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Artikel 48 / 81

Zwei zu eins gegen den Tod

aus DER SPIEGEL 43/1969

2. Fortsetzung und Schluß

Als ich Albert Schweitzer in Lambarene begegnete, rührte der Fünfundachtzigjährige, auf dem Boden hockend, in einem Marmeladen-Eimer Zement für das Fundament einer Eingeborenen-Unterkunft an. Gleichzeitig gab er ein paar schwarzen Helfern Anweisung, wie sie zwei Balken für die Hütte verzapfen sollten.

»Wieso wissen Sie das alles?« fragte ich den Doktor der Philosophie, Theologie und Medizin. Der »größte Mensch des Jahrhunderts« (so Albert Einstein über den Urwaldarzt) blickte vom Marmeladen-Eimer auf: »Weil ich gebildet bin.«

Weniger weltfremd als seine schwärmerischen Anbeter und klüger als seine intellektuellen Kritiker, wußte Albert Schweitzer, daß der Wert von Bildung und Erziehung relativ ist und von der Umwelt bestimmt wird. Die meisten Regierungen der armen wie der reichen Welt tun, als wußten sie es nicht.

Bildungs- und Erziehungs-Ideale der Industrienationen sind in den hungernden Erdteilen soviel nutze wie eine Wasserski-Ausrüstung im Himalaya. Dennoch orientieren sieh die Lehrpläne der meisten unterentwickelten Länder an denen der entwickelten Länder. Durchweg entsprechen sie nicht den Anforderungen ihrer Gesellschaften. Von allen Fehlern aber, die junge Staaten begehen können. ist eine falsche Ausbildung der Jugend vielleicht der verhängnisvollste.

Während in den entwickelten Ländern etwa ein Viertel der Bevölkerung unter 15 Jahren ist, liegt der Anteil in den unterentwickelten Ländern fast doppelt so hoch. Nahezu jeder zweite Mensch in Asien, Afrika und Lateinamerika ist Kind -- insgesamt über eine Milliarde. Und diese Milliarde muß von den arbeitsfähigen Jahrgängen mit durchgefüttert werden.

Wenn es nicht gelingt, diese Milliarde so zu erziehen, daß sie schon in wenigen Jahren die Ernährung, die Entwicklung und den Geburten-Rückgang der Elends-Kontinente garantieren kann, ist das Spiel, verloren.

Einst wünschte sich ein gefeierter Part der chinesischen Sung-Dynastie

Der ungekürzte Text erscheint unter dem Titel »Die menschliche Springflut« im Verlag Ullstein GmbH: 212 Seiten: 20 Mark.

(960 bis 1279 n. Chr.): »Ich, der durch Intelligenz sein ganzes Leben ruiniert hat, kann nur hoffen, daß mein Baby sich als dumm und beschränkt erweisen möge, damit es ein geruhsames Leben als Kabinetts-Minister beschließen kann.« Die Voraussetzungen, Regierungs-Mitglied zu werden, haben sich seitdem nicht unbedingt verändert.

Aber von der Erziehung der Massen hängt die Zukunft der Staaten ab, sei es die Zukunft jener 30 reichsten der reichen Länder, in denen 95 Prozent aller menschlichen Forschungstätigkeit durchgeführt werden; sei es die Zukunft Mauretaniens, wo 98 Prozent aller Einwohner Analphabeten sind

Die unterentwickelten Länder vermitteln Wissen nach zwei Formeln: dem offenen und dem begrenzten Erziehungs-Schema.

* Prinzip der offenen Erziehung ist es. daß jeder lernen kann -- solange, soviel und was er will. Dieses Schema herrscht in Asien und Lateinamerika vor

Prinzip der begrenzten Erziehung ist es, nach der Grundschule eine rücksichtslose Auswahl für höhere Schulen und Universitäten zu treffen. Dieses Schema wird am häufigsten in Afrika angewandt. Vor- und Nachteile der beiden Verfahren sind offenkundig. Das offene Schema ist demokratischer, senkt jedoch das Niveau und kostet zuviel. Das begrenzte Schema ist undemokratischer, birgt die Gefahr einer ungerechten Auslese, ermöglicht aber zumindest theoretisch eine günstige Relation von Kosten und Ertrag.

Bis an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit pumpen die unterentwickelten Staaten Geld in die Erziehungs-Kanäle. Insgesamt geben sie jährlich etwa elf Milliarden Dollar aus. Mexiko, das im Vertrauen auf den Schutz seines oft angefeindeten US-Nachbarn nur eine Mini-Armee unterhält, wendet für seine Schüler viermal soviel Pesos auf wie für seine Soldaten: ein Viertel des Bundeshaushalts.

Noch erstaunlicher sind die Anstrengungen Formosas. Obgleich die Insel ndr durch 150 Kilometer Wasser von Maos Roten Garden getrennt ist, frißt die Erziehung (30 Prozent) nicht viel weniger als die Verteidigung (40 Prozent) aus dem Haushalt.

Aber noch immer sind 60 Prozent der Erwachsenen in der armen Welt Analphabeten. Von 100 Menschen über 15 können in Lateinamerika 30 weder lesen noch schreiben, in Asien 60 und in Afrika 80. Ihre Zahl nimmt nicht ab, sondern zu. Im letzten Jahrzehnt kletterte sie von 700 auf 850 Millionen. Und sie wird weiter steigen.

