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Artikel 21 / 96

Zwietracht im einig Vaterland

aus DER SPIEGEL 6/1991

Der Golfkrieg läßt die Deutschen umdenken. Nie gab es eine Mehrheit für Steuererhöhungen, sooft und wie auch immer das Bielefelder Emnid-Institut seit Mitte vergangenen Jahres danach fragte.

Nun aber erklärten sich vorige Woche bei einer Telefonumfrage 52 Prozent von 1000 repräsentativ ausgewählten West-Deutschen mit einer Steuererhöhung einverstanden, »um eine deutsche Beteiligung an den Kosten des Golfkrieges zu finanzieren«. Ost-Deutsche konnten wegen der geringen Telefondichte in der Ex-DDR nicht befragt werden.

Steuererhöhungen waren schon lange vor der Bundestagswahl am 2. Dezember zu einem deutschen Hauptthema geworden. Unablässig hatten Wahlkämpfer der Regierung bestritten und Wahlkämpfer der Opposition behauptet, daß Erhöhungen bald nach der Wahl beschlossen und verkündet würden.

Damals ging es darum, ob die deutsche Einheit weit teurer würde, als Kohl und seine Koalitionäre es den Wählern darstellten, und ob sie unausweichlich durch höhere Steuern finanziert werden müsse. Die Mehrheit der West-Deutschen vermutete dies stets und sprach sich immer dagegen aus.

Das Mißtrauen ist geblieben, wie sich vorige Woche bei den Antworten auf eine Emnid-Frage zeigte: »Glauben Sie, daß die höheren Steuern ausschließlich zur Beteiligung an den Kosten des Golfkrieges verwendet würden, oder würden damit auch andere Ausgaben finanziert?« 67 Prozent nehmen letzteres an.

Der Golfkrieg hat die innerdeutschen Probleme von den Titelseiten der Zeitungen fast verdrängt. Deshalb blieb fast unbemerkt, daß diese Probleme sich verschärft haben: Zwischen den vereinten Deutschen wächst die Zwietracht, wie Emnid-Ergebnisse in diesem Monat belegen.

Im Januar hatte der SPIEGEL drei Umfragen bei dem Bielefelder Institut in Auftrag gegeben. Die deutsch-deutschen Probleme waren das Hauptthema der ersten, bei der Emnid-Interviewer ausgeschwärmt waren, um in der Alt-BRD und in der Ex-DDR je 1000 Männer und Frauen zu befragen.

Bei zwei Telefonumfragen - eine lief vom 21. bis 23., die andere vom 25. bis 28. Januar - ging es auch um binnendeutsche Themen, vor allem aber um den Golfkrieg und seine Folgen.

Vor der zweiten Telefonumfrage hatte sich im Ausland, vor allem in Israel und in den USA, eine antideutsche Stimmung verbreitet, und zugleich verstärkte sich die Forderung nach einem deutschen Beitrag zum Golfkrieg.

Als Emnid die Kernfrage aus der ersten Untersuchung in der zweiten wiederholte, unterschieden sich die Antworten nicht: Zwei Drittel der West-Deutschen halten den Krieg gegen den Irak für notwendig.

Eine andere Mehrheit wechselte. Die Frage, ob bei einem Angriff des Irak auf das Nato-Land Türkei die dort stationierten 18 Alpha Jets der Bundeswehr eingesetzt werden sollen, wurde zunächst von 51 Prozent verneint, in der vorigen Woche von 51 Prozent bejaht.

Die Antworten auf eine weitere Frage helfen, diese neue Mehrheit richtig einzuschätzen.

Als Emnid vier Möglichkeiten nannte, wie sich Deutschland »am Krieg gegen den Irak beteiligen« könne, sprachen sich mehr als zwei Drittel dafür aus, Kriegskosten zu übernehmen, und noch mehr Befragte befürworteten humanitäre Hilfe. Hingegen lehnten es deutliche Mehrheiten ab, »Truppen in das Kampfgebiet zu entsenden« oder auch nur die Zahl der in der Türkei stationierten Luftwaffen-Jets zu erhöhen.

Die dortigen 18 Maschinen bei einem Angriff des Irak in den Kampf eingreifen zu lassen - das erscheint einer knappen Mehrheit der westdeutschen Bevölkerung als die äußerste Möglichkeit, die sie noch bejahen kann.

Schon der Gedanke, der Türkei im Kriegsfall mehr Beistand zu leisten, als es mit diesen wenigen Kampfflugzeugen möglich ist, widerspräche dem Willen dieser Mehrheit. Das gilt erst recht für die Vorstellung, Deutschland würde wie England und Frankreich Truppen an die Front gegen den Irak schicken.

»Die Beteiligung an den Kriegskosten selbst um den Preis einer Steuererhöhung« - so Emnid-Experte Klaus-Peter Schöppner - »scheint den meisten West-Deutschen die Notlösung zu sein, einerseits nicht länger international angefeindet und isoliert zu werden und andererseits dem Kampfgeschehen fernzubleiben.«

Eine Steuererhöhung wegen des Golfkrieges bejahen klare Mehrheiten der CDU/CSU- und der FDP-Wähler (66 und 62 Prozent); aber nicht nur eine Mehrheit der Grün-Wähler lehnt sie ab (56 Prozent), sondern auch eine relative Mehrheit der SPD-Wähler: 49 Prozent sind dagegen, 46 Prozent dafür, 5 Prozent äußerten sich hierzu nicht.

Ernüchterung und Enttäuschung empfinden die Bundesbürger, wenn sie nach der Situation in Deutschland und speziell in Bonn einige Wochen nach der Bundestagswahl gefragt werden.

Kohls neuem Kabinett applaudieren nur 8 Prozent der westdeutschen Wähler, so wenige finden es »besser« als das alte. Für »schlechter« halten es 15 Prozent, 53 Prozent sehen keinen Unterschied, und 24 Prozent ließen eine Antwort auf diese Frage aus - vermutlich hatten etliche kaum wahrgenommen, welche Minister Kohl feuerte und heuerte und daß er die Zahl der Parlamentarischen Staatssekretäre von 27 auf 33 erhöhte.

Die Stärke der Parteien hat sich kaum verändert, allenfalls gibt es erste Anzeichen für einen neuen Trend:

Die PDS verlor, die Grünen gewannen Anhänger - vor allem im Osten, aber auch im Westen. Die Mehrheit von CDU/CSU und FDP ist stabil geblieben. Die Schwächen der Koalition treten nicht bei den Parteizahlen, sondern bei anderen Ergebnissen zutage.

Durch die lange Steuerdebatte haben die Regierung und die Regierungsparteien an Glaubwürdigkeit verloren. Bis weit in die Reihen ihrer eigenen Anhänger hinein wird ihnen sogar Wahlbetrug vorgeworfen.

Ohne daß dieses - suggestive - Wort benutzt wurde, stellte dies eine Emnid-Frage klar: Die meisten West-Deutschen (nur ihnen wurde diese Frage gestellt) halten den Vorwurf für berechtigt, »daß den Wählern vor der Wahl verheimlicht worden ist, welche finanziellen Belastungen durch die Vereinigung Deutschlands bevorstehen«.

Es hat den Koalitionspolitikern nicht geholfen, daß sie formal ihr Versprechen hielten und keine Steuern erhöhten, statt dessen aber beschlossen, andere Abgaben massiv aufzustocken (die Telefongebühren und die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung). Den Wählern kommt es auf die Beträge, nicht auf die Bezeichnung an.

Mit Baden-Württembergs Späth, gestolpert über fremdfinanzierte Traumreisen, und Hessens Wallmann, abgewählt nach ruhmlosem Regieren, traten im Januar zwei Unionspolitiker ab, die zeitweilig als Kanzler-Alternativen zu Kohl galten. Späth war sogar über mehrere Jahre der populärste Unionspolitiker, sieht man von der dem Alltag ziemlich entrückten Rita Süssmuth ab.

Im Januar gewann die Parlamentspräsidentin wiederum Sympathien hinzu, während andere Spitzenpolitiker sich darüber ereiferten, ob Wahlversprechen gehalten oder gebrochen, ob die Koalitionsbeschlüsse zu loben oder zu tadeln seien. Dabei sammelten sie zumindest bei Anhängern der Gegenseite Minuspunkte.

Tief stürzten die beiden Wahlverlierer Lafontaine und Momper, aber auch andere SPD-Politiker bekamen die Quittung für das Trauerspiel, das ihre Partei vor und nach der Bundestagswahl geboten hat. Nur Engholm, immer schon unter den ersten zehn, fand noch mehr Zuspruch, seit er zum SPD-Chef erkoren worden ist und, ziemlich allein, die Hoffnung seiner Partei und ihrer Stammwähler trägt.

Für den Finanzminister Waigel, aber wohl auch für den Kanzler wirkte sich die Steuerdebatte nachteilig aus. Und Sachsen-Chef Biedenkopf verlor Anhänger im Westen, weil er nachdrücklich die diesseits der Elbe unpopuläre Forderung nach weit mehr West-Geld für die östlichen Bundesländer vertritt.

Wird sie verwirklicht (wann und wie auch immer), geschieht es zu Lasten der Steuerzahler, denn andere Geldquellen, etwa durch rigorose Kürzung von Subventions- oder Rüstungsmilliarden, hat Bonn nicht erschließen können oder wollen.

»Sind die West-Deutschen wohl bereit, für die Vereinigung Deutschlands finanzielle Opfer zu bringen?« 73 Prozent der Ost-Deutschen verneinten, nur 24 Prozent bejahten die Frage.

Die Mehrheit ist der Wahrheit nahe. Wie Emnid feststellte, rechnen 45 Prozent der West-Deutschen damit, daß ihnen eine große Belastung bevorsteht, aber nur 5 Prozent sind bereit, sie hinzunehmen (siehe Grafik Seite 47).

Zwar gibt es keinen Widerspruch zu dem Ziel, die Lebensverhältnisse in Ostdeutschland denen in Westdeutschland anzugleichen. Aber wie lange es dauern wird, bis dieses Ziel erreicht ist, hängt insbesondere davon ab, in welchem Umfang die Deutschen in der Alt-BRD für eine Anschubfinanzierung zur Staatskasse gebeten werden.

Und eben deshalb gehen die Ansichten der Deutschen diesseits und jenseits der Elbe weit auseinander, in welchem Zeitraum sich die östliche Armut in westlichen Wohlstand verwandeln wird. Die alten Bundesbürger rechnen im Schnitt mit 9,1, die neuen mit 7,2 Jahren.

Daß es nur halb so lange dauern werde, hatte Kohl vor der Wahl landauf, landab versichert: »In drei, vier Jahren« würde aus der einstigen DDR eine »blühende Landschaft«. Daran glauben die meisten Ost-Deutschen nicht oder nicht mehr. Und auch der Kanzler wiederholte in seiner Regierungserklärung vorige Woche diese Prognose nicht.

Die Stimmung der Ost-Deutschen verschlechtert sich zusehends. Im September 1990 und nun wieder fragte Emnid, ob die Entwicklung in der Ex-DDR sie mit Hoffnung oder mit Sorge erfülle. Im Herbst entschieden sich 77, nun nur noch 58 Prozent für »Hoffnung«, damals nur 20, nun 41 Prozent für »Sorge«.

Von 75 auf 86 Prozent ist binnen weniger Monate die Mehrheit der Ost-Deutschen angestiegen, die sich im vereinten Deutschland für »Bürger zweiter Klasse« halten.

Als gefragt wurde, ob die Vereinigung bisher ihren Erwartungen entspreche, war die häufigste Antwort, die Entwicklung sei »schlechter« verlaufen. Das sagten 42 Prozent. Nur 20 Prozent erklärten sie für »besser«. Für 36 Prozent kam es so, wie sie es erwartet hatten.

Wunsch und Wirklichkeit klaffen immer weiter auseinander, der Konfliktstoff häuft sich an.

Noch deutlicher als bei anderen Fragen trat dies zutage, als die Interviewer darauf verwiesen, im Westen verdiene man »für die gleiche Tätigkeit teilweise doppelt oder dreimal soviel wie im Osten«, und um zwei Auskünfte baten:

Um eine - möglichst objektive - Einschätzung, wie lange es wohl dabei bleiben werde, und um die eigene - subjektive - Meinung, wie lange es dabei bleiben solle.

Die Unterschiede zwischen den Erwartungen und den Wünschen sind groß.

Eine Angleichung binnen drei Jahren erwartet nur eine Minderheit von 39, wünscht aber eine Mehrheit von 86 Prozent. Daß es vier bis fünf Jahre dauern wird, nehmen 42 Prozent an, wollen aber nur 11 Prozent in Kauf nehmen. Und damit, daß noch mehr Zeit vergeht, rechnen 17 Prozent, wollen sich aber nur 3 Prozent abfinden.

Ob die deutsch-deutschen Konflikte sich so entwickelt hätten, wenn Kohl frühzeitig mit der Wahrheit über die Kosten der Einheit herausgerückt wäre, läßt sich an Hand demoskopischer Daten nicht sagen. Viel spricht dafür, daß dann die nationale Begeisterung vom Herbst 1989 sich in mehr Verständnis der West-Deutschen für die Vereinigungslasten und in mehr Geduld der Ost-Deutschen hätte umwandeln lassen.

Nun stehen Kohl und seine Koalition vor dem Problem, daß die einen nicht viel zahlen und die anderen nicht lange warten wollen.

Dem Kanzler bleiben bestenfalls vier Jahre Zeit, dieses Problem zu lösen - bis zu den nächsten Bundestagswahlen.

»Wenn bis dahin die Verhältnisse im Osten nicht grundlegend gebessert sind«, schrieb FAZ-Herausgeber Fritz Ullrich Fack vorige Woche, »kann sich zumindest die Union für lange Zeit von der Macht verabschieden.«

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