Zur Ausgabe
Artikel 1 / 85

»Zwanzig Minuten am Rand eines Atomkriegs«

Dreimal innerhalb weniger Monate wurden Amerikas Verteidigungszentralen aufgeschreckt: Atomalarm - durch technisches Versagen. Können solche Pannen den atomaren Weltenbrand auslösen? Menschen entscheiden über den Befehl zum Gegenschlag. Aber sie stützen sich dabei auf Computer, denen nicht immer zu trauen ist.
aus DER SPIEGEL 26/1980

Wie Erkennungszeichen trugen die fünf Männer des »Delta«-Teams ihre braunen Lunchpakete, als sie in den bombensicheren Kommandoraum hinunterfuhren, 15 Meter tief unter der Erde, geschützt durch Panzertüren und 80 Zentimeter dicke Betonwände.

Es war der 2. Juni, kurz vor Mitternacht; das Delta-Team, eines von fünf Alarmteams im Hauptquartier des Strategischen Bomberkommandos ("Sac") der US-Luftwaffe in Omaha, Nebraska, trat zur Nachtschicht an.

Ein Routine-Job, seit zwanzig Jahren praktisch unverändert. Die Aufgabe der Männer: acht Stunden lang auf Computer-Bildschirme und Leuchttafeln an der Wand zu starren -- und Alarm zu schlagen, falls die Sowjets mit einem Atomschlag den Dritten Weltkrieg eröffnen.

Knapp zwei Stunden später in dieser Nacht geschah das ständig für möglich S.103 Gehaltene, aber nie wirklich Erwartete. Auf einem der beiden Bildschirme am Computer-Terminal des »Kontrolloffiziers für die Warnsysteme« (im Sac-Jargon heißt er »Wisc") erschien die Horror-Meldung: Eine große Anzahl sowjetischer Interkontinental- und U-Boot-Raketen mit Atomsprengköpfen im Anflug auf die USA.

Vom Kommandopult des Wisc ertönte ein durchdringender Warnton. Auf einem der fünf mal fünf Meter großen Bildschirme leuchtete die »Entscheidungsmatrix« auf, Leitlinie für eine Serie von Entscheidungen und Maßnahmen, die innerhalb der folgenden Sekunden zu treffen waren. Die Initiative übernahm, den Vorschriften gemäß, der rechts vom Wisc sitzende »Senior Controller« (im Range eines Oberst).

Der Senior Controller drückte auf seinem Kommandopult einen roten Knopf: Atomalarm.

Der Ton einer Sirene jaulte durch den 50 Meter langen, zwölf Meter breiten Kommandobunker. Ein flackerndes Alarmlicht, wie auf den Streifenwagen der amerikanischen Polizei, blitzte rote Lichtbalken durch den halbdunklen Raum. Der Oberst griff zum roten Telephon und sprach das Kodewort: »Skybird« -- »an alle Raketen- und Flugzeugeinheiten des Strategischen Bomberkommandos«.

Sekunden später wurde Richard Ellis, Kommandierender General des Strategischen Bomberkommandos, informiert. Dann rollte, buchstäblich auf Knopfdruck, die Alarmwelle:

* Ein Drittel der amerikanischen Atombomber-Flotte, rund 100 achtstrahlige Boeing B-52, wird startklar gemacht. Die in Bereitschaft stehenden Besatzungen rennen zu ihren Maschinen und werfen die Triebwerke an.

* Alle 153 Raketenbesatzungen -- sie gebieten über insgesamt 1054 »Minuteman«- und »Titan«-Raketen -werden in höchste Alarmbereitschaft versetzt; niemand darf die Befehlskonsolen verlassen.

* Zwei Dutzend Atom-U-Boote, die ihre Fernraketen mit Wasserstoffbombenköpfen durch die Meere tragen, werden über den erhöhten Alarmzustand unterrichtet.

* Eine viermotorige Maschine, fliegender Befehlsstand des Strategischen Bomberkommandos (bestimmt für den Fall, daß der Keller in Omaha zerbombt wird), hebt in Hawaii von der Startbahn ab.

* Präsident Carters »fliegender Feldherrenhügel«, ein umgebauter Jumbo-Jet, wird auf Andrews Air Base bei Washington startklar gemacht.

Der Präsident wurde nicht geweckt in dieser Nacht. Denn nach drei Minuten S.104 und zwölf Sekunden war den Verantwortlichen klar: Ein Spuk war über Bildschirme und Leuchttafeln gehuscht -- bei Sac ebenso wie bei Norad, dem Nordamerikanischen Luftverteidigungszentrum im Cheyenne Mountain, von wo die Alarmbotschaft gekommen war (die Befehlszentrale von Norad zeigt das SPIEGEL-Titelbild).

Ein Mikroschaltkreis in einem Norad-Computer, nicht größer als ein Groschen, ganze 46 Cents wert, sei schuld gewesen an dem Versager, so enthüllte das US-Verteidigungsministerium am Dienstag letzter Woche.

Der »chip« hatte verrückt gespielt --Fehlalarm durch Computer-Irrtum. 20 Minuten dauerte es, bis alle Atombomber-Triebwerke wieder abgestellt, bis die Raketen-Mannschaften wieder auf normale Alarmbereitschaft zurückbeordert waren.

