen, von denen niemand etwas erwartet. Ihre Personalien werden unter Ausschluß der Öffentlichkeit genannt. Ihre Aussagen darf man hören. Spricht nicht Präsident Schrübbers vom »guten Ton« gerade in der Spionageabwehr unter Gerken und Wenger? Zeuge X bestätigt, daß sich Pätsch verfolgt gefühlt hat, daß er unter Wenger litt.

»Herr Wenger pflegte auch Herrn Pätsch wiederholt in die Stiefel zu stellen.« -Präsident Rotberg: »War das furchteinflößend?« »Das kann man sagen.« Bevorzugung der »Alten«? »Wir wären auch pensioniert immer noch Nachwuchskräfte geblieben.«

Irgendwann, »im richtigen Moment« spätestens, wurden die erfolgversprechenden Fälle »einem Mann gegeben, der Herrn, Wenger näher war«. Denn- »Damit konnte man dokumentieren, daß die Alten die Besten waren.« Heute, nachdem Wolke Wenger zum Bundesluftschutz abgezogen ist, fragt sich der Zeuge: »Warum habe ich, warum haben wir uns so etwas bieten lassen?«

Zeuge Y, Zeuge Z: Sie sagen genauso aus. Nun ist man ja mißtrauisch, wer weiß, warum sollen sich die Jungen nicht ähnlich einig sein wie die Alten? Aber da stehen zum erstenmal drei Männer vom Verfassungsschutz im Saal, die herzliche Gefühle für das Amt wekken. Nicht etwa weil sie Pätsch entlasten, sondern weil sie so ruhig, so sorgfältig und so mutig aussagen.

Angeklagter Pätsch, Verteidiger von Winterfeld: »In der großen Stadt Köln«

Verfassungsschützer Schrübbers*

Ein offenes Buch über Leben und Taten

Gerichtspräsident Rotberg

Ein Spiel von Katz und Maus

* SPIEGEL-Titel 38/1963.

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