Zuchtrute der Nation
Englands Labour-Regierung wird sehr bald erreicht haben, was nach alter Kapitalistenweisheit wie kein anderes Mittel den Fleiß der Arbeitnehmer fördert: eine halbe Million Arbeitslose.
Von 280 000 im Monat Juli ist die industrielle Reservearmee Großbritanniens bereits auf 340 000 im August angewachsen. Der konservative Wirtschaftsexperte Sir Cyril Osborne erklärte, bis Jahresende könne die Zahl der Arbeitslosen sogar auf eine Million anwachsen.
Die Entlassungen sind die Folge von Restriktionsmaßnahmen, mit denen Schatzkanzler Callaghan Englands chronisches Zahlungsbilanzdefizit bekämpfen will. Noch immer verbrauchen die Briten zu viel und produzieren - insbesondere für den Export - zu wenig. Ihre Währungsreserven schrumpften deshalb von fast elf Milliarden Mark Wert (im Frühjahr 1964) auf 9,3 Milliarden Mark (Anfang 1965).
Durch eine Kreditverteuerung für die Wirtschaft und den Wohnungsbau, Einschränkung öffentlicher Bauvorhaben und Verkürzung etwa der Abzahlungsfristen im Ratengeschäft von 36 auf 20 Monate soll der Inlandsverbrauch eingedämmt und dafür die Exportproduktion angekurbelt werden.
Callaghans Maßnahmen (SPIEGEL 16/1965), die er im Frühjahr verkündet hatte, beginnen jetzt sich auszuwirken. Allein die Verteuerung von Hypothekenkrediten hat zum Beispiel den Wohnungsbau gedrosselt und dadurch auch die Nachfrage nach Stahl, Baustoffen und Einrichtungsgütern gebremst.
Callaghans Erschwerung der Ratenkäufe wiederum ließ die Automobilproduktion während der ersten sechs Monate dieses Jahres um 72 000 absacken. Mangels Absatz lassen die Ford -Werke ihre 10 000 Arbeiter nur noch vier Tage in der Woche arbeiten. Im Werk Halewood stehen die Montagebänder sogar bis zum 7. September still. Produktionsausfall: pro Monat 7000 Autos.
Andere Branchen zogen gleichfalls die Hörner ein. Da im vergangenen Halbjahr um 13 Prozent weniger Waschmaschinen losgeschlagen werden konnten, setzte auch der Hoover-Konzern 4000 Mann auf Kurzarbeit. Die Radio-Firma Pye schloß ihr Werk im nordirischen Städtchen Larne; die 800 Arbeiter reihten sich in die Schlange vor dem Arbeitsamt ein.
Das Lamento der Gewerkschaften, ausgerechnet eine sozialistische Regierung gefährde die Vollbeschäftigung, blieb im Kabinett Wilson bislang ohne Wirkung. Schatzkanzler Callaghan und Wirtschaftsminister Brown verweisen darauf, daß Englands Zahlungsbilanz auch im ersten Halbjahr 1965 noch 206 Millionen Pfund Verlust aufwies. Sie sind entschlossen, die Arbeitslosigkeit als Zuchtrute der Nation so lange anzuwenden, bis England mit der Tradition des Schlendrians und mangelnder Produktivität gebrochen hat.
Premierminister Wilson mahnte die Nation, viele selbstgefällige Fabrikanten müßten künftig im Exportgeschäft schneller mit »dem Hintern hochkommen«. Ebenso aber könne es nicht länger geduldet werden, daß Arbeitnehmer durch »miserable Arbeitsleistungen und sporadische Streiks« der Wirtschaft schweren Schaden zufügten.
Mit amtlichen Untersuchungen kühlt die Regierung den Zorn der Arbeitnehmervertreter ab. Ein neuer Bericht über die Hafenarbeiter in den Docks von Liverpool und Glasgow zum Beispiel zeigte, daß fast die Hälfte der bezahlten Arbeitszeit durch Schwatz und Herumlungern überbrückt wird. Und während beispielsweise in Rotterdam 16 000 Dockarbeiter in zwei Schichten jährlich 146 Millionen Tonnen Güter umschlugen, gingen durch die Hände der 25 000 Londoner Schauerleute nur 64 Millionen Tonnen. Schichtarbeit lehnten die Insel -Docker ebenso ab wie jegliche Verkürzung ihrer zahlreichen Teepausen.
Heilsamen Einfluß der Arbeitslosigkeit erhofft sich die Labour-Regierung auch auf die Streiklust der britischen Arbeitnehmer. Bislang genügte der kleinste Anlaß, um Werke stillzulegen.
Auf den Lagerplätzen des Ford-Werkes Halewood beispielsweise stauen sich 8000 fabrikneue Fahrzeuge, weil die Auslieferungsfahrer wegen Frank Murray die Arbeit niederlegten. Die Firma hatte Murray entlassen, nachdem er wegen rücksichtslosen Fahrens verurteilt worden war. Seine Kollegen verlangten, daß er wieder eingestellt wird.
20 000 Arbeiter der British Motor Corporation streikten, weil-der Schweißer Terry Williams seinen Job verlor. Williams hatte eine Anordnung des Vorarbeiters Evan Morgan nicht befolgt. Die Produktion der Typen Austin, Morris und MG 1100 kam zum Stillstand.
Ein anderes Automobilwerk mußte die Arbeit einstellen, weil 86 Türpolierer streikten. Grund: Zwei Arbeitern war aufgetragen worden, einige Beulen aus den Türen zu entfernen.
Wilson und seine Fachminister sind entschlossen, die von ihnen künstlich geschaffene Rezession und auch das Anwachsen der Arbeitslosenquote bis an die innenpolitisch vertretbare Grenze andauern zu lassen, damit sich die altmodische Inselwirtschaft gesundschrumpft.
Das Nationalinstitut für Wirtschafts- und Sozialforschung prophezeit; daß Großbritannien damit eine harte Zeit bevorsteht. Wenn eine Abwertung des Pfundes vermieden und die Währungskredite pünktlich zurückgezahlt werden sollen, dann müsse die britische Wirtschaft »bis Ende 1966 völlig stagnieren« und danach bis 1970 »in einem Zustand halber Stagnation verharren«.
Daily Mail
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