Zugang für alle
Dem Grundgedanken der Überlegungen des Wissenschaftsrates ist zuzustimmen. Der Vorschlag, dreijährige Studiengänge einzurichten, ist allerdings nicht konsequent genug. Das Verhältnis der Studenten in Kurz- beziehungsweise Langstudiengängen soll laut Wissenschaftsrat etwa 50:50 sein. Ein besserer Lösungsansatz ist nur in einer Inflationierung der Hochschulbildung zu sehen. Es müßte allen Studienberechtigten der Zugang zur Universität offenstehen. Der Verdrängungseffekt zum Nachteil der Real- und Hauptschüler tritt ohnehin &ein, gleichgültig ob Abiturienten studieren. Ansonsten würden im Jahre 1985 850 000 Studienplätze 1,6 Millionen Studienberechtigten gegenüberstehen. Mehr Studenten sind aber nur verkraftbar. wenn Studiendauer und Inhalt der Studiengänge verändert -- und zwar zeitlich und im Niveau gesenkt werden. Die Entscheidung für ein neues und gegen das bisherige System ist eine Abwägung im Negativen: Jetzt werden zu viele Studenten zu lange und damit zu teuer ausgebildet, später würden Studenten eine im Niveau gesenkte Ausbildung erfahren. Den Absolventen einer solchen verkürzten Hochschulausbildung wäre leichter als bisher klarzumachen, daß sie nicht die Erwartungen an den Einsatz im Berufsleben haben dürfen, die der Absolvent der herkömmlichen Ausbildung noch immer hegt. Unter diesem Aspekt bedarf auch die häufig aufgestellte Forderung nach mehr »Praxis-Bezug« der Hochschulausbildungen einer Relativierung: Die Ausbildung muß zwar auf Berufsfelder vorbereiten, nicht aber auf ganz bestimmte Tätigkeiten. Durch eine Art Inflationierung würden die Hochschulen von Bildungsstätten für Wenige zu Ausbildungsstätten für Viele. Dabei ist die Notwendigkeit der Ausbildung zur Forschung für Wenige unbestritten. Das Verhältnis von Kurz- und Langstudienanwärtern von 50:50 allerdings wäre fatal. Die »befriedende« Wirkung, die von der Offenhaltung der Hochschulausbildung für alle Studienberechtigten zu erwarten wäre, ginge verloren, weil der Anreiz, zu der Hälfte der Studenten zu gehören, die am Langstudium teilnehmen darf, zu groß ist. Noch fataler wäre allerdings eine Auswahl und Lenkung der Schüler zu einem sehr frühen Zeitpunkt. Hier wurden bei Zehn- oder Zwölfjährigen Entscheidungen gefällt, die kaum korrigierbar, aber schicksalsentscheidend sind. Der Vorschlag des Wissenschaftsrats hat weiter die Folge, daß den Absolventen der Kurzstudiengänge keine besonderen Berufsaussichten eröffnet sein können: die Langzeitstudenten werden in der Regel den Vorzug erhalten. Das Kurzstudium brächte einen endgültigen Ausschluß von Möglichkeiten mit sich. Das Kurzstudium sollte vielmehr für alle die Regel sein. Für eine geringere Zahl von Absolventen der Kurzstudiengänge (gedacht werden kann an höchstens 25 Prozent) müßte sich ein Graduiertenstudium anschließen. Die Hoffnung des Wissenschaftsrats auf einen 20prozentigen Zuwachs des Lehrpersonals ist unrealistisch, weil die Länderparlamente nicht geneigt sein werden, weitere Stellen für die Hochschulen zur Verfügung zu stellen. Dennoch geht es ohne Stellenvermehrung und ohne Erhöhung der Lehrverpflichtung, wenn das Verhältnis der drei- zu den vierjährigen Studiengängen nicht 50:50, sondern etwa 75:25 beträgt. Die Einführung eines solchen Systems setzt allerdings starke, von der Verfassung gedeckte staatliche Eingriffe voraus. Die Inflationierung der Hochschulbildung soll vielen den Zugang zu einer Ausbildung ermöglichen, der emanzipatorische Wirkungen zugeschrieben werden könnten, ohne daß sich damit automatisch die Erwartung auf ein bestimmtes Tätigkeitsfeld mit entsprechender Einkommenshöhe verbinden darf.
Stuttgart Prof. Dr. Georg Turner
Universitätspräsident