20 Minuten, in denen, wie die sowjetische Nachrichtenagentur »Tass« schrieb, »die Welt an den Rand eines Atomkriegs« rückte?

Die Aufregung in den Kommandozentren beider Weltmächte jedenfalls war beträchtlich. Vor amerikanischen Fernsehkameras beeilte sich US-Verteidigungsminister Harold Brown zu versichern: »Niemals« könnten Computer die »wachsame Intelligenz von Menschen« überspielen und »den Start von Atomwaffenträgern aus Versehen auslösen«.

In Wahrheit, so berichtete die »New York Times«, habe Brown sich über die Sache »furchtbar aufgeregt«. Generalstabschef David C. Jones wurde zur Überprüfung des Falles zu Norad und zum Sac-Hauptquartier in Marsch gesetzt. Aus dem Weißen Haus drang die Kunde, das Pentagon sei von dort gerüffelt worden: Sie sollten »endlich ihren Dreck in Ordnung bringen«.

Gefeiert, wenn auch als Namenlose, wurden die Mitglieder des Delta-Teams beim Strategischen Bomberkommando. Denn die Männer von Delta hatten clever reagiert: Durch eine Schnellschaltung, gleichsam »um Norad herum«, hatten sie sich Zugang zu dem globalen Frühwarnnetz der USA mit seinen Satelliten und Radarstationen verschafft und so ein »direct reading«, ein unverfälschtes Lagebild erhalten. Ergebnis: Keine Sowjet-Raketen im Anflug. Ein einmaliger, hinnehmbarer, entschuldbarer Computer-Patzer also?

Drei Tage später, am 6. Juni, löst Norad abermals falschen Atomalarm aus, kreist wieder das rote Blinklicht im Sac-Befehlsbunker, rennen wieder B-52-Besatzungen zu ihren Bombern und starten die Triebwerke.

Wieder dauert es drei Minuten, bis der Alarm als falsch entlarvt ist: Zum drittenmal innerhalb von sieben Monaten wird Amerikas Atomstreitmacht durch Computer- oder Bedienungsfehler aus der normalen Alarmbereitschaft aufgescheucht und zumindest für einige Minuten mobilisiert.

Bereits am 7. November letzten Jahres hatten die Schautafeln bei Norad den Abschuß sowjetischer U-Boot-Raketen, gezielt auf Bomber-Basen im Südwesten der USA, signalisiert. Fehler-Ursache damals: Ein »Übungsband« hatte simulierte Kriegsspieldaten in die »heiße Leitung« des Nachrichtennetzes eingespeist. Sechs Minuten dauerte der Fehlalarm.

Drei Fälle in wenigen Monaten -damit rücken Gefahren wieder in greifbare Nähe, werden Ängste wieder wach, die in den letzten zwei Jahrzehnten schon fast verdrängt schienen.

Zu Beginn der Atomwaffen-Ära, als Anfang der sechziger Jahre das »Gleichgewicht des Schreckens« begründet wurde, waren diese Ängste in Büchern und Filmen bereits eindringlich demonstriert worden: in dem Atomkrimi »Fail-Safe« etwa, in dem ein nicht mehr rückholbares Bomberkommando Moskau in Asche legt -im Gegenzug und als Ergebnis einer Verhandlung über den »heißen Draht« läßt der US-Präsident New York gleichfalls einäschern; oder in »Dr. Seltsam«, einer Atomkriegssatire über einen wahnwitzigen Bombergeneral, der es am Ende dahin bringt, daß die S.105 sowjetische Weltuntergangsmaschinerie in Aktion tritt -- die Erde fliegt in Fetzen.

»Ein Spiel mit dem Feuer«, geboren aus »atomarem Verfolgungswahn«, so nannte die Moskauer »Prawda« die jüngsten Fehlalarme in den amerikanischen Befehlszentren des Atomkrieges.

Die Russen reagieren nervös auf derlei Computer-Krisen im Befehlsbunker: 75 Prozent der strategischen Atomstreitmacht stehen bei den Sowjets auf festem Land und wären mithin durch einen Überraschungsschlag verhältnismäßig leicht auszuschalten.

Die östliche Nervosität wächst noch, seit die Stationierung von Mittelstreckenraketen in Westeuropa vorgesehen ist. Flugzeit der »Pershing-II«-Raketen zu Zielen im Ostblock: zwischen drei und acht Minuten.

Fast noch stärker, schien es, war die Beunruhigung im Westen. Ist der Atomkrieg aus Versehen, so lautet die bange Frage, möglich?

»Völlig ausgeschlossen« sei es, versicherte am Mittwoch letzter Woche Gerald P. Dinneen, Staatssekretär im US-Verteidigungsministerium und hauptverantwortlich für die amerikanischen Warnsysteme, »daß Aktionen eingeleitet werden, die nicht rückgängig zu machen sind«. Doch diese Feststellung schien kaum geeignet, die Möglichkeit eines atomaren Zufallskriegs zum bloßen Hirngespinst herunterzuspielen.

