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SOWJETZONE / RECHT Zwischen Recht und Rot

aus DER SPIEGEL 12/1959

Dem kommenden Sommer muß das Volk des Ulbricht-Staates auch dann mit gemischten Gefühlen entgegensehen, wenn der begrenzte Atomkrieg Henry A. Kissingers nicht stattfindet. Denn Ulbrichts Justizminister Hilde Benjamin hat sich verpflichtet, bis zum Juli ein neues sozialistisches Strafrecht zu schaffen, das in der Zone das alte deutsche Strafgesetzbuch ablösen wird.

Der Entschluß, die Zonenbevölkerung nach neuen Gesetzen strafrechtlich zu traktieren, geht auf den V. Parteitag der SED zurück, der im Juli vorigen Jahres in Ostberlin tagte. In der Schlußproklamation des Parteitags »Über den Kampf um den Frieden, für den Sieg des Sozialismus, für die nationale Wiedergeburt Deutschlands als friedliebender demokratischer Staat« erklärten die Pankower:

- »Die weitere Entwicklung der Arbeiter - und Bauernmacht bedingt die Weiterentwicklung des sozialistischen Rechts, das den Willen der von Ausbeutung und Unterdrückung befreiten Menschen ausdrückt.«

Was mit der »Weiterentwicklung« bezweckt ist, beschrieb der Parteitag in der gestanzten Sprache der Marxisten so:

- Das sozialistische Recht »dient der Erziehung der Werktätigen zur Arbeits - und Staatsdisziplin, zur bewußten Teilnahme am Aufbau des Sozialismus und zur Verteidigung des sozialistischen Vaterlandes gegen alle Angriffe der Feinde«.

In dieser Definition kommt der Mensch nur als Objekt vor. Er soll »erzogen« werden - und zwar zu Arbeitsamkeit, Disziplin und Gehorsam gegenüber dem Sozialismus. Als schutzwürdig im strafrechtlichen Sinne wird allein das »sozialistische Vaterland« erwähnt.

Im westlichen Recht - seinem Ursprung nach entstammt es wesentlich dem römischen - wirken dagegen eine ganze Reihe von Intentionen nebeneinander. Westliches Recht will:

- das Verhältnis der Staatsbürger untereinander, soweit es rechtlich relevant ist, ordnen;

- den einzelnen Staatsbürger vor Übergriffen anderer und auch vor Übergriffen des Staates selbst schützen (er kann gegen den Staat klagen, was er in der Zone de facto heute nicht kann);

- den einzelnen Staatsbürger erziehen

(Spezialprävention), zum Beispiel durch eine Freiheitsstrafe;

- die Gesellschaftsordnung schützen (Generalprävention) - zum Beispiel in Zeiten mit besonders vielen Fällen von Trunkenheit am Steuer durch verschärfte Strafvorschriften gegen Verkehrsdelikte unter Alkoholeinfluß.

Unter dem Aspekt der Generalprävention wird der einzelne eigentlich für etwas verantwortlich gemacht, das er nicht verantworten kann - nämlich für die latente Neigung anderer Staatsbürger, die gleiche Straftat zu begehen, die er selbst begangen hat. Strafbestimmungen, bei denen die Absicht der Generalprävention überwiegt, sind deshalb im Westen umstritten. Sie geraten allzu leicht in Konflikt mit der zentralen Absicht westlichen Rechts, die Rechtsgüter des einzelnen zu schützen.

In der Rechtsordnung, die Pankow in Mitteldeutschland heimisch machen möchte, nimmt hingegen der Gedanke der Generalprävention den wichtigsten Platz ein - und zwar in einer Weise, die im Westen nicht einmal in Erwägung gezogen wird: Das Strafgesetz soll den Staatsbürger nicht nur von der Begehung eines Verbrechens abschrecken, es soll ihn auch zu ganz bestimmten politischen Vorstellungen zwingen.

Die Rechte des Staatsbürgers als souveräner Person verlieren bei dieser Art des Rechtsdenkens nahezu jeden Inhalt. Der Bürger wird vielmehr als Gegenstand von Manipulationen der Partei aufgefaßt - von Manipulationen, die im Zuge eines teils zwangsläufigen, teils durch den Willen der Partei gesteuerten gesellschaftlichen Prozesses das Endstadium der Menschheit herbeiführen sollen: die klassenlose Gesellschaft.

Die Partei manipuliert den einzelnen mit den verschiedensten Mitteln - mit Hilfe der staatlich gelenkten Propaganda, durch die Arbeit der Massenorganisationen, vermittels der Schulen -, und eines der Mittel ist auch das Recht, insbesondere das Strafrecht.

Ulbricht auf dem V. Parteikongreß: »Eine große Bedeutung im Kampf um die Durchsetzung der neuen Produktionsverhältnisse und damit für die Herausbildung der neuen sozialistischen Gesellschaft mit ihren neuen Beziehungen der Menschen zur Gesellschaft und untereinander hat das sozialistische Recht. Das sozialistische Recht ist ein wichtiges Mittel zur Entwicklung und Festigung des sozialistischen Bewußtseins der Bürger.« Ulbricht forderte deshalb die »Weiterentwicklung des sozialistischen Rechts«.

Vier Tage nach Ulbrichts Rede stampfte die im Amt des sowjetzonalen Justizministers zu den körperlichen Ausmaßen einer Matka im Matronenalter aufgegangene Hilde Benjamin auf die Tribüne der SED-Arena und fand - was ihre Zuhörer freilich kaum überraschte -, daß »die Aufgabe, neue Gesetze zu schaffen, wie sie Genosse Walter Ulbricht stellte ... eine begeisternde Perspektive« eröffne.

Die Begeisterung beflügelte sie zu dem Versprechen, sich zu beeilen: »Es wird eine sehr konkrete Planung festgelegt werden müssen, mit welchen Methoden die Arbeiten an diesen neuen Gesetzen in Angriff genommen werden. Wir werden manche Zeitvorstellung dabei sehr verändern müssen, denn diese neuen Gesetze dürfen nicht erst kommen, wenn alles geschafft ist... Ihr sozialistischer Inhalt soll das sozialistische Bewußtsein aller Werktätigen, der Staats- und Wirtschaftsfunktionäre mitformen.«

Das Reformwerk, das Hilde Benjamin verkündete, wurde einer »Kommission für die Ausarbeitung des Strafgesetzbuches« übertragen, zu deren Mitgliedern unter anderem die sowjetzonalen Rechtsgelehrten Professor John Lekschas und Professor Joachim Renneberg gehören.

Freilich waltet über der Arbeit dieser Kommission ein Fatum, das weder der Ironie noch - soweit es Hilde Benjamin betrifft - der Tragik entbehrt. Während nämlich die von der Benjamin gesteuerte Arbeit an dem neuen sowjetzonalen Recht noch mit Hochdruck betrieben wird, hat das Parlament der UdSSR, der Oberste Sowjet, eine Reform des sowjetischen Strafrechts gebilligt, deren Tendenzen der von Hilde Benjamin geplanten Reform genau entgegenstehen. Zwischen der Justizpolitik der Sowjet-Union und der in der DDR besteht seither eine Diskrepanz, die dem Justizminister Benjamin für die fernere Zukunft nichts Gutes verheißt.

Das sowjetische Reform-Gesetz vom 25. Dezember 1958 will offenkundig die Rechte des einzelnen Sowjetmenschen wiederherstellen, nachdem sie jahrzehntelang von der Justiz mißachtet worden waren. Der Münchner Ordinarius für Strafrecht, Professor Reinhart Maurach, in der Bundesrepublik wohl der beste Kenner sowjetischen Rechts, schrieb darüber im Januar -Heft der Monatszeltschrift »Osteuropa": »Während noch Artikel 1 StGB RSFSR* von 1926 als Aufgabe des Strafrechts ausschließlich den Gemeinschaftsschutz erwähnte und den Schutz individueller Rechtsgüter der Bürger überhaupt nicht nannte, zeigt Artikel 1 Absatz 1 (des Gesetzes von 1958) einen betonten Zug zur Hervorhebung der Schutzwürdigkeit auch der Rechtsgüter des einzelnen.«

Der Artikel 1 des neuen sowjetischen Strafgesetzes definiert den Zweck des nunmehr gültigen Strafrechts so:

Das sowjetische Recht hat zur Aufgabe den gegen kriminelle Angriffe gerichteten Schutz des sowjetischen öffentlichen und staatlichen Systems, welches im Ergebnis der Oktoberrevolution und des Sieges des Sozialismus in der UdSSR geschaffen worden ist; den Schutz des sozialistischen Eigentums, der Persönlichkeit, der politischen Vermögens- und anderer Rechte der Bürger und der gesamten sozialistischen Rechtsordnung.

Während also von nun an - jedenfalls dem Buchstaben des Gesetzes nach - in der Sowjet-Union die politischen und gar die Vermögens-Rechte der »Persönlichkeit« als schutzwürdig gelten sollen, ist in der Diskussion über die sowjetzonale Rechtsreform bisher von solchen Rechtsgütern des einzelnen nicht einmal die Rede gewesen.

Freilich: Der eklatante und für Hilde Benjamin peinliche Gegensatz zwischen der bereits eingeleiteten sowjetischen Strafrechtsreform und der geplanten DDR -Strafrechtsreform ist für die Theoretiker des dialektischen Materialismus keineswegs unüberbrückbar. Ihrem Weltbild zufolge befinden sich die Sowjet-Union und die DDR in durchaus unterschiedlichen Phasen des sozialen Fortschritts, an dessen Ende die kommunistische Gemeinschaft aller Menschen der Erde erreicht sein wird. Mithin dürfen die Sowjet-Union und die DDR auch ein unterschiedliches Strafrecht besitzen.

Die DDR steht - nach den freilich ungern klar ausgesprochenen Ansichten Pankows - noch in der rückständigen Epoche der Diktatur des Proletariats, das heißt in einer Epoche, in der die Mehrheit der Staatsbürger noch mit den Vorstellungen der bürgerlich-kapitalistischen Welt behaftet ist und deshalb unterdrückt werden muß. In diesem Staat gibt es kein gleiches Recht für alle. Recht ist hier ein Mittel des Klassenkampfes - in der Hand der zwar siegreichen, aber noch in der Minderheit befindlichen kommunistischen Arbeiter und Bauern.

Die fortschrittliche Sowjet-Union befindet sich hingegen - wie Chruschtschew 1956 gegen den Widerstand des Stalinisten Molotow proklamierte