MÜLLER-WIPPERFÜRTH Zur Ulmer Höh
Neun Tage schwieg die Kölner Staatsanwaltschaft. Am zehnten Tag, Dienstag vergangener Woche, lüftete sie ihr Geheimnis um den mit eigenem Flugzeug abgestürzten Textilindustriellen Alfons Müller-Wipperfürth.
Tags zuvor hatte sie den Schwerverletzten aus dem St.-Elisabeth-Krankenhaus zu Mayen/Eifel in das Bezirkskrankenhaus des Düsseldorfer Gefängnisses »Ulmer Höh« transportieren lassen. Haftgrund: dringender Verdacht der Steuerhinterziehung.
Der prominenteste Steuerfeind war der Justiz aus dem Himmel in den Schoß gefallen. Bereits im Jahre 1959 hatte die Kölner Staatsanwaltschaft gegen den Hosen-Müller ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Vom 1. Januar 1955 bis zum 30. Juni 1959 soll der Fabrikant über ausländische Firmen seinen westdeutschen Unternehmen überhöhte Rechnungen ausgestellt und dadurch Einkommen-, Körperschaft- und Gewerbesteuern im Betrag von sechs Millionen Mark hinterzogen haben. Am 4. Juli 1961 wurden die Akten von der »gemeinsamen Strafsachenstelle« der Justiz- und Finanzbehörde der Kölner Staatsanwaltschaft zugeleitet, die ihre Ermittlungen jedoch nach Paragraph 468 der Reichsabgabenordnung vorerst aussetzte.
Die Reichsabgabenordnung schreibt vor, daß in einem Verfahren, das die Finanzbehörden gegen einen Steuerdelinquenten angestrengt haben, »das Strafverfahren auszusetzen (ist), bis über die Fragen (von der Finanzbehörde) rechtskräftig entschieden worden ist«.
Diese Entscheidung fiel in der Hauptsache am 14. Januar vergangenen Jahres. Müller erhielt die fälligen Steuerbescheide und bezahlte bislang fünf Millionen Mark. Der Rest von einer Million ist am 1. April fällig (SPIEGEL 13/1964).
Obwohl die Staatsanwaltschaft mithin bereits vor 14 Monaten freie Bahn für die Verfolgung Müllers hatte, schien ihr offenbar die Schwere der gegen den Industriellen bestehenden Verdachtsmomente für einen Haftbefehl erst in dem Augenblick auszureichen, als der Fabrikant über der Eifel abgestürzt war.
Die auffällige Koinzidenz von Eifel -Sturz und anschließendem Haftgrund deutete Landgerichtsrat Neuß, Leiter der Kölner Justizpressestelle, so: »Wir konnten ja nicht für alle Eventualitäten einen Haftbefehl haben.« Da Müller sich nicht in der Bundesrepublik aufgehalten habe und mit einer Auslieferung nicht zu rechnen gewesen sei, hätte man auf die Haftanordnung verzichtet.
Diese Begründung der Kölner Strafverfolger ist in der Tat frappierend. Laut Gesetz hat die Staatsanwaltschaft die Aufgabe, Verfehlungen gegen die Strafgesetze zu verfolgen und bei Vorliegen dringenden Tatverdachts sowie Flucht- oder Verdunkelungsgefahr Haftbefehle zu erwirken, einerlei, ob die Vollstreckung des Haftbefehls aussichtsreich erscheint oder nicht.
Tatsächlich aber, so bekannte Landrichter Neuß, war »der Absturz der Anlaß, sich die Sache nochmals zu überlegen«. Offensichtlich unter dem Eindruck der Publizität, die Müllers Eifel -Sturz erfuhr, kramten die Beamten die mittlerweile aschgraue Ermittlungsakte wieder hervor und erwirkten am 18. März beim Amtsgericht Gummersbach einen Haftbefehl.