»Verhängnisvoll kurz«, so räumen Amerikas Atomstrategen ein, seien die Zeiträume, die für Entscheidungen im Atomkriegsfall zur Verfügung stehen -- bei U-Boot-Raketen, die auf Feindesland gefeuert werden, sind es maximal noch 15 Minuten.

Den US-Präsidenten, Alleininhaber der atomaren Befehlsgewalt, in den ersten drei Minuten eines Atomalarms nicht zu wecken, das sei »gestohlene Entscheidungszeit«, rügte letzte Woche US-Präsidentschaftskandidat Ronald Reagan. Womöglich, wenn sich die Fehlalarme häufen, denkt auch nach zehn Minuten noch niemand daran, den Präsidenten zu verständigen?

Vor allem aber weckte es Beunruhigung im Westen (und womöglich auch im Osten), daß an einem so zentralen Punkt des militärischen Nervensystems der USA, wo über den atomaren Weltenbrand entschieden wird, derart kapitale und offenbar schwer ausrottbare Fehler stecken.

Nicht ausschließen mochten vergangene Woche Amerikas Dinneen und andere Experten im Pentagon, daß so ein Halb-Dollar-Mißverständnis im Norad-Computer eine »verhängnisvolle Kettenreaktion« auslösen könnte: Zu wenig ist bekannt über »Fail-Safe«-Stufen und Atomdrücker-Sicherungen bei den Russen. Wie, wenn die Sowjets, verwirrt durch startende US-Bomber und hektische Alarmsignale für die amerikanische U-Boot-Flotte, ihrerseits die Nerven verlören und den atomaren »Gegenschlag« auslösten?

Sich in einer solchen Lage auf den vielzitierten »heißen Draht« zwischen Washington und Moskau zu verlassen, ist riskant. Ob für die »Hot Line« -- in Wahrheit keine Sprechverbindung von Staatschef zu Staatschef, sondern nur ein Fernschreibticker -- noch genügend Zeit bleibt, sie als Bremse am Abgrund des Atomkriegs einzusetzen, erscheint fraglich.

60 000 Atom- und Wasserstoffbombensprengköpfe haben die beiden atomaren Machtblöcke aufgehäuft. Wissenschaftler des Stockholmer Friedensforschungsinstituts »Sipri« haben berechnet: Das entspricht 13 000 Megatonnen Atomsprengkraft in der ganzen Welt -- eine Million mal der Schrecken von Hiroshima. Auf jeden Erdbewohner, Kinder und Greise eingerechnet, kommt der Gegenwert von drei Tonnen herkömmlichem Sprengstoff.

»Mit jeder Modernisierung, jedem Fortschritt« in der Waffentechnologie, so erklären die Sipri-Experten in ihrem neuen, letzte Woche erschienenen Jahrbuch, wachse das Risiko, daß die Atomsprengköpfe zum Einsatz kommen, »sei es durch Zufall, Fehleinschätzung oder Wahnsinn«. Das Risiko S.108 hat sich während der letzten zwei Jahrzehnte vervielfacht.

Atomgetriebene U-Boote gab es noch 1960 weder bei den Amerikanern noch bei den Sowjets. Inzwischen verfügen die Russen über rund 170, die Amerikaner über 115 solcher schwimmenden Waffenträger.

Ein einziges mit »Poseidon«-Raketen ausgerüstetes amerikanisches Atom-U-Boot etwa ist in der Lage, alle sowjetischen Städte mit mehr als 150 000 Einwohnern (und in ihnen wohnt ein Drittel des Sowjet-Volkes) zu zerstören.

Auf jedem U-Boot der neuen »Trident«-Klasse (Baukosten pro Schiff: 3 Milliarden Mark) lauern 24 Raketen mit je mindestens zehn Atom-Sprengköpfen. Bis zu 20 Raketen mit Dreifach-Sprengkopf hängen im Rumpf und unter den Tragflächen amerikanischer B-52-Bomber. Jede B-52 ist in der Lage, sechs Millionenstädte auszulöschen -- oder wahlweise 60 mittlere Städte; jede Stadt würde mit der 15fachen Zerstörungsgewalt der Hiroshima-Bombe getroffen.

Insgesamt, die Interkontinentalraketen eingerechnet, haben die Amerikaner damit 11 894 Sprengköpfe auf ihren strategischen Trägerwaffen montiert. Ein amerikanischer Senatsausschuß kam Anfang letzten Jahres zu dem Schluß: Selbst wenn neun Zehntel dieses gigantischen Atomwaffen-Arsenals durch einen sowjetischen Überraschungsschlag ausgeschaltet würden, reichte der Rest noch aus, »die Wirtschafts- und Bevölkerungszentren ... der Sowjet-Union weitgehend zu vernichten«.

Dazu die Umkehrung: Von den schätzungsweise 6000 strategischen Atom-Sprengköpfen der Sowjets würde mindestens ein Drittel gebraucht, um einen Vernichtungsschlag gegen die USA zu führen.

Vor solchem Hintergrund potentiellen Grauens haben Amerikaner wie Sowjets seit Beginn der gegenseitigen Atom-Bedrohung eine doppelte Angstpartie wieder und wieder durchgespielt: Wie läßt sich -- einerseits -ein Überraschungsschlag des Gegners rechtzeitig erkennen, und wie ist -- andererseits -- zu verhindern, daß jemand aus Versehen oder aus Wahnwitz auf den Knopf drückt und einen Atomschlag auslöst?