Nur jedes zweite Kind in den unterentwickelten Ländern geht zur Schule. Von allen Abc-Schützen, die in die unterste Klasse eintreten, wird nicht einmal die Hälfte durch das vierte Schuljahr geschleust.« Dropouts« werden die Abgänge genannt.

Selbst für den Rest, der die Schulbänke drückt, sind nicht genug Lehrer vorhanden. Die Weisheit des Talmud »Ein Lehrer soll 25 Schüler haben« ist nur noch frommer Wunsch. Von 1950 bis 1966 verschob sich das Lehrer-Schüler-Verhältnis in Indiens Grundschulen von 1:35 auf 1:49. Indiens Lehrer haben selbst oft nur acht Schuljahre hinter sich. Sie verdienen weniger als der Koch einer privilegierten Familie.

Die Kinderlawine macht jeden Versuch zunichte, die Situation mit herkömmlichen Mitteln zu bewältigen. Der Lehrermangel ist der bedrohlichste Engpaß. In den nächsten zehn Jahren benötigt Lateinamerika zwei Millionen, Afrika drei Millionen, Asien 16 Millionen neue Lehrer.

Wie beim Streben nach Industrialisierung hat auch auf dem Gebiet der Erziehung das weiße Vorbild fatale Folgen nach sich gezogen. In den ersten Jahren der Unabhängigkeit nahmen die Anstrengungen der jungen Völker, die Erziehung der ehemaligen Herren nachzuäffen, absurde Formen an:

* In Tansania konnte einer nur Maurer werden, wenn er in dem Land nahe dem Äquator einen Kamin nach britischen Vorschriften zu bauen vermochte.

* In Nigeria begann der Geschichtsunterricht mit der »Entdeckung« des Nigers durch Weiße.

* In Kenia lernten Oberschüler britische Verfassungs-Geschichte.

* Und nach Ghana wurden zu Schul-Experimenten Frösche aus Schottland eingeflogen, weil die Ghanesen nichts Schlechteres lernen wollten als die Briten -- und in ihren Lehrbüchern von solchen Fröschen die Rede war.

Der Masse der Kinder wird in den Schulen der unterentwickelten Welt Wissen eingetrichtert, das sie in ihrer Umwelt nicht nutzen können.

Verschärft stellt sich das Problem bei den Studenten. In Ghana studierten 1963 weniger als jeweils ein Prozent Medizin, Landwirtschaft, Naturwissenschaften -- mehr als 92 Prozent studierten die Rechte und die schönen Künste. In Lateinamerika, das Techniker so nötig hat wie Ferrari-Fahrer Mechaniker, sind die technischen Hochschulen nur schwach belegt. In Kairo waren Mitte dieses Jahrzehnts über 70 Prozent der Studenten in den Fakultäten der Kunst, des Rechts und des Handels eingeschrieben.

Resultat: Unter beträchtlichen Opfern -- in Afrika kostet ein Student sein Volk im Durchschnitt 40 Jahreseinkommen -- haben die armen Gesellschaften eine Elite ausgebrütet, die ihnen nicht nur wenig nützt, sondern ihnen sogar schaden kann. In Lateinamerika müssen die meisten Abiturienten und Akademiker mit mehreren Jahren Arbeitslosigkeit rechnen. Und in Indien hat die Zahl der Arbeitslosen mit abgeschlossenem Studium oder höherer Schulbildung bereits die Millionengrenze überschritten.

Diese »gebildeten« Arbeitslosen sind die natürlichen Feinde der bestehenden Ordnung. Schon bei den Studenten-Unruhen in Europa war zu erkennen, daß sich Angehörige jener Fakultäten besonders radikal gebärdeten, denen unsere Gesellschaft die geringsten Aufstiegs-Chancen zu bieten hat. In der armen Welt kann das unmittelbar zu Gewalt führen. Denn die Arbeitslosen in den Slums der Großstädte warten nur darauf, geführt zu werden. In dem gebildeten Proletariat, das die Erziehungs-Systeme der unterentwickelten Länder ausstoßen, erwachsen den potentiellen Revolutions-Armeen potentielle Kommandeure.

Bereits die erste Druckwelle der Bevölkerungs-Explosion wird im nächsten Jahrzehnt die Schulhäuser der armen Welt wie Puppenstuben auseinanderplatzen lassen. Die unterentwickelten Länder werden deshalb für ihre Erziehungs-Systeme neue Formen und neue Inhalte finden müssen.

Den neuen Inhalt haben zahlreiche Erzieher erkannt und eine Reihe junger Staaten in neuen Erziehungs-Programmen bereits eingeplant: In der Grundschule sind Fächer wie Hygiene und Ernährung so wichtig wie das Abc; in der höheren Schule muß die Berufs-Ausbildung von Landwirten und Handwerkern Vorrang vor Poesie und Algebra genießen; in den Universitäten endlich werden die Regierungen den Strom ihrer Studenten rigoros, den Entwicklungs-Notwendigkeiten entsprechend, auf die verschiedenen Fakultäten zu verteilen haben.

Die Abc-Schützen von heute werden im 21. Jahrhundert arbeiten -- mit einer verdoppelten Weltbevölkerung. Darauf haben wir sie zu präparieren. Die vordringliche Aufgabe ist nicht, einem Minimum an Menschen ein Maximum von Bildung zu bescheren, sondern einem Maximum an Menschen ein Minimum von Wissen zu vermitteln.

