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OSTKONTAKTE Zum Abendbrot

aus DER SPIEGEL 43/1966

Als die schwarze Limousine um 19.40 Uhr den weißen Grenzstrich am West-Berliner »Checkpoint Charlie« passierte, öffnete sich drüben der Schlagbaum. Die DDR-Grenzwachen nahmen Haltung an und salutierten.

Wie ein alliierter General fuhr Willy Brandt letzten Mittwoch in die Hauptstadt der DDR ein.

Denn das Recht, den für Deutsche gesperrten Ausländerübergang ohne Passierschein, Stopp und Kontrolle zu benutzen, steht ausschließlich den Militärs der Besatzungsmächte zu.

In diesem Fall begab sich die DDR Ihres sonst sakrosankten Grenzzeremoniells; der Wunsch der sowjetischen Brüder war ihr noch immer Befehl: Pjotr Andrejewitsch Abrassimow, außerordentlicher und bevollmächtigter Botschafter der UdSSR in der DDR, Hochkommissar der Sowjet-Union für gesamtdeutsche Fragen und Mitglied des Zentralkomitees der KPdSU, erwartete mit Gemahlin Maria Borisowna in seiner Residenz Unter den Linden den Regierenden Bürgermeister von Berlin nebst Gattin Rut zum Abendbrot.

Für den Sowjetmenschen war es die Erfüllung eines lang gehegten Wunsches. Schon Anfang Juni dieses Jahres, unmittelbar nach dem Dortmunder Parteitag der SPD, hatte der Botschafter Kontakt gesucht.

Damals bekundete Abrassimow auf einer Cocktailparty des schwedischen Generalkonsuls in West-Berlin über ein Glas Wein hinweg dem SPD-Vorsitzenden das Interesse Moskaus an der in Dortmund formulierten gesamtdeutschen und ostpolitischen Konzeption der westdeutschen Oppositionspartei.

Der Diplomat erbat sich von Brandt einen kompletten Satz der Parteidokumentation. Und er erkundigte sich beiläufig, ob der Bürgermeister nicht samt Familie die Abrassimow-Datscha in Grünau kennenlernen wolle. Aus Solidarität mit §einen zu dieser Zeit passierscheinlosen West-Berlinern lehnte Brandt ab.

Doch die Sowjets gaben ihre Annäherungsversuche nicht auf. Der Wahlerfolg der SPD in Nordrhein-Westfalen, die Selbstzerfleischung der Christdemokraten, die Agonie der Bundesregierung bestärkten sie in der Ansicht, daß die Sozialdemokraten mehr und mehr zur politisch bestimmenden Kraft der Bundesrepublik gedeihen.

In höherem Auftrag suchte der Kreml-Delegat in Ost-Berlin deshalb Gelegenheit zu einer neuen Offerte. Sie bot sich auf einem Empfang anläßlich der West-Berliner Festwochen am 29. September - im Parkhotel des CDU -Abgeordneten Zellermayer.

Diesmal willigte Brandt ein. Nach einer Wiedereröffnung der Passierscheinstelle für Härtefälle, so deutete er an, sei mit seinem Besuch zu rechnen.

Am Montag vergangener Woche, 9.45 Uhr, traten die Passierschein-Aussteller der DDR nach dreimonatiger Pause wieder zum Dienst am West-Berliner Hohenzollerndamm an. Am Abend desselben Tages überbrachte ein Bote Abrassimows im Schöneberger Rathaus die Einladung für Mittwoch, 20 Uhr.

Nach der Senatssitzung vom Dienstag gab der Bürgermeister Weisung, die alliierten Stadtkommandanten und die Bundesregierung von seinem bevorstehenden Ost-Ausflug zu unterrichten.

In den Repräsentationsräumen der Botschaft trieben Abrassimows Tischgäste zunächst unverbindliche Konversation. Mit von der Party: Schwedens West-Berliner Generalkonsul Sven Backlund, der seinerzeit die Bekanntschaft vermittelt hatte.

Erst bei Mokka und Likören kamen Botschafter und Bürgermeister - unter vier Augen - zur Sache. Brandt begann: »Ich spreche hier mit Ihnen als einem Vertreter der vier Großmächte, die für Deutschland wichtig sind.« Darauf Abrassimow: »Herr Bürgermeister, Sie wissen doch, wer ich bin und wo Sie sind.« Erstes Gesprächsthema: Der tags zuvor publizierte Vorschlag des Brandt -Vize Herbert Wehner für eine gesamtdeutsche Wirtschaftsgemeinschaft.

Brandt wies darauf hin, daß die Gedanken Wehners nur den überraschen könnten, der nicht mit den Dortmunder Grundsatzbeschlüssen seiner Partei vertraut sei. Die SPD befürworte vielfältige Kontakte mit Ost-Berlin. Freilich: Eine völkerrechtliche Anerkennung der DDR komme auch für die Sozialdemokraten nicht in Frage.

Nach dem SPD-Vorsitzenden meldete sich der Regierende Bürgermeister zu Wort: Die Kontaktvorstellungen seiner Partei könnten wohl nur dann verwirklicht werden, wenn der Osten ein gewisses Maß an Entgegenkommen beweise - am besten im geteilten Berlin. Und er erinnerte an die Vorschläge des Senats, West-Berlin zu einem internationalen Handelszentrum zwischen Ost und West auszubauen.

Pjotr Abrassimow hielt die Erkenntnisse aus dem Vierstundengespräch für wichtig genug, um sie unverzüglich seinem Vorgesetzten zu unterbreiten: Nur Stunden, nachdem Willy Brandt Ost -Berlin wieder verlassen hatte, nahm Außenminister Andrej Gromyko - auf einer Heimreise von Washington nach Moskau - während eines überraschenden Zwischenaufenthalts in der DDR -Hauptstadt den Rapport seines Botschafters entgegen. Zur selben Zeit flog der SPD-Vorsitzende nach Bonn, um seinen Parteirat zu informieren. Das Auswärtige Amt erhielt Bericht von einem Beamten der Senatsvertretung in Bonn.

Kanzler Erhard war Brandts Ost -Berlin-Visite erst zu Ohren gekommen, als Senatssprecher Egon Bahr am Mittwochabend verkündete, sein Chef weile zur Stunde Unter den Linden. Die Reise -Nachricht, vom Senat über das Auswärtige Amt an das Kanzleramt geleitet, war dem zuständigen Referenten im Palais Schaumburg nicht so bedeutend erschienen. Er ließ sie liegen.

Ost-Berlin-Besucher Brandt*: Wie ein General durch die Mauer

Brandt-Gastgeber Abrassimow

Botschaft aus der Datscha

* Mit Ehefrau Rut bei der Rückkehr am »Checkpoint Charlie«.

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