»Im Grunde«, so erinnerte sich der amerikanische Kriegstheoretiker Herman Kahn an die sechziger Jahre, »fürchteten wir einen Zufallskrieg weit mehr als einen vorsätzlichen Krieg.«

Das war für den damaligen US-Präsidenten John F. Kennedy Grund genug, den Sowjets über geeignete Kanäle ziemlich exakte Informationen über die Sicherungen bei amerikanischen Atomwaffen zuzuspielen. Sein Ziel war, die Russen dadurch zu ähnlichen Sicherungsvorkehrungen zu ermuntern.

Schon damals waren etliche furchterregende Zwischenfälle bekannt geworden. Mehrere amerikanische Atombomber waren mit ihrer bedrohlichen Last abgestürzt. In einem Fall hatten sich beim Absturz fünf der sechs Sicherungen am Bombenzünder entriegelt. Nur eine einzige Sperre verhinderte noch die Katastrophe.

Seit Ende des Zweiten Weltkrieges, so erfuhr John F. Kennedy von seinen Beratern, habe es bereits mehr als 60 solcher Zwischenfälle gegeben. In zwei Fällen wurden mit Atom-Sprengköpfen bestückte Flugabwehrraketen aus Versehen gestartet (glücklicherweise waren die Sprengköpfe nicht scharfgemacht).

Auch die Leute auf den Beobachtungsposten bei Norad, der amerikanischen Luftabwehr-Zentrale, waren ihrer Sache nie ganz sicher. Einmal, in den fünfziger Jahren, registrierten sie auf ihren Radarschirmen den Anflug einer sowjetischen Bomberflotte in der Polarregion. Es war, wie sich zeigte, nur ein Schwarm Wildgänse.

Inzwischen haben die Amerikaner ihr weltweites Netz von Frühwarn- und Identifikationssystemen so vervollkommnet, daß ein Fehlalarm durch Wildgänse kaum mehr denkbar erscheint. Dutzende von erdumkreisenden Späh- und Nachrichtensatelliten, Batterien von Radarstationen zwischen Thule (Grönland) und Alice Springs (Australien) bilden das Netzwerk dieser teuersten Alarmanlage der Welt (siehe Graphik Seite 104).

Schon in dem Moment, da eine sowjetische Rakete aus ihrem unterirdischen Silo faucht, wird sie von den Hitzesensoren amerikanischer Überwachungssatelliten erfaßt. Auch jeder Weltraumstart der Sowjets wird von diesen Infrarot-Satelliten registriert.

Sekunden später übernehmen fernsehähnliche Sensoren, gleichfalls auf Satelliten montiert, die Kontrolle. Sie übermitteln ein TV-Bild der startenden Rakete mit ihrem langen Feuerschweif.

Als nächstes erfaßt die Radarkette das fliegende Feindobjekt. Seit zwei S.109 Jahrzehnten können die Radaranlagen auch über den Horizont hinweglugen. Die Radarstrahlung wird dabei an den oberen Luftschichten »gespiegelt«. Drei Riesenantennen dieses Raketen-Frühwarnsystems stehen in Clear (Alaska), in Thule und im britischen Flyingdales Moor.

Fast ständig im Visier haben die Amerikaner die sowjetische U-Boot-Flotte, vor allem mit Hilfe akustischer Sensoren. Dies ist die gefährlichste Waffe des Atomgegners: Weniger als 15 Minuten brauchen sowjetische U-Boot-Raketen vom Abschuß etwa im mittleren Atlantik bis zum Einschlag an der amerikanischen Ostküste.

Gegen die Raketen sowjetischer Atom-U-Boote wurde Anfang dieses Jahres noch ein weiteres Frühwarnsystem in Betrieb genommen: »Pave Paws« (zu deutsch etwa: »Beton-Pranken").

Die erste Anlage dieses Typs steht im US-Staat Massachusetts: Wie auf einem überdimensionalen Nagelbrett von Uecker verteilen sich Tausende von kleinen Radarköpfen über die beiden Abstrahlflächen des mehr als 30 Meter hohen Beton-Bauwerks. Mit diesem Gerät konnte die Warnzeit für U-Boot-Raketen beträchtlich verlängert werden: Gerade sechs Minuten Entscheidungsfrist blieben bei dem vorhergehenden U-Boot-Radar ("Fuzzy 7"), jetzt, mit »Pave Paws«, sind es 15 Minuten.

Die Radarpranken, eine zweite soll bis Jahresende in Kalifornien in Betrieb gehen, stehen unter dem Management des Strategischen Bomberkommandos. Deswegen lag es, beim Atomalarm in der Nacht zum 3. Juni, für die Leute vom Sac-Team Delta nahe, sogleich die Information von »Pave Paws« abzufragen. Die »Pranke«, die U-Boot-Raketen schon wenige hundert Meter nach dem Start erfaßt, meldete Stille über den Meeren.