Um die neuen Massen zu erziehen, reichen der mündliche und der geschriebene Unterricht nicht mehr aus -- durch Gespräch und Buch. Allein die Zahlen machen eine Revolution in der Erziehung notwendig. Und das neue Medium ist im 20. Jahrhundert zur Stelle wie Johann Gutenberg im 15. Jahrhundert: das Fernsehen.

Drei Eigenschaften machen das Fernsehen heute zum geeigneten Medium für die Erziehung von Massen:

* Es fesselt die Aufmerksamkeit der Schüler. Die Verbindung von Ton und Bild ist unschlagbar, wenn es darum geht, Vorgänge wiederzugeben -- sei es das Keimen eines Weizenkorns« sei es der erste Schritt auf dem Mond.

* Es vermittelt Anschauungsmaterial in höchster Qualität, wie es ein Dorflehrer niemals zu bieten vermag.

* Es ermöglicht Rationalisierung. Die Anforderungen an die Klassenlehrer, die Aufsicht führen und Schularbeiten überwachen müssen, können drastisch zurückgeschraubt werden.

Fernseh-Unterricht wird heute bereits in Kolumbien, Niger, Nigeria, Singapur und Äthiopien erteilt. Programme für Erwachsenen- und Lehrer-Fortbildung gibt es in Peru und Algerien. Ein neues umfangreiches Projekt soll von der Weltbank an der Elfenbeinküste finanziert werden. Rückgrat der schulischen Erziehung ist das Fernsehen aber allein auf Amerikanisch-Samoa, der Inselgruppe zwischen Australien und Südamerika.

Mit untergeschlagenen Beinen hocken die sanftbraunen Kinder dort auf Bastmatten hinter kniehohen Pulten am Boden. Der alte Dorflehrer steht -- den samoanischen Rock um die Hüften gewickelt, die Arme verschränkt -- am Fenster. Seine Schüler starren wie gebannt an ihm vorbei auf einen Apparat an der Stirnwand der Klasse: Schul-TV.

Die erste Unterrichtsstunde dieses Morgens, Englisch, ist angebrochen, und es beginnt, was die zivilisierte Welt nicht mehr kennt, seit die Kasperle im Kasperle-Theater nicht mehr fragen: »Seid ihr alle da?« und die Zuschauer mit glühenden Backen rufen: »Ja!«. Es beginnt ein Gespräch zwischen Kindern und Kasten.

»Good morning«, sagt Mrs. Applewhite auf der Mattscheibe. »Good morning«, quietscht die Klasse. Mrs. Applewhite lächelt, daß ihre Jacket-Kronen blitzen. Schon hat sie ein Glas Milch zur Hand: »Dies ist Milch. Was ist das?« Doch kaum hat der Chor geantwortet, schüttelt Mrs. Applewhite betrübt die ondulierten grauen Locken: »Tst, tst, nein, nein. Nicht: »Eine Milch«, sondern »Milch«. Noch einmal: Was ist das?« Mrs. Applewhite mag aussehen wie eine Tochter der amerikanischen Revolution, aber sie hat die Kraft, vorauszuahnen wie Pythia. Ohne sie zu hören, hatte sie die Fehler ihrer Zuschauer richtig antizipiert. Tatsächlich hatten einige Schüler auf die erste Frage geantwortet: »Das ist eine Milch.« Nun, heim zweiten Mal, klappt es wie bei »einer preußischen Vereidigung.

8000 Schüler in 28 Schulen auf fünf Samoa-Inseln trinken so an diesem Morgen vom Brunnen der Weisheit. 25 Lehrer und 125 Hilfskräfte produzieren in vier TV-Studios von Pago Pago das Wochenprogramm: 200 Lektionen von etwa je 20 Minuten, die auf sechs verschiedenen Kanälen (für die verschiedenen Klassen) ausgestrahlt werden.

Der von der amerikanischen Regierung vor fünf Jahren auf Samoa gestartete Versuch einer umfassenden TV-Erziehung kann als geglückt gelten. Die Fernseh-Schüler werden reif für jedes US-College, aber auch fit für das Leben in der Südsee.

Der Neuseeländer George Pittmann führte einen Vergleichs-Test durch zwischen Schülern des fünften und sechsten Schuljahres in den TV-Schulen Samoas und Gleichaltrigen auf der einzigen Insel, die das Programm nicht empfangen kann. Die Fernseh-Schüler siegten mit 63,5 zu 33 Punkten.

Heikel scheint zunächst lediglich die Kostenfrage. Ein TV-Schüler in Samoa kostet im Jahr fast soviel wie ein Normal-Schüler in den USA: 470 Dollar (gegenüber 500 Dollar). Die Kosten schrumpfen jedoch auf einen Bruchteil, wenn das gleiche Programm nicht für 6000, sondern für 80 000 oder gar für 80 Millionen produziert und ausgestrahlt werden kann.