Zuvor hatte sich der Fabrikant unbehelligt in der Bundesrepublik blicken lassen, hatte die Presse empfangen, Diners auf Flugplätzen eingenommen und seine einheimischen Geschäfte besucht. Alle wußten von Müllers Visiten, nur die Kölner Staatsanwaltschaft nicht. Landgerichtsrat Neuß: »Wir wußten das nicht.«
Am Morgen des 19. März erfuhr Müller von einem Frankfurter AP-Korrespondenten, daß man ihn zu sistieren gedenke. Wenige Stunden später wurde es ernst. Um einen Fluchtversuch zu vereiteln, postierten die Kölner Staatsanwälte einen Polizisten vor die Tür des Krankenzimmers 229 im Mayener Hospital.
Krankenschwestern beobachteten den Uniformierten, wie er immer wieder den Sinnspruch an der Wand über dem Eingang des Zimmers studierte: »Wir wollen in unserem kurzen Leben einander nur Sonne und Freude geben.«
Über die folgenden Ereignisse indes gaben Staatsanwalt und Gruppe Müller gänzlich verschiedene Versionen.
Der Kölner Erste Staatsanwalt Kunert erhielt, so schildert er, am vorletzten Donnerstag gegen 18 Uhr den Bericht des Müller-Postens: Ein Sankra des Roten Kreuzes sei beim St.-Elisabeth -Krankenhaus vorgefahren, zwei Krankenträger hätten sich mit einer Tragbahre auf den Weg zu Müllers Vestibül gemacht, um den verletzten Fabrikanten abzuholen. Der Auftrag, so bekundeten die Rotkreuzler, sei telephonisch erteilt worden. Der Polizist, so Staatsanwalt Kunert, habe den Trägern den Einlaß verwehrt.
Der Staatsanwalt sah in diesem Vorgang einen Fluchtversuch und ordnete unverzügliche Verkündung des Haftbefehls an.
Der wachhabende Polizist, mit dem fernschriftlichen Bescheid in der Tasche, betrat das Krankenzimmer. Er bat, so Kunert, um eine Unterredung unter vier Augen. Der Müller-Clan mußte das Feld räumen. Sodann befragte der Polizist den Verletzten, ob er auf eine Verkündung durch den Gummersbacher Amtsrichter Wert lege oder ob er sich mit dem Mayener Amtsrichter Breuer zufriedengebe.
Daraufhin antwortete Müller dem Polizisten: »Macht mit mir, was ihr wollt, ich bin ja doch nicht transportfähig.« Der Schutzmann: »Eben war aber doch ein Auto vom Roten Kreuz da, um Sie abzuholen.«
Müller: »Das ist was anderes. Ich wollte mich nach Köln zu Professor Hackenbroch (ein bekannter Orthopäde) bringen lassen.«
Dieser deutlichen Version der Kölner Staatsanwaltschaft widersprach Müllers Sohn Dieter, 25, ebenso entschieden: »Wir haben den Krankenwagen nicht bestellt. Eine Überführung meines Vaters nach Köln war zwar geplant, aber nicht zu diesem Zeitpunkt. Die Staatsanwaltschaft brauchte dringend den Fluchtverdacht, und deswegen baute sie einen Türken.« Empörte sich Landgerichtsrat Neuß: »Das ist barer Unsinn.«
Nach Müllers Einzug in die Krankenzelle hielt Sohn Dieter die Verbindung zwischen dem Konzern und seiner Führungsspitze aufrecht. Täglich berichtete er seinem Vater über anstehende Geschäftsvorfälle. Die Arbeitsanweisungen des Seniors verteilte er sodann über Telephon auf die Müller-Firmen in Deutschland, Belgien und Österreich.
Am vergangenen Mittwoch wurde Müller zwecks operativer Behandlung aus dem Gefängnisspital in die Kölner Universitätsklinik verlegt.
Am gleichen Tag streckte der Beschuldigte, der sich bis dahin verstockt gezeigt hatte, erste Fühler aus: Müller wollte gegen eine angemessene Kaution Haftverschonung erwirken.
Textilfabrikant Müller-Wipperfürth*
Aus dem Gefängnisspital ...
Müller-Sohn Dieter
... Arbeitsanweisungen für den Konzern
* SPIEGEL-Titel 3/1961.