Daß die Delta-Schicht beim »Strategic Air Command« ihren Computer erst auf die Direktleitung zu den Warnsystemen schalten mußte (es dauerte nur 15 Sekunden), hängt mit einer alten Arbeitsteilung in der amerikanischen Luftwaffe zusammen: Die Norad-Zentrale in ihrem ausgehöhlten Berg bei Colorado Springs (siehe Seite 115) ist traditionellerweise zuständig für das Einsammeln und die Weitergabe taktischer Informationen. Die Aufgabe von Sac ist es dann, aufgrund dieser Informationen dafür zu sorgen, »daß unsere verdammten Bomber und Raketen ihren Arsch hochkriegen und nicht am Boden ausradiert werden« (so der Sac-Sprecher Major Jim Platt).

Die von Norad aufgefangenen Informationen laufen kontinuierlich an die Sac-Befehlszentrale in Omaha weiter, aber zugleich auch an das National Military Command Center im Pentagon. Dort saß in der Nacht zum 3. Juni General William E. Odom an den Telephonen. In dem Moment, da er sich anschickte, den Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski aufzuwecken (der seinerseits dann den Präsidenten aus dem Schlaf zu reißen hätte), kam von Sac die Entwarnung.

Solange in Washington noch jemand lebt, muß diese Aufweck- und Befehlskette strikt eingehalten werden. Denn solange er atmet, ist es nur der Präsident der Vereinigten Staaten, der für den Einsatz von Atomwaffen das »Go« geben darf.

Er kann dies, theoretisch, in jeder Sekunde tun. Tag und Nacht befindet sich in unmittelbarer Nähe des Präsidenten der »Mann mit dem Koffer« -er trägt gleichsam alles Unheil dieser Welt. Für den Fall eines Atomalarms enthält der handliche Koffer das Funk-Telephon, über das der Präsident den Atomeinheiten seine Befehle geben kann.

Die Order des Staatslenkers kommt bei Sac über ein goldenes Telephon auf dem Kommandopult des Senior Controller an. Mit einem einfachen elektronischen Schalter ("Patch") kann der Sac-Offizier das goldene mit seinem roten Telephon verknüpfen: Von nun an spricht der Präsident über das gesamte Nachrichtennetz direkt mit allen Atom-Bedienungsmannschaften des Strategic Air Command. Gibt er den »Go«-Kode, läuft die atomare Vernichtungsmaschinerie unaufhaltsam an.

Der Zweck der komplizierten Kommandostruktur, die sich um diesen Präsidentenbefehl rankt, ist ein doppelter:

Es muß sichergestellt werden, daß der Einsatzbefehl aus dem »War room« im Weißen Haus auch wirklich alle Einheiten des Strategischen Bomberkommandos erreicht. Gleichzeitig gilt es zu verhindern, daß vielleicht eine Handvoll Offiziere und Mannschaften, sei es aus blindem Kommunisten-Haß oder in einem Angstwahn, ausflippt und auf eigene Faust einen Privatkrieg mit Atomwaffen entfesselt.

Damit die Order des Präsidenten, im Falle eines Atomkriegs, auch noch die über Grönland oder dem Indischen Ozean kreisenden B-52-Crews erreicht, wird der Funkspruch über Dutzende S.111 von Frequenzen, über ganze Wälder von Sendemasten abgestrahlt.

Tag und Nacht, und das schon seit 1961, kreist jeweils ein zum fliegenden Kommandostand umgebauter Großraum-Jet über den Vereinigten Staaten -- Reserve-Befehlsstand für den Fall, daß die militärischen Zentralen in Omaha und Washington ausfallen. Überdies steht für den Präsidenten, drei Hubschrauberminuten von seinem Amtssitz entfernt, der Jumbo-Jet »E-4« bereit -- mit all den technischen Einrichtungen, die dem Staatschef auch im »War room« des Weißen Hauses zu Gebote stehen.

In der fliegenden Befehlszentrale des Strategischen Bomberkommandos wiederum befindet sich unter anderem eine Abschußkonsole, von der aus im Notfall die gesamte Armada der Minuteman-Atomraketen gestartet werden kann. Hier herrscht dieselbe Sicherungsprozedur, wie sie in den 153 in amerikanische Erde eingebuddelten Raketen-Befehlsständen vorgeschrieben ist: Niemals kann ein Offizier, und sei er auch noch so ranghoch, im Alleingang eine Atomraketensalve abschießen.

Bei den Minuteman-Raketen funktioniert die elektronische Sperre ähnlich wie im Tresorraum einer Bank: Zwei Offiziere müssen zur gleichen Zeit zwei verschiedene Schlüssel in zwei (um mehr als doppelte Armlänge voneinander entfernte) Metallschränke stecken und dadurch die Startsicherung entriegeln.

Auch dies ist nur möglich, wenn zuvor mittels Funkspruchs ein Entriegelungskode ("Permissive link") in dem Raketen-Leitstand eingetroffen ist. Die Offiziere müssen die eintreffende Ziffernfolge mit einem vorgegebenen Tageskode vergleichen und den Empfang bestätigen. Erst nach dieser umständlichen -- gleichwohl in Sekunden abzuwickelnden -- Prozedur werden die Deckel von den Silos abgesprengt: Die Atomraketen starten.

Die gleiche elektronische Sperre und dieselbe »Zwei-Mann-Regel« ist für die B-52-Bomber vorgesehen. Darüber hinaus unterliegen die Bomber einer Kommandofessel, die als »positive control« bezeichnet wird.