Der Aufbau eines Netzes für TV-Unterricht in Indien (mit Batterie-Geräten, weil fast neun von zehn Dörfern keinen Strom haben) würde schätzungsweise eine Milliarde Dollar verschlingen. Viel Geld? Die Bundesrepublik allein gibt alle Jahre wieder fünfmal soviel für ihre schirmende Wehr aus. Billiger kann sich die Welt das Überleben gewiß nicht mehr erkaufen. »Menschliche Geschichte«, schrieb H. G. Wells seherisch, »wird mehr und mehr zum Rennen zwischen Erziehung und Katastrophe.« Denn von dem Bildungsgrad der Massen wird es mit abhängen, ob die Menschen der unterentwickelten Welt eines Tages zur Geburten-Kontrolle bereit sein werden oder nicht.

Marie de Rabutin-Chantal, Marquise de Sévigné, schrieb in ihrem siebzigjährigen Leben (1626 bis 1696) über 1500 Briefe. Alle zeichneten sich durch Eleganz und Schärfe aus. Niemals aber war Marie offener und witziger als in der Korrespondenz mit ihrer Tochter. In einem dieser Schreiben beklagte sie sich bitter über die zu jener Zeit in Paris aufgekommenen Verhütungs-Mittel für Männer. Die Kondome erschienen ihr wie »eine Rüstung gegen das Vergnügen und ein Spinnen-Netz gegen die Gefahr«.

Der Ärger der Marquise war so alt wie die menschliche Zivilisation. Schon in einer vor 4000 Jahre bemalten Papyrus-Rolle wurde den Damen des frühen Ägypten als Sperre ein Pfropfen aus Krokodil-Losung anempfohlen. Zu anderen Zeiten, an anderen Orten wurden Tang oder Feigen, Bienenwachs oder ein Schwamm für das geeignete Material gehalten; Casanova de Seingalt erwähnt im 18. Jahrhundert auch eine halbe Zitrone.

Im Griechenland und Rom der Antike sollten Amulette aus dem Schoß einer Löwin vor unerwünschten Folgen bewahren; im Europa des Mittelalters diente das Herz eines Salamanders dem gleichen Zweck. Honig, in dem tote Bienen steckten, schluckten die Frauen Japans; in Nordafrika tranken sie Wasser, mit dem Leichen gewaschen worden waren, oder aßen Schaum vom Maul eines Kamels. 1564 wurden erstmals Kondome für Männer aus Leder und Leinen erwähnt. In der islamischen Welt kamen Spülungen mit Pfeffer auf. Und ein griechischer Arzt riet vor 1900 Jahren dem schwächeren Geschlecht, während des männlichen Orgasmus die Luft anzuhalten und anschließend zu niesen.

Alle diese Rezepte garantierten jedoch keinen Genuß ohne Reue. Auch sie bildeten allenfalls »eine Rüstung gegen das Vergnügen«. Alle diese Rezepte zielten freilich auch nur auf private Sorglosigkeit ab. Sie dienten nicht dazu, einen generellen Geburten-Rückgang herbeizuführen. Denn Jahrtausende hindurch vermehrte sich die Weltbevölkerung so langsam, daß die Drohung einer Übervölkerung undenkbar erschien.

Doch heute ist die Bedrohung der Menschheit durch sich selbst unmittelbar: In nur 37 Jahren wird sich ihre Verdoppelung vollziehen, und in 650 Jahren wird ein Mensch auf jedem Quadratfuß Erde stehen -- falls wir nichts tun.

Alle Anstrengungen, den Frieden zu wahren und die Menschen zu sättigen, Wohlstand in die arme Welt zu tragen und ihre Kinder zu bilden, drohen begraben zu werden unter einer Lawine menschlicher Leiber.

Bis zum vorigen Jahrhundert starb die Hälfte aller Menschen, bevor sie erwachsen waren. Durchbrüche der Medizin setzten die Lebenserwartung jäh herauf und die Kinder-Sterblichkeit herab.

Im vergangenen Jahrhundert schwoll beispielsweise Rußlands Bevölkerung von 37 auf 115 Millionen an. In diesem Jahrhundert wächst die farbige Welt noch ungleich schneller. 1950 betrug die Lebenserwartung in Indien 32 Jahre, heute 51 Jahre. 1945 starben in Ceylon von 1000 Menschen 22, letztes Jahr nur noch acht.

Und sobald Medizin und Hygiene in der farbigen Welt die Lebenserwartung weiter verlängern, muß die Menschheit noch schneller wachsen, das Mißverhältnis zwischen Geburt und Tod noch größer werden. Schon heute sterben jeden Tag, jeden Monat, jedes Jahr nicht einmal halb so viele Menschen auf der Welt, wie in dem gleichen Zeitraum geboren werden.

Was tun, um das verlorene Gleichgewicht wiederzufinden?

Da keine Zeit bleibt, auf den wirtschaftlichen Wohlstand zu warten, der automatisch einen Geburten-Rückgang bringt, müssen wir die Entwicklung künstlich beschleunigen. Das Mittel, das reiche und arme Welt dafür bisher gefunden haben, heißt: »Familien-Planung«. Durch Aufklärung und medizinische Hilfeleistung versuchen Regierungen der unterentwickelten Länder, ihre Einwohner zu einer Senkung der Geburten-Rate anzuhalten.

Aber: Bisher haben Völker noch nie Kinder gezeugt oder nicht gezeugt, wenn ihre Regierungen es befahlen. Kein einziges europäisches Land hat je seine Geburten-Rate gesenkt, weil die Regierung es so wollte.

