Zu Tode informiert
Eine neue Technik hat ihre strahlende Hoffnungsseite und ihre Schattenseite, weil es immer so ist. Sollte aber das so schön und immer lauter besungene Internet ausschließlich die menschenfreundliche Seite mitbringen?
Als Herr Benz ein großes Dreirad zusammenschraubte, einen Verbrennungsmotor von einer Pferdestärke einbaute und sich auf die Reise begab, vermochte niemand vorauszuahnen, daß das Auto kaum hundert Jahre später zur Bedrohung der irdischen Atmosphäre würde. Und wenn ich auch ein bißchen den Teufel an die Wand zu malen anfange: Eine Vorwarnung vor dem Neuen scheint mir gerecht zu sein.
Was wir vom Internet schon haben und was dieses Kommunikationsmittel uns verspricht, darüber wird sehr viel geschrieben und gesprochen. Sollte es tatsächlich eine von unheilbringenden Havarien befreite Abart der Technologie sein? Das muß ich bezweifeln.
Zum ersten, um piano anzufangen, können die Thai, die Japaner, Araber, selbst jene Slawen, die das kyrillische Alphabet benutzen, mit dem »globalen Netz« wenig anfangen. Denn das Internet wird mit lateinischem Alphabet und in englischer Sprache bedient. So wird die Menschheit erneut gespalten: in eine »bessere«, englisch sprechende, und eine »schlimmere«, dieser Sprache ohnmächtige Hälfte (wären es nur zwei Hälften); in der realen Welt scheint mir ein neuer, ein informativer Turm von Babel zu wachsen. Aber gut.
Zweitens, als stark simplifiziertes Modell des globalen Netzes können wir uns einen großen Rangierbahnhof vorstellen. Eine Unmenge Gleise, Drehscheiben, Weichen und eine Menge fahrender Züge. Die Waggons werden kaum mit Kraut, Stroh und Rüben allein beladen, sondern mit Rohstoffen, Waren und so weiter: Dem Netz ist es vollkommen gleichgültig, ob es rasante Berichte über eine Kollision der Erde mit einem Meteoriten weiterleitet oder über das faule Ei im Omelett einer Dame. Kurz: Dem Netz, das nicht versteht, was für Informationen es weiterbringt, ist alles egal.
Dadurch, zum dritten, öffnet das Netz seine Tore einem jeden, der betrügen, Unheil bringen, Daten stehlen und Geheimnisse aushorchen will. Natürlich werden sich viele »Internisten« bemühen, den informativen Müll oder Betrug abzufangen: So beginnt der Wettkampf des Guten mit dem Bösen, seit Jahrtausenden; also nichts Neues. Solange keine mit künstlicher Fachintelligenz begabten Computer den Müll sortieren, den Betrug entlarven, wird dieser Wettkampf direkt zwischen den Menschen weitergeführt. Internet ist nur eine verbesserte Variante der Fax- und Telefonverbindungen, weil es im Prinzip von niemandem unter Kontrolle gehalten, vollkommen offen für alle Benutzer sein soll. Es werden sich aber mit der Zeit notwendigerweise geschlossene Netzkreisläufe bilden: zwischen wissenschaftlichen Zentren, Redaktionen, Banken, Börsen, kurz gesagt, spezialisierte Institutionen. Das Netz kann gar nicht ganz offen bleiben, weil den Herren im Pentagon wenig daran liegen wird, daß die »Internetzer« vom russischen Dienst versuchen, ihre Geheimnisse zu entschlüsseln (und umgekehrt).
Nur unter Engeln gäbe es keine Informationskämpfe und Kriege.
Viertens soll es noch »chatten« geben, das Geschwätz und wertlose Gerede, woraus etwa vier Fünftel der menschlichen Kommunikation bestehen. Die umwerfende Wahrheit soll also dadurch enthüllt werden, daß es mehr Dummheit und Platitüde auf Erden als Vernunft und Erfindungsgabe gibt. Vielleicht ist das keine neue Offenbarung, aber das Internet wird sie zur höchsten Potenz bringen, wenn es die Globuskugel umflechten wird. Was wir heute den Bekannten beim Frühstück über Kaffeetassen auf demselben Tisch sagen, wird man Fremden über Ozeane und Berge mitteilen können, vorausgesetzt, man kennt deren Internet-Adressen.
So sind wir zu den Adressen gekommen, die eigentlich geheim bleiben sollten. Von Chiffren, Codes und anderen »Firewalls«, welche die Sicherheit der Information garantieren, haben wir tausendmal gehört. Soweit mir bekannt ist, darf ein Code, damit man ihn nicht brechen kann, nur ein einziges Mal benutzt werden. Seine Internet-Adressen kann man zwar ändern, aber der Hacker im Netz, der begabte Junge, der Dieb, Betrüger, Fälscher wird auch nicht ruhen.