Ein Sprecher von Sac erläutert dieses Kontrollverfahren so: Wenn die B-52 und die dazugehörigen Tankflugzeuge wenige Minuten nach einem Atomalarm von der Piste abheben, »hat der Atomkrieg noch nicht begonnen«. Der Alarmstart soll einstweilen nur verhindern, daß die Bomber am Boden von Feindraketen überrascht werden.

Die Atombomber nehmen sogleich Kurs auf Feindesland -- aber zunächst nur bis an eine unsichtbare Grenze: Wie Perlen auf einer Schnur umgeben sogenannte »Fail-safe«-Punkte die Sowjet-Union; auf den Leuchttafeln bei Norad und Sac sind sie als grünlich S.112 schimmernde Kreuze sichtbar ("Failsafe« -- »gesichert gegen Versagen").

Jede Bomber-Crew kennt ihren »Fail-safe«-Punkt. Über ihn darf sie keinesfalls hinausfliegen, solange der spezielle Befehl dazu nicht vorliegt. Erst wenn über Funk die »positive Order« eintrifft, in den sowjetischen Luftraum einzudringen ("to go in"), darf die imaginäre »Fail-safe«-Linie überflogen werden. Kommt keine Order, müssen die Flugzeuge mit ihrer Atombombenfracht in die Heimat zurückkehren.

Am wenigsten verwundbar schließlich ist das dritte Bein der amerikanischen Atom-Triade: die U-Boot-Flotte. Weil sie jedoch über Funk besonders schwer zu erreichen ist, sprechen die Militärexperten auch von einer »Achillesferse«.

Unter Wasser können die gängigen Radarfrequenzen, sei es im Mittel-, Kurzwellen- oder UKW-Bereich, nicht empfangen werden. Hinlängliche Sicherheit, daß eine Atomkrieg-Order auch bei den bis zu 400 Meter tief tauchenden Atom-U-Booten ankommt, bieten nur extrem langweilige Trägerfrequenzen -- sie durchdringen auch das Wasser.

Jedes Atom-U-Boot der Amerikaner ist deshalb mit zwei VLF("very low frequency")-Antennen ausgerüstet; eine kann an einer Boje hochgelassen werden, die andere wird bei Marschfahrt als 510 Meter langer Drahtschwanz hinter dem Boot hergeschleppt.

Für besonders wichtige Orders dient als Sender ein System unter dem Namen »Tacamo«, das als einigermaßen überlebensfähig auch im Atomkriegsfall gilt: Aus einer Flotte von insgesamt 14 »Hercules«-Transportflugzeuge kreisen ständig jeweils zwei über den Meeren, eines über dem Atlantik, das andere im Pazifik. Am Heck der Maschinen baumelt ein zehn Kilometer langer Antennendraht; das Flugzeug muß ständig enge Kurven fliegen, damit der Draht möglichst senkrecht hängt.

Als landgebundenes Zweit-System für den Funkverkehr mit U-Booten hatten ursprünglich 100 durch ein Drahtgitter miteinander verbundene Sender auf einer Fläche von 17 000 Quadratkilometern in den US-Staat Wisconsin eingegraben werden sollen. Das Vorhaben erwies sich als zu teuer, und auch die Umweltschützer waren dagegen.

Die US-Militärs begnügten sich mit einer bescheideneren Variante (Projekt »Austere"): Eine Sendeantenne von 200 Kilometer Länge wird derzeit in das Erdreich des Bundesstaates Michigan versenkt. »Austere« soll noch in 400 Meter Wassertiefe empfangen werden können. Allerdings: Eine Drei-Buchstaben-Gruppe auf der extrem langen Trägerwelle zu übermitteln, wird etwa 15 Minuten dauern.

Solche Schwierigkeiten beim Funkverkehr bedeuten freilich auch, daß das Verfahren der »elektronischen Entriegelung« von Atom-Sprengsätzen bei den U-Booten nicht praktikabel ist.

Zwar läuft auch in den Atom-U-Booten, im Falle eines Schießbefehls, ein umständliches Ritual ab, an dem sechs Offiziere beteiligt sind, dazu mehrere Schlüssel in verschiedenen Safes sowie rote und schwarze Abschuß-Griffe. Doch es bleibt dabei: Wäre die sechsköpfige Führungs-Crew eines Atom-U-Bootes sich einig, so könnte sie auch ohne Kontrolle durch die Befehlszentren auf dem Festland ihre 16 oder 24 Atomraketen abfeuern.

Überdies ist -- auch für die anderen atomtragenden Waffengattungen -mehr als zweifelhaft, ob all die ausgeklügelten Systeme von Angriffsbereitschaft und Pannen-Sicherung wirklich immer funktionieren, wenn sie funktionieren sollen.

Im Zweiten Weltkrieg ersannen amerikanische Physiker eine Art Weltgesetz, das sie »Murphy''s Law« nannten. Kernsatz: »Alles was schiefgehen kann, geht auch schief.« Dazu gibt es neuerdings, wie gemacht für die Befehlsstände des Atomkriegs, noch ein »8. Ergänzungsgesetz": »Es ist unmöglich, etwas narrensicher zu machen, die Narren sind zu einfallsreich.«

Zynismus dieser Art scheint auch für die komplizierten Warn- und Kontrollsysteme der amerikanischen Atom-Abwehr angebracht.

