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Artikel 36 / 81

ZWEI VERWALTER UNTER DEM ROTEN STERN

aus DER SPIEGEL 47/1966

Wenn er aus dem Fenster links neben

seinem Schreibtisch blickt, sieht Ministerpräsident Alexej N. Kossygin oben auf dem Kremlturm einen leuchtenden roten Stern, das Symbol des Kommunismus.

Vor 47 Jahren, er war erst 15, ging er von zu Hause fort, um in der Roten Armee für die Sache des Kommunismus zu kämpfen. Sein Vater arbeitete an einer Drehbank in einer Petersburger Fabrik. Alexej Kossygin selbst kommandiert heute die gesamte Industrie, die in fünf Jahrzehnten kommunistischer Herrschaft aufgebaut wurde.

Dokumente, die sehr wichtig sind, legt er in feine rote, grüne und braune Ledermappen; er schiebt den Stapel auf seinem Schreibtisch - fertig für den nächsten Tag - so zusammen, daß die Kanten genau übereinander liegen.

Manchmal empfängt er noch einen späten Besucher; er braucht keine Notizen, um sich an Fakten und Statistiken erinnern zu können. Dann geht er in seine Dienstwohnung, einige Blocks von den Kremlmauern entfernt.

Als Leonid I. Breschnew, Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjet-Union, kürzlich eine internationale Ausstellung für Büromaschinen besuchte, regnete es. Er trug einen zerknitterten blauen Regenmantel und einen Filzhut, der schon ziemlich aus der Facon geraten war.

Es ist geradezu rührend zu beobachten, wie das Oberhaupt der schwerfälligsten Bürokratie der Welt die Rechenmaschinen, die Computer und all die

modernen Geräte, die die Arbeit im Büro angenehmer machen sollen, eingehend studiert. Wenn die Maschinen nur die bürokratische Mentalität beseitigen könnten, Breschnews Arbeit wäre leichter. Er steckte eine neue Zigarette in seine zierliche kleine Zigarettenspitze und tat einen tiefen Zug.

Zwei Jahre lang sind nun diese beiden Männer verantwortlich für die Entwicklung des Kommunismus in der Sowjet-Union, deren kommunistische Gesellschaftsordnung bald ein halbes Jahrhundert besteht. Sie regieren über einen Staat der Anomalien und inneren Widersprüche.

Es ist eine Gesellschaft, in der man Aussprüche wie diesen - er kommt von einem jungen, gerade erst verheirateten Ukrainer, der sich in der Moldau niederließ - hören kann: »Unsere Regierung läßt uns jetzt eigene Wohnungen bauen.« Kein Anflug von Ironie, nur reiner Stolz und reine Freude - und ganze Welten liegen in diesem einfachen Satz.

Die sowjetische Regierung ist großzügiger geworden oder zumindest hat es den Anschein. Man hat nun auch den Komfort und das Wohlergehen des Volkes im Auge. Es gibt noch einige, die sagen, in einer kommunistischen Gesellschaftsordnung dürfe niemand gezwungen sein, sich seine eigene Wohnung bauen zu müssen - und man trifft auch tatsächlich Leute mit Prinzip, die es sich sehr wohl leisten könnten, sich an einem gemeinschaftlichen Bauprojekt zu beteiligen, es aber mit der Begründung zurückweisen, es sei Sache des Staates, sich um Wohnungen zu kümmern.

Für einen jungen Ukrainer aber hat der Kommunismus den Punkt erreicht, an dem der einzelne Dinge tun kann, die für Individuen außerhalb der kommunistischen Gesellschaft selbstverständlich sind.

Breschnew und Kossygin regieren eine Gesellschaft, in der zwei hochbegabte Schriftsteller als Kriminelle bestraft werden, weil sie nicht genau so schrieben, wie es die Regierung vorschreibt. Sie herrschen aber auch über eine Gesellschaft, die Angehörige alter Stämme aus Zentralasien in ein produktives Industrieproletariat verwandelte und ihnen einen Lebensstandard bescherte, der meistens höher ist als jener der Länder des Mittleren Ostens, jenseits der sowjetischen Grenzen.

Die ein halbes Jahrhundert alte sowjetische Gesellschaft hat Wirtschaftler hervorgebracht, die erkannten, daß das freie Spiel zwischen Angebot und Nachfrage Vorteile bringt.

Sie hat Künstler hervorgebracht, die die Wirklichkeit wie Photographen wiedergeben. Es ist wahrscheinlich die erste Gesellschaft, die einen Mann auf den Mond bringen wird. Möglicherweise aber die letzte, die in der Lage ist, einem, Gast in einem Restaurant eine warme Mahlzeit vorzusetzen.

An der Spitze dieser Gesellschaft steht heute eine Regierung, die sich der Widersprüche, denen sie gegenübersteht, sehr wohl bewußt ist, die sich mit jedem Problem, das sich auftut, befaßt und versucht, einen mittleren Weg mit einem größtmöglichen Spielraum zu finden. Gewalt ist nicht ihr Stil. Im Prinzip sucht sie weder dem Kommunismus einen neuen Inhalt zu geben, noch sich

in die Festung der stalinistischen Vergangenheit zu flüchten - eine Zeit, in der die Politik zwar nicht gut, aber klar umrissen war. Praktisch tut sie nun etwas von beidem.

Die Politik von Breschnew und Kossygin läuft darauf hinaus, daß die Sowjet -Union jetzt in sich selbst ruhen müsse; das letzte, was man jetzt brauche, sei die dynamische Führung von Chruschtschow, der auf ein Ziel zustürmte, das er selber nicht genau zu kennen schien.

Sie herrschen nicht nach dem Führerprinzip, sondern verwalten - im großen und ganzen sehr geschickt - die widerstreitenden Kräfte, die bei der Entwicklung des Kommunismus aus seinem revolutionären Stadium in die zweite Hälfte des Jahrhunderts am Werke sind. Auch diesmal scheint niemand das Ziel zu kennen.

Es ist eine außergewöhnliche Regierungsspitze. Der westdeutsche Kreml-Experte Wolfgang Leonhard schrieb, daß mit Breschnew und Kossygin die beiden höchsten Stellungen in der sowjetischen Hierarchie - die Parteiführung und die Regierungsspitze - von zwei Männern bekleidet werden, die gleichberechtigt sind. Damit unterscheidet sich dieses Duumvirat grundlegend von den vorhergehenden wie, Chruschtschow - Bulganin (Februar 1955 bis März 1958), bei denen man immer genau wußte, wer der Mann an der Spitze war.

Im Prinzip besteht auch heute kein Zweifel, wer an der Spitze steht; das Charakteristische an dieser Führungsspitze ist jedoch, daß der Mann an der Spitze nicht

wie seine Vorgänger seine Vorherrschaft auf allen Gebieten der Politik geltend macht. Es wäre vielleicht noch richtiger, zu sagen, daß das Gleichgewicht in der kollektiven Führung ihm nicht erlauben würde, seine Vorherrschaft geltend zu machen, selbst wenn er es versuchte.

Leonid Iljitsch Breschnew, 59, ist der Mann, den Chruschtschow auf dem Stuhl des Parteipräsidiums zurückließ, als er seinen letzten Urlaub nahm, bevor er sein Amt aufgeben mußte. In den letzten Monaten des alten Regimes bestand kein Zweifel mehr daran, daß Breschnew der designierte Erbe der kommunistischen Parteiführung war.

Breschnew, ein hochgewachsener Mann mit buschigen Augenbrauen, die er stets spöttisch nach oben zieht, verzichtete auf den Stil Chruschtschows und versuchte nicht, auf die Öffentlichkeit Eindruck zu machen. Seine Stimme ist monoton und heiser, und doch hat er eine bestimmte Art, die anderen den Mut zum Argumentieren nimmt.

Leute, die ihn genau kennen, sagen, daß er einen Zug russischer Extravaganz an sich habe, wenn er unter Freunden ist oder an Gesellschaften teilnimmt. Wenn das stimmt, dann verstehen es Breschnew und seine Frau Viktoria gut, sich zu verbergen.

Die Breschnews haben drei Kinder: zwei Söhne, von denen einer im Außenhandelsministerium arbeitet, der andere studiert Journalismus an der Moskauer Universität. Ihre Tochter Galina arbeitet bei der sowjetischen Nachrichtenagentur Nowosti.

Mit der sowjetischen Praxis, Familienmitglieder aus dem Rampenlicht der Öffentlichkeit fernzuhalten, brachen die Breschnews, als Galina ihre Eltern 1962 bei einem offiziellen Besuch in Jugoslawien begleitete und durch ihre teure Garderobe Aufsehen erregte.

Als der ältere Sohn Breschnews mit einer Handelsdelegation England besuchte, leugneten die Angehörigen der Sowjetischen Botschaft in London aber sogar eine verwandtschaftliche Beziehung zum Generalsekretär.

Breschnew verdankt seine Parteikarriere Chruschtschow und der ukrainischen Parteimaschinerie. Er ist zwar Russe, wurde jedoch im ukrainischen Stahlzentrum von Dnjeprodserschinsk geboren und erst als Landvermesser, dann als Hütteningenieur ausgebildet. Innerhalb des Parteiapparates kam er zügig voran; Stalin ernannte ihn zum Parteisekretär der Moldau-Republik.

Breschnews Partner Alexej Nikolajewitsch Kossygin, 62, war früher ins öffentliche Leben getreten. Seine Ausbildung zum Textil-Ingenieur brachte ihm zunächst eine führende Stelle in der Industrie, er kam aber bald in die Politik, als er 1938 ein Amt antrat, das dem Rang eines Bürgermeisters von Leningrad entspricht.

Als die Leningrader Parteiorganisation Ende der vierziger Jahre einer Säuberung zum Opfer fiel, überlebte der Technokrat Kossygin.

1960 ernannte Chruschtschow Kossygin zum ersten stellvertretenden Premier, und das blieb er - ein Verfechter der Leicht-Industrie, mit deren Hilfe er den Lebensstandard in der Sowjet -Union anheben wollte.

Abgesehen von einer gewissen Schüchternheit bei öffentlichen Auftritten, wirkt Kossygin umgänglicher als Breschnew. Mit seinen traurigen blauen Augen schaut er sein Gegenüber direkt an und spricht mit sanfter Eindringlichkeit und Überzeugung. Seine Reden sind beispiellos langweilig, in der Unterhaltung aber ist er gewandt, oft macht er in fast jungenhafter Art auch witzige Zwischenbemerkungen.

Ganz in seinem Element ist er, wenn er Maschinen besichtigt oder neue Produkte prüft. Kossygin scheint es dann zu bedauern, daß er die sowjetische Macht verkörpern muß. Bei einer britischen Handelsmesse in Moskau versuchte er die Polsterung eines neuen englischen Doppelstockbusses zu testen, sprang aber hastig wieder auf, als sich Photographen näherten, um ihn in der Pose eines englischen Fahrgastes aufs Bild zu bannen.

Kossygin arbeitet bis zur Erschöpfung. Wenn auch seine Geschicklichkeit bei der Verwaltung der schwerfälligen sowjetischen Wirtschaftsbürokratie kein großes Erstaunen erregte, so hatte doch niemand mit einem Erfolg auf diplomatischer Ebene gerechnet.

Seine Vermittlungsversuche in Taschkent zwischen Indien und Pakistan machten ihn unversehens zu einer internationalen Figur. Die Öffentlichkeit war auch beeindruckt von einem Photo, das zeigte, wie er mit gequält-zerfurchtem Gesicht, dem man die schlaflosen Nächte ablesen konnte, mithalf, den Sarg von Lal Bahadur Schastri aus der Villa in Taschkent zu tragen, der nur wenige Stunden nach Unterzeichnung des Vertrages mit Pakistan gestorben war.

Wenn sie gemeinsam in der Öffentlichkeit auftreten, überläßt Kossygin dem Parteisekretär Breschnew ganz das Feld. Die Partei steht sichtbar immer noch über der Regierung.

Kossygins Steckenpferd ist der häufig diskutierte Industrie-Reformplan, der - statt der theoretischen Planung vom Zentrum her - örtliche Initiativen hervorhebt. Mit dem steigenden Vertrauen auf die Technik, sachlichen Antrieb, durch Profit errechnete Erfolge, eine durch Angebot und Nachfrage gelenkte Produktion entfernt sich die kommunistische Wirtschaft von den Utopien der frühen Marxisten. Sie sucht einen Mittelweg. Und das bedeutet eine Annäherung an die Nachkriegs -Entwicklung der westeuropäischen Wirtschaft, die sich durch technische Planung und Verstaatlichung der Schlüsselindustrien vom klassischen Kapitalismus wegentwickelte.

Aus ihrer ideologischen Sphäre, die nur oberflächliche Kontakte zum Ausland gestattet, hat sich die Nach-Chruschtschow-Führung nicht entfernt. Die jetzigen Männer im Kreml vermitteln den Eindruck, als ob sie wünschten, die Außenpolitik möge nicht bis zum Kreml dringen und sie mit ihren Problemen allein lassen.

Das ursprüngliche Bemühen, den Streit mit dem kommunistischen China beizulegen, führte zu nichts, und die Sowjetbeamten scheinen jetzt das Schisma im Weltkommunismus als gegeben hinzunehmen.

Copyright 1966 The New York Times News Service.

Ministerpräsident Kossygin: Schüchtern, traurig, witzig, sanft

Parteichef Breschnew: Maschinen gegen Bürokraten

Peter Grose

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