WAHLPOLITIK Zweimal gedreht
Die beiden Besucher im Palais Schaumburg drängten zur Eile. Der eine, Krupp-Majordomus Berthold Beitz, hatte dafür seinen Jagd-Urlaub aufgeschoben, der andere, CDU-MdB Ernst Majonica, auf ein geruhsames Parlamentarier-Wochenende verzichtet.
Den Kruppier trieb die Furcht vor einem drohenden Kumpelaufstand nach Bonn, dem CDU-Abgeordneten wies die Sorge vor neuen Stimmenverlusten bei der Bundestagswahl 1965 den Weg. Gemeinsam trugen die Besucher am 31. Oktober Ludger Westrick, des Kanzlers Amtsvorsteher im Ministerrang, ihr Sofortprogramm vor:
Die Bundesregierung möge jene gesetzlich bereits fixierte Sterbehilfe für den Bergbau - danach sollen die Gesellschaften Staatsgelder bekommen, die bis zum Sommer nächsten Jahres mit der Stillegung weiterer unrentabler Zechen begonnen hätten - auf einen späteren Zeitpunkt verschieben.
Der Paragraph 38 des »Gesetzes zur Förderung der Rationalisierung im Steinkohlenbergbau« sieht eine Bundeshilfe von 25 Mark pro stillgelegte Tonne nur dann vor, wenn mit der Schließung des Steinkohlenbergwerks »bis zum Ablauf von zwei Jahren nach Inkrafttreten dieses Gesetzes begonnen worden ist«.
Da das Gesetz am 1. September 1963 in Kraft getreten ist, müssen jene Gruben, deren Schließung beim Rationalisierungsverband des Steinkohlenbergbaus angemeldet worden ist, spätestens am 31. August 1965, wenige Wochen vor der Bundestagswahl, mit den Stilllegungsarbeiten begonnen haben. Betroffen sind 36 Zechen mit 60 000 Bergleuten. Eine mit Kumpel-Entlassungen garnierte Bundestagswahl, so Beitz und Majonica, sei mithin unvermeidlich, wenn Bonn nicht umgehend interveniere.
Die beiden Ruhr-Geschädigten - Beitz hat die drei Krupp-Zechen »Helene«, »Amalie« und »Constantin« auf die Liste gesetzt, Majonica muß als Vorstandsmitglied der westfälischen CDU für den Ausgang des Bundestagswahlkampfes geradestehen - fanden bei Westrick ein offenes Ohr.
In den Räumen des Ministers Westrick stellte das Dreier-Kollegium noch zur selben Stunde einen neuen Sterbefahrplan auf. Danach sollte dem Bergbau für den Beginn des Zechen-Kehraus bis zum 31. Dezember 1966 Zeit gelassen werden. Die Terminverschiebung um volle 16 Monate hatte sich als zwingend erwiesen, weil auch noch die nordrhein-westfälischen Landtagswahlen im Sommer 1966 überbrückt werden mußten.
Noch niemals seit ihrem Bestehen widmete sich die Regierung Erhard einem Gesetzgebungsvorhaben so prompt wie diesmal. Vier Tage nach der Intervention von Beitz und Majonica beschloß das Bundeskabinett am Mittwoch vorletzter Woche, die Frist für den Beginn der Stillegungen auf den 31. Dezember 1966 zu verschieben.
Wahltaktiker Erhard hatte seine Terminrechnung indes ohne die Ruhr gemacht. Zwar war dem Kanzler klar, daß die bei den Sozialdemokraten eingetragenen Bergarbeiterführer - ihnen gefiel der Vor-Wahltermin nur zu gut - eine Fristverschiebung ablehnen würden. Völlig unerwartet aber traf den Kanzler die Weigerung der Zechenherren, dem wahltaktischen Terminhandel zuzustimmen. Zechenpräsident Dr. Hellmuth Burckhardt und Generaldirektor Hans Dütting von der Gelsenkirchener Bergwerks AG bestanden, als sie zwei Tage nach dem Kabinettsbeschluß zum Kanzler gebeten wurden, auf dem Stilllegungs-Beginn im August 1965. Beitz und Majonica hatten mithin ohne Auftrag interveniert.
Hinter dem Beharren der Bosse auf dem August-Termin steht ein schlaues Kalkül. Die Ruhr wünscht weitere Subventionen aller Art, und unter dem doppelten Druck von Bundestagswahlkampf und Massenentlassungen hoffen sie in Bonn ein besonders günstiges Verhandlungsklima zu finden. Bei einem späteren Beginn der Schließungsaktion, so fürchten die Unternehmer, könnten sie ihren besten Trumpf verlieren.
Kanzler Erhard, der sich noch wenige Tage zuvor von Beitz hatte überzeugen lassen, daß die anberaumte Zechenstillegung verschoben werden müßte, ließ sich nunmehr ein weiteres Mal umdrehen. Am Freitag vergangener Woche verkündete Wirtschaftsminister Schmücker vor dem Parlament, die Bundesregierung werde »von einem Vorschlag zur Fristverlängerung absehen«.
Wahlkämpfer Majonica Rechnung ohne Ruhr