Zu oft in den vergangenen Jahren gab es in dem Geflecht von Elektronik und von Menschen, die sie bedienen, Zwischenfälle und Mißgriffe -manchmal eher groteske, manchmal höchst alarmierende.

Ein »Fiasko« nannten Militärexperten beispielsweise den Fehlalarm, der sich am 20. Februar 1971 zutrug; eine Blamage war es ganz gewiß.

An jenem Morgen hatte der Zivilschutzbeauftragte bei Norad versehentlich -- statt des üblichen Testbandes -einen falschen Lochstreifen in seinen Fernschreiber eingefüttert.

Die Folge: Bei Dutzenden von amerikanischen Rundfunk- und Fernsehstationen unterbrach der Sprecher das Programm und verlas einen vorbereiteten Text: »Dies ist keine Testsendung. Es besteht nationaler Notstand. Stellen Sie bitte Ihr Gerät ... für den Empfang einer Botschaft des Präsidenten ein. Dies ist keine Testsendung ...«

Beinahe zehn Minuten dauerte es, bis bei Norad der Fehler bemerkt, fast eine Dreiviertelstunde, bis bei den betreffenden Rundfunkstationen der Alarm wieder zurückgenommen wurde.

Besorgniserregend erschien hernach auch die Feststellung, daß die Reaktion der Amerikaner auf den Fehlalarm allen Erwartungen zuwiderlief. Die von der Botschaft erreichten Hörer gerieten nicht in Panik, kaum eine Spur von Erregung und Spannung. Und die meisten der per Telex angeschriebenen Sender hatten noch nicht einmal die Norad-Meldung zur Kenntnis genommen, sondern fröhlich ihr Programm weiterverbreitet.

Zweifel an der Zuverlässigkeit der Alarmprozeduren weckte auch die Konfusion, die bei dem Fehlalarm im November letzten Jahres entstand. Obwohl der vermeintliche Raketenangriff auf amerikanische Bomber-Stützpunkte gerichtet war, wurden die Sac-Bomberpiloten nicht alarmiert.

Nur einige amerikanische und kanadische Jagdflugzeuge stiegen auf -kaum S.113 die geeignete Gegenwehr gegen anfliegende Atom-Raketen. Und an den Start ging damals auch, Hals über Kopf, der »fliegende Befehlsstand« des US-Präsidenten Carter: Der Jumbo »E-4« hob sich in die Luft, ohne den Präsidenten oder auch nur eine Nachricht von ihm abzuwarten.

»Da zahlen wir Milliarden Dollar«, meinte nach einer Untersuchung des Vorfalls ein hoher Pentagon-Offizier, »um unsere Atomstreitkräfte in ständiger Alarmbereitschaft gegen den Blitz aus heiterem Himmel zu halten -- und wenn es dann so aussieht, als käme er, dann kümmert sich keiner darum.«

Bei dem Zwischenfall vom 7. November -- ebenso wie bei den beiden Fehlalarmen Anfang dieses Monats -war das Problem mittels »Abstimmung« aus der Welt geschafft worden, einer gängigen Prozedur zwischen den Befehlshabern der drei atomstrategischen Kommandozentralen: Per Rundspruch einigten sie sich, daß die Alarmmeldung »keine Glaubwürdigkeit« verdiente.

Das »No confidence«-Votum liegt freilich nicht so fern -- angesichts der zahlreichen Mängel und Pannen, die über das elektronische Herzstück der US-Verteidigung bekannt geworden sind: über das weltumspannende Computer-System Wimex (SPIEGEL 18/1980).

Der Aufbau dieses globalen Netzwerks von Computern für die amerikanische Verteidigung reicht zurück bis ins Jahr 1971 und war begleitet von groteskem Mismanagement, wie unlängst der amerikanische Bundesrechnungshof rügte.

Die Auftragsstruktur der an der Lieferung beteiligten Firmen war so verworren, daß Kritiker von »einer Dose Würmer in einer Dose Würmer« sprachen.

Als die Befehlszentrale des Systems -- nach verdoppelter Bauzeit und verdoppelten Kosten -schließlich fertig war, monierte ein Kritiker, daß man beispielsweise das Kommandopult für den Norad-Befehlshaber aus ziemlich absurden Gründen viermal geändert habe. So wurde statt des sonst üblichen Farbanstrichs plötzlich ein Nußbaum-Furnier für das Chef-Schaltpult angefordert; ein andermal mußten zahlreiche Schaltknöpfe versetzt werden -- für den Fall, daß irgendwann ein extrem kleinwüchsiger General auf diesem Posten säße.

Schlimmer war, daß die 35 Großcomputer von Wimex (auf die der Hersteller Honeywell 35 Prozent Rabatt gewährt hatte) sich schon beim Einbau als veraltet erwiesen.