Hinzu kommen noch modernere Netz-Wegelagerer und Raubritter der Mafia, des Terrorismus, der Erpressung und last but not least einfache Witzbolde. Sie werden sich als »Impostors« falsch vorstellen, gestohlene Adressen benutzen - nicht unbedingt, um etwas Konkretes zu stehlen oder zu schädigen, sondern weil es ihnen Spaß machen wird. Ist es nicht nett, jemanden im Internet auszutricksen? Es ist ungefährlich - nullum crimen sine lege; es ist ein anonymes Vergnügen, und es taugt immer als Beweis, daß man selbst die modernste Technik unterwandern kann.
Nachdem man diese Schwächen des Riesen kurz angesprochen hat, der über Kontinente und Ozeane hinweg alles übermittelt, aber nichts versteht, kommt etwas Unschuldigeres zur Rede. Ich denke dabei an die Politik.
Bekanntlich ist das Hochspannungsfeld Ost-West kollabiert; es hat sich in die Masse der rassistischen, religiösen, ideologischen Konflikte zerstreut, in jenes Trümmerfeld verwandelt, auf welchem wir wie in Ruinen leben. Man muß ja nicht so was Unsinniges behaupten wie Mr. Fukuyama, der uns das Ende der Historie prophezeit hat, um zu begreifen, daß das Internet keine Himmelspforte allem Irdischen eröffnet und direkt in paradiesischen Frieden führt.
Darüber genau zu berichten, welche neuen Strategien und Taktiken die Experten den Staatsherren zuflüstern werden, das käme etwa der Anweisung gleich, sämtliche Banknotenfälscher aufs genaueste darüber zu belehren, was sie sich beschaffen müssen, um neu auf den Markt geworfene Währungszeichen nachzumachen. Kurz gesagt: wie man auf neuere Art schwindeln kann, nachdem Farbkopierer in jedem Laden jedem verkauft werden. Einiges sollte man noch immer verschweigen.
Die Menschheit hat bis jetzt 1015 Bits an Information gespeichert. Bis zum Jahr 2000 wird sich die Menge etwa verdoppeln. Dabei gilt für die Info-Sintflut folgendes: Etwa drei Fünftel sind Unsinn und »vermischter Unsinn«, den ich »Trübkunde« nenne; ein Fünftel ist zwar sinnvoll, aber vergängliche Info, und kaum ein Fünftel besteht aus ernsten Denkfrüchten. Dieses vorhandene Gemisch wird das Internet noch verwässern, Wichtiges weiter mit Unwichtigem vermischen. Dabei ist zu bemerken, daß der Homo sapiens von heute über dasselbe »Durchlaß«- und Infoverkraftungsvermögen verfügt wie der Homo primi genii und oder der Homo neanderthalensis vor 70 000 Jahren.
Neil Postman hat vor Jahren bemerkt: Wir schwimmen im komplexen Trend der Unterhaltungsindustrie, die alles zur Unterhaltung macht. »Wir amüsieren uns zu Tode« war sein Buch auch betitelt. Eine kleine Übertreibung vielleicht: Im 21. Jahrhundert könnten wir uns zu Tode informieren, und den Hauptverstärker haben wir bereits im Internet entdeckt. Es ist Mamas Liebling für das große Kapital.
Sogar die Forschungsanstalten werden in der Flut versinken, weil sie nicht nur Information, sondern auch deren Selektion brauchen, um weiter auf diesem Planeten zu agieren. Bekanntlich ist Technologie das Zugpferd des Fortschritts, und der Fortschritt ist zugleich eines der Pferde, auf welchen die Todesreiter sich fortbewegen. Das Internet bietet weder einen Wegweiser zur Hölle noch die »endgültige Lösung« unserer Probleme. Das Neugeborene, welches noch in Windeln steckt, wird uns höchstwahrscheinlich nicht erwürgen. Es wäre aber klüger, diesen Sprößling, während er aufwächst, an der Kandare zu halten und mißtrauisch zu beobachten, sonst kann er uns recht peinlich gedeihen. Aber da ich hier bereits vom 21. Jahrhundert rede, muß ich verstummen. _(Lem, 74, hat sich Weltruhm erworben ) _(mit düsteren Sciencefiction-Romanen ) _(("Der futurologische Kongreß"). Der ) _(Schriftsteller lebt in Krakau. )
Schriftsteller Lem
C. NIEDENTHAL
Lem, 74, hat sich Weltruhm erworben mit düsterenSciencefiction-Romanen ("Der futurologische Kongreß"). DerSchriftsteller lebt in Krakau.