Die ersten Geburten-Rückgänge in Europa in den letzten zwei Jahrhunderten gab es in zwei stockkatholischen Ländern, gegen die Wünsche von Kabinett und Kirche: in Frankreich und in Irland.

Japan hat nach Weltkrieg II das Wunder vollbracht, seine Geburten-Rate zu halbieren. 1947 entfielen auf 1000 Japaner 34,3 Geburten im Jahr; 1956 waren es nur noch 17,2. Das ist der rapideste Abstieg einer Geburten-Quote in der Geschichte.

Aber zu Unrecht wird diese Entwicklung oft als Erfolg einer staatlich gelenkten Geburten-Beschränkung gepriesen. Tatsächlich befahl nicht die Regierung; die Eltern selbst wünschten -- in einer Industrienation -- weniger Kinder. Unter dem wirtschaftlichen Druck der Nachkriegszeit erreichten sie ihr Ziel auf die barbarischste und weitestverbreitete Methode der Geburten-Beschränkung: durch Abtreibung. 1955 wurde die Zahl der Abtreibungen in Japan auf 1,2 Millionen geschätzt.

Die Situation in drei unterentwickelten Ländern Asiens -- Pakistan, Indien und China -- ist heute dagegen verzweifelt.

Pakistans Ajub Khan war als Mann und Staatsmann für seine Unverblümtheit gefürchtet. Anschaulich formulierte er gegenüber Präsident Kennedy seine Wünsche, die Fruchtbarkeit der Schönen seines Landes einzudämmen: »Wir möchten, daß sie eine Pille schlucken. Dann puff -- und das war's.«

Doch die Pille, die der Westen zu bieten hat, nutzt Pakistan sowenig wie allen unterentwickelten Ländern. Abgesehen davon, daß die meisten Regierungen den Nebenwirkungen der Pille mißtrauen, ist sie zu kompliziert: Frauen mischen sie ihren Männern in die Suppe, essen alle auf einmal oder vergessen, sie zur rechten Zeit einzunehmen.

In Pakistan, wie im Rest der armen Welt, sind daher die wichtigsten Waffen der Familien-Planung Abtreibung und Sterilisation, Kondome und Gebärmutter-Einlagen in Form von Stiften, Ringen oder Schleifen.

Der Pakistani, der sich sterilisieren läßt, erhält 25 Mark Belohnung; der Verkäufer eines Kondoms darf die Hälfte des Preises einstreichen; und eine Hebamme, die eine Frau mit einer Spirale versorgt, bekommt 2,50 Mark.

Rund 50 Millionen Mark gibt die Regierung im Jahr für Familien-Planung aus. Aber ein Rückgang der Geburten-Rate ist dennoch nicht zu erkennen. Das 45-Millionen-Volk der Jahrhundertwende ist heute 134 Millionen stark. Seine Zuwachs-Rate beträgt 3,3 Prozent. Es muß sich, somit, in 21 Jahren verdoppeln.

Indiens Zuwachs-Rate ist etwas geringer. Verdoppelungs-Zeit: 28 Jahre. Aber: Die Bevölkerungs-Zahl ist mehr als viermal so groß -- 540 Millionen, zu denen sich alle vier Wochen eine neue Million gesellt.

Aberglaube und Gerüchte erschweren jede Familien-Planung. Ein Pessar, so wurde gewispert, werde durchs Blut ins Gehirn geschwemmt, gebe dem Mann einen Schock, klemme ihn ein.

Über 213 Millionen Mark wendet die Regierung jährlich für Familien-Planung auf. Insgesamt wurden in den letzten fünf Jahren für jeweils 20 Mark Belohnung fast sechs Millionen Inder sterilisiert, über drei Millionen Spiralen eingepaßt und 50 Millionen Kondome ausgegeben. Und dennoch erreicht die Familien-Planung mit ihren 26 000 Zweigstellen höchstens ein Viertel der Bevölkerung. Einstweilen wird es dabei bleiben: Jede Stunde gibt es 1500 Inder mehr auf Erden.

Von unfreiwilliger Symbolkraft ist unter solchen Umständen der lebenslängliche Propaganda-Marsch für die Familien-Planung, zu dem ein junges Elefanten-Weibchen mit menschlicher Besatzung aufgebrochen ist. Auf der Stirn trägt es ein rotes Dreieck, »Lal Tikon«, das Wahrzeichen der indischen Familien-Planung. An den Seiten künden Spruchbänder: »Mein Name ist Lal Tikon. Mein Job ist, Glück zu bringen. -- Zwei oder drei Kinder ... und damit Schluß. Jedes Kind erst nach drei Jahren.« Das Glück wird vom Rüssel verteilt: Aufklärungs-Broschüren und Kondome zum Regierungspreis von drei Pfennig. Jeden Tag marschiert Lal Tikon durch fünf Dörfer.

Sie hat noch gut 85 Jahre zu leben. Und doch wird sie bis zu ihrem Tod noch nicht einmal ein Viertel der indischen Dörfer besucht haben können.

China erspart einem den Ärger mit manipulierten Statistiken: Es gibt überhaupt keine. Sicher ist nur, daß das Reich der Mitte mehr Einwohner hat als Indien und Pakistan zusammen -- weit über 700 Millionen. Seit dem Jahr, in dem Konrad Adenauer Kanzler wurde, hat China um mehr Menschen zugenommen, als die Vereinigten Staaten insgesamt Einwohner haben (202 Millionen).

In den ersten Jahren nach der kommunistischen Machtergreifung 1949 war jede Geburten-Beschränkung verpönt. Die Einfuhr von Verhütungsmitteln wurde verboten.

Der Schock einer Volkszählung, Mißernten und Hungersnöte ließen Mao -- Mitte der fünfziger Jahre -- das Steuer herumwerfen. In Fabriken, Wohnungen und Straßen warb die Partei mit Vorträgen, Filmen und Plakaten für Geburtenkontrolle. Im Nationalen Volks-Kongreß verkündete 1956 ein Abgeordneter das chinesische Volks-Rezept für Verhütung: »Frische Kaulquappen, die im Frühling ausgeschlüpft sind, müssen gut in kaltem Wasser abgewaschen und drei oder vier Tage nach der Menstruation ganz heruntergeschluckt werden. Wenn eine Frau 14 lebende Kaulquappen am ersten Tag und zehn weitere am Tag darauf zu sich nimmt, wird sie fünf Jahre lang kein Kind empfangen ... Das Rezept ist gut, weil es erfolgreich, sicher und billig ist. Sein Nachteil liegt darin, daß es nur im Frühling verwandt werden kann.«

Madame Li Te-tschuan, damals Gesundheitsminister, verriet in einem Interview die Herkunft der Wunderwaffe: »Wir wußten nichts von diesem oralen Verhütungsmittel, bis wir einige reformierte Prostituierte aus Schanghai befragten. Sie erzählten uns, wie sie es schafften, keine Babys zu bekommen.«

Die Geschäftsgeheimnisse aus Schanghai erwiesen sich als Bluff. Doch noch ehe der Westen herausgefunden hatte, daß Kaulquappen keine Wirkung auf die menschliche Fruchtbarkeit haben, waren in China selbst alle Verhütungs-Mittel wieder aus den Schaufenstern der staatlichen Apotheken verschwunden: Nach der glorreichen Ernte von 1958 setzte China zum »Großen Sprung nach vorn« an. Vier Jahre dauerte das Spring-Derby. Neue Hungersnöte zogen durchs Land. Und 1962 drehte sich Mao wieder: Ein neuer Feldzug gegen den Kinder-Reichtum begann.

Diesmal wurde Maos Sorge um Babys und Mütter in den Vordergrund geschoben. Aus Gesundheitsgründen wurde die Jugend angewiesen, nicht zu früh zu heiraten. Jungen Müttern drohe Gebärmutter-Krebs, jungen Männern bei ausschweifendem Leben Impotenz.

Heute, eine Kulturrevolution später, ist auch diese Kampagne verebbt. Doch alle wesentlichen Bestandteile einer Politik der Familien-Planung sind geblieben. Abtreibung und Sterilisierung sind erlaubt, Verhütungs-Mittel zu kaufen.

Aber selbst die optimistischsten Schätzungen der Uno laufen darauf hinaus, daß China jedes Jahr um 10 bis 13 Millionen zunimmt, genug für einen Übervölkerungs-Krieg gegen die Sowjet-Union.

Demograph Robert C. Cook zog das Fazit: »Menschen hören nicht auf, Kinder zu gebären, weil Kabinette es wünschen. Menschen hören nur auf, Kinder zu gebären, wenn sie selbst keine mehr wollen.«

Der Zeitpunkt ist genau definierbar, wann sich bei dem einzelnen von sich aus der Gedanke zur Tat verdichten muß: sobald sein Wunsch nach verminderter Kinderzahl durch Umwelteinflüsse stärker geworden ist als sein Widerwille gegen die damit verbundenen Umstände.

Diese Voraussetzungen müssen geschaffen werden. Das Eigeninteresse der Eltern an weniger Geburten muß erhöht, die Widrigkeiten der Verhütungsmaßnahmen müssen vermindert werden. Je mehr das gelingt, desto weiter ist der Zeitpunkt vorverlegt, an dem nicht die Regierungen, sondern die Menschen selbst die Senkung der Geburtenrate betreiben werden.

Daß es überhaupt möglich war, innerhalb eines Jahrzehnts in der verschleierten Welt des Islam Millionen von Gebärmutter-Einlagen einzusetzen und in katholischen Ländern Kliniken zur Schwangerschaftsverhinderung zu unterhalten, liefert den Beweis, daß ein Teil der Menschen der armen Welt schon heute bereit ist, diesen Weg über alle Barrieren moralischer Tabus, religiöser Verbote und traditioneller Scham hinweg zu beschreiten.

Damit jedoch schrumpft das Problem auf eine wohlvertraute geschichtliche Größe zusammen: eine Minderheit in eine Mehrheit zu verwandeln.

Freilich: In der Galgenfrist, die uns die grüne Revolution für die Fütterung der Menschheit geschenkt hat, kann Familienplanung allein diese Aufgabe nicht bewältigen. Werden aber auch die Fortschritte der Ernährung, Entwicklung und Erziehung auf dieses Ziel konzentriert, ist es erreichbar.

Alle diese Faktoren können dazu beitragen, die erste notwendige Voraussetzung zur Senkung der Geburten-Rate zu schaffen: Erhöhung des Eigen-Interesses der Eltern an weniger Kindern.

Da dieses Eigen-Interesse der Menschen unter den wirtschaftlichen Bedingungen der unterentwickelten Länder jedoch auf unabsehbare Zeit allein nicht zwingend wirken wird, kann sich ein Erfolg erst einstellen, wenn es gleichzeitig gelingt, auch die zweite Voraussetzung für einen Geburten-Rückgang herbeizuführen: Verminderung der Widrigkeiten bei der Verhütung.

Die Liste der Anforderungen an ein perfektes Verhütungs-Mittel ist lang. Es hat wirkungsvoll, sicher, billig und bequem zu sein; es soll das Vergnügen nicht beeinträchtigen und die Gesundheit nicht gefährden. Keine der bekannten Methoden, keines der bekannten Mittel erfüllt alle diese Bedingungen.

Wieder scheinen so alle Anstrengungen zum Scheitern verurteilt. Doch wieder schimmert Hoffnung aus den Laboratorien der Forschung:

Die übliche Pille enthält einen hohen Prozentsatz weiblicher Östrogen-Hormone. Seit 1964 laufen Versuche mit Tabletten und Injektionen zur Schwangerschaftsverhütung, die ohne Östrogen auf dem in der üblichen Pille ebenfalls vorhandenen, aber offensichtlich ungefährlicheren Progesteron basieren.

Dr. Sheldon Segal, Chef des biomedizinischen Forschungs-Teams vom amerikanischen »Population Council« in der New Yorker Rockefeller-Universität, war mit allen diesen Forschungs-Ergebnissen wohlvertraut, als er eines Tages mit einem jungen Chemiker der Dow Corning Corporation zu Mittag aß. Sein Gast erwähnte beim Lunch eine besondere Eigenschaft eines Kunst-Gummis, Silastic genannt: Ein Silastic-Behälter läßt verschiedene in ihm bewahrte Substanzen sehr langsam und extrem gleichmäßig durch seine Wände nach außen dringen.

Dr. Sheldon Segal hatte eine Idee. Eine winzige Silastic-Kapsel, von der Größe einer abgebrochenen Bleistift-Spitze, gefüllt mit Progestin, unter die menschliche Haut gepflanzt, würde Stunde für Stunde, Tag für Tag, bis zu drei Jahren oder länger eine genau berechenbare Menge der schwangerschaftsverhütenden Substanz in den Blutkreislauf der Frau befördern können. Die auch beim Progestin auftretenden unangenehmen Nebenwirkungen -- Kopfweh und unregelmäßige Blutungen -- müßten nachlassen, weil es die bei Pille oder Injektion unvermeidliche hohe Progestin-Konzentration im Körper unmittelbar nach Einnahme oder Einspritzung nicht länger gäbe. Darüber hinaus kann das Verhütungsmittel jederzeit entfernt werden, wenn eine Frau wieder ein Kind empfangen möchte.

Alle bisherigen Versuche Dr. Sheldon Segals bestätigen seine Erwartungen. Mit einem Sechs-Millionen-Mark-Budget der Ford Foundation sind er und seine Mitarbeiter nun da-

* SPIEGEL-Titel 15/1967.

bei, an über 100 Rhesus-Affen die letzte notwendige Frage zu prüfen: Wieviel Progestin muß täglich der Blutbahn zugeführt werden, um mit einem Minimum an Medikament ein Maximum an Verhütungs-Sicherheit zu erreichen? Vor drei Jahren werden die Arbeiten kaum abgeschlossen sein können.

Für die unterentwickelten Länder wird die Kapsel sich möglicherweise als so folgenschwer erweisen wie die Züchtungen der neuen Getreidesorten. Erstmals scheint ein Mittel in greifbare Nähe gerückt, mit dessen Hilfe die so schwer zu Überwindende Schwelle der Verhütungs-Widrigkeiten so weit gesenkt werden, kann, daß nahezu jeder sie zu überschreiten vermag, der auch nur den geringsten Wunsch nach weniger Kindern verspürt.

Die Masse im Elend hält wenig von Pillen, Salben, Pessaren und Kondomen. Aber sie hat blindes Zutrauen zu Spritzen und Impfungen. »Doktor, gib mir eine Spritze«, ist die immer wiederkehrende klägliche Bitte der Kranken an die Tropenärzte. Denn Spritzen und Impfungen waren es, die die hungernden Völker von den Geißeln des Typhus, des Gelbfiebers und anderer Seuchen befreite.

»Wir haben das Gefühl«, orakeln die Futurologen Herman Kahn und Anthony J. Wiener, »daß das Ausmaß der Anwendung von Geburten-Kontrolle zwischen 1980 und 2000 heute wesentlich unterschätzt wird und daß daher die Weltbevölkerung des Jahres 2000 beinahe sicher weniger als sieben Milliarden betragen dürfte, wie bisher allgemein angenommen wird. Vielleicht eine oder zwei Milliarden darunter.«

Um zu europäischen Zuwachsraten zu gelangen, müssen in den unterentwickelten Ländern jährlich etwa 50 Millionen Geburten verhindert werden. Keiner von uns kann hoffen, dem Steigen der menschlichen Springflut noch lange in einer komfortablen Beobachterrolle zuzuschauen. Heute umspült sie unsere Füße. Morgen schon droht übergroße menschliche Dichte, Kants »ungesellige Geselligkeit«, Wellen der Vernichtung um den Erdball rasen zu lassen.

»Ungeheuer ist viel«, heißt es in der »Antigone« des Sophokles, »doch nichts ist ungeheurer als der Mensch.« Und an Menschen wird kein Mangel sein. Wie die Lavaströme eines Vulkanausbruchs alles Leben unter sich begraben und der Nachwelt nur Versteinerungen überliefern, so verschütten die Menschenmassen der Bevölkerungsexplosion alles, was das Leben lebenswert macht, und gewähren nur noch Raum für die mechanischen Verrichtungen von Zeugung, Geburt, Arbeit und Tod im Ameisenstaat. Ein Leben von Nummern in Schlangen auf überfüllten Plätzen ohne Demokratie und Privat-Eigentum. So taumelt die Welt einer Zukunft entgegen, in der Homosexuelle Nationalhelden und Kannibalen die einzigen Verbraucher ohne Lebensmittelkarten sein werden.

Der Überschuß an Menschen hat den Wert des einzelnen Menschen heute schon dezimiert. Der Wert des menschlichen Lebens, bisher Kern unserer Moral, ist durch die Inflation des menschlichen Lebens ins Bodenlose abgesackt. Uns allen droht eine neue Moral, die sich an einer so unbedeutenden Größe nicht länger orientieren wird.

Wenn wir »Zukunft im Sinn« (Talleyrand) haben, dann müssen wir danach trachten, den tödlichen Kreislauf von Elend, Geburtenüberschuß und Gewalt in den unterentwickelten Ländern so schnell wie möglich zu stoppen. Wir haben gesehen, was dazu nötig ist:

* Die arme Welt muß der Entwicklung ihrer Landwirtschaft Vorrang einräumen, die Arbeitslosen-Flut in öffentlichen Bauvorhaben kanalisieren, die Erziehungs-Systeme ihren Gesellschafts-Formen anpassen, die Familien-Planung intensivieren.

* Die reiche Welt muß Märkte für die Rohstoffe der unterentwickelten Länder schaffen, die Protein-Produktion und -Verteilung für sie übernehmen, ein wirksames Verhütungs-Mittel zur Verfügung stellen und mehr Entwicklungs-Hilfe zu verschärften Verwendungs-Bedingungen möglichst durch internationale Organisationen leisten. Was wird uns die Sache kosten? In dem Memorandum des sowjetischen Akademie-Mitglieds Andrej D. Sacharow über die Zukunft von Kommunismus, Kapitalismus und den Rest der Welt heißt: es: »Nach Meinung des Verfassers muß den entwickelten Ländern über 15 Jahre eine Steuer auferlegt werden, die 20 Prozent ihres Bruttosozialprodukts entspricht.« Das wäre das Doppelte von dem, was die reiche Welt zur Zeit für ihre Rüstung ausgibt. Eine absurde Traumzahl. Ein Bruchteil wird genügen.

Bereits in den fünfziger Jahren tauchte in der Uno eine wirklichkeitsnähere Zahl auf, die 1964 von der Uno-Konferenz für Handel und Entwicklung definiert wurde: Die entwickelten Länder sollten den unterentwickelten Ländern jährlich möglichst Hilfe im Wert von einem Prozent ihres Bruttosozialprodukts zur Verfügung stellen. Dieses Soll ist von der reichen Welt nie erfüllt worden. Die Bundesrepublik hat mit 1,26 Prozent das Klassenziel. erreicht.

Was not tut -- neben rückzahlbaren Krediten und privaten Investitionen -, ist eine reine Hilfe in Höhe von einem Prozent des Bruttosozialproduktes, zur Zeit rund 16 Milliarden Dollar. Das wäre ein Zwanzigstel von dem, was Sacharow schätzte, aber viermal soviel, wie die reiche Welt heute gibt.

Der Kieler Professor Fritz Baade schrieb über die Kosten des Kampfes zur Entwicklung der Elends-Kontinente: »Die Kosten dieses Krieges werden mindestens ebenso hoch, vielleicht sogar doppelt so hoch sein wie die Kosten des Ersten Weltkrieges, der 229 Milliarden Dollar kostete. Sie werden wohl kleiner sein als die des Zweiten Weltkrieges (1500 Milliarden Dollar), und sie werden ganz bestimmt kleiner sein, als es die Kosten eines dritten, mit Atomwaffen geführten Weltkrieges schon in seinen ersten Stunden sein wurden.«

Wenn es den weißen Völkern gelingt, mit dem Einsatz dieser Mittel die wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Voraussetzungen zu schaffen, den Lebensstandard der farbigen Völker zu heben und ihre Geburten-Rate zu senken -- dann sind wir noch einmal, und billig, davongekommen.

Wenn wir aber versagen bei dem Versuch, Hunger, Elend und Bevölkerungsexplosion einzudämmen, ist ein Klassenkampf der Rassen zwischen reicher werdenden Reichen und mehr werdenden Armen unvermeidbar. Er wird die grausamen Züge aller rassistischen Auseinandersetzungen tragen und in Gewalt umschlagen. Die blutige Ernte, die Tod und Vernichtung dabei in beiden Hälften der zweigeteilten Welt einfahren können, dürfte ohne historisches Vorbild sein. Ende

Claus Jacobi
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