Sie sind beispielsweise außerstande, in »Realzeit« zu rechnen, was für ihre Funktion unbedingt erforderlich wäre. Überdies arbeiten sie ständig am Rande ihrer Kapazität: Über Jahre hinweg herrschte der Zustand, daß beim Ausfall eines der Computer die ganze Anlage für Stunden nicht in der Lage war, eine eventuelle Meldung über anfliegende Feindraketen weiterzugeben.

Funkstille ist ohnehin der Alptraum der Atom-Strategen. Die Männer vom Delta-Team bei Sac hatten es leicht: Sie drückten ein paar Computer-Tasten und beschafften sich die Information, die ihnen aus dem Verwirrspiel des Fehlalarms heraushalf.

Ob das bei einem tatsächlichen Angriff der Sowjets funktionieren würde, ist indes nicht sicher. Seit zwei Jahrzehnten rätseln die Nachrichtentechniker an einem Phänomen, das die Amerikaner bei einem H-Bombentest über Johnston Island im Südpazifik 1962 erstmals studierten: Explodiert eine Wasserstoffbombe von etwa zehn Megatonnen in 300 Kilometer Höhe, so kommt es im Umkreis von einigen 1000 Kilometern zu einem nachrichtentechnischen Black-out. Kein Funkspruch geht mehr, die Radaranlagen erblinden, die Spähsatelliten schweigen. Mit einem B-52-Bomber, der als Testobjekt S.114 auf einem hohen Holzgerüst steht und mit Hochspannungsstromquellen umstellt ist, sucht die Air Force nun die Folgen dieses »Electromagnetic pulse«-Phänomens Herr zu werden.

Einstweilen aber gehört zum Warn- und Kontrollsystem, das Amerika vor dem Atomüberfall schützen soll, diese Schwachstelle -- wie der Abdruck des Lindenblatts auf dem Rücken des Recken Siegfried.

Vor allem Wimex soll nun als Buhmann herhalten, auch für die drei Fehlalarme in den letzten Monaten. Am liebsten würden die Verantwortlichen die beiden Juni-Pannen auf das 46 Cent teure Elektronik-Bauteil schieben -- immer noch besser, als sich dem Verdacht allgemeiner Schlamperei auszusetzen.

»Man ist besorgt«, meldete »Zeit«-Korrespondent Ulrich Schiller aus Washington, »daß der Computer-Fehler im Warnsystem« -- ähnlich wie das Debakel bei der versuchten Geiselbefreiung im Iran -»als weiteres Symptom des Verfalls von Macht und Zuverlässigkeit der USA interpretiert wird.«

Daß die Glaubwürdigkeit der amerikanischen Abschreckungsmacht durch solche Pannen nicht gerade erhöht werde, diese Meinung äußerten auch hohe Militärs im Pentagon. »Unsere Bereitschaft zum Zurückschlagen«, so einer von ihnen, »wird nicht nur an der Zahl und der Art unserer Waffensysteme gemessen, sondern auch an unserer Fähigkeit, einen sowjetischen Angriff blitzschnell zu entdecken ud darauf zu reagieren.«

Die Atomplaner der USA geraten in ein Dilemma. Theoretisch gibt es zwei Möglichkeiten, im Falle eines Atomkrieges den atomaren Gegenschlag zu führen.

* Entweder: Der US-Präsident zögert mit dem Befehl zum Vergeltungsschlag, bis tatsächlich die ersten feindlichen Atom-Sprengköpfe auf amerikanischem Boden detoniert sind ("Launch on impact"). Dabei wird das Risiko in Kauf genommen, daß ein Teil der eigenen Atomstreitmacht ausgeschaltet wird, ehe sie starten kann.

* Oder: Der Vergeltungsschlag wird schon in jener Zeitspanne von zwölf bis 25 Minuten ausgelöst, in der die US-Warnsysteme den Anflug feindlicher Raketen melden ("Launch on warnig"). Dabei wird riskiert, daß die Entscheidung zum Vergeltungsschlag auf falschen Informationen beruht, seien es Meteoritenschwärme, die als Raketen mißdeutet werden, oder seien es Fehler im Computer-Netz.

Bisher neigten Washingtons Atom-Strategen offenkundig zur Variante I. Zu groß schien den amerikanischen Präsidenten, seit der Ära Kennedy, die Gefahr einer Atomkriegsentscheidung auf Grund falscher Prämissen.

Gegenwärtig aber scheint sich im Pentagon ein Schwenk zur Variante II abzuzeichnen.

Den neuen Trend zur »Launch on warning«-Strategie hat US-Verteidigungsminister Brown in seinem jüngsten Jahresbericht angedeutet. Ein sowjetischer Überraschungsangriff, so Brown, sei wenig wahrscheinlich, denn »kluge Planer« in Moskau könnten niemals sicher sein, »daß wir nicht unsere Interkontinentalraketen schon während der Warn-Phase auf den Weg bringen«.

Gibt künftig der Präsident der Vereinigten Staaten den Befehl zur atomaren Gegenwehr schon, wenn die Feindraketen erst als (fehlgelesene?) Schemen und Lichtpunkte auf den Bildschirmen sichtbar werden?

Die Gefahr eines Atomkriegs aus Versehen wäre dann größer als je zuvor.

S.109Rechts: Peter Sellers in der Titelrolle.*

Zur Ausgabe
Artikel 1 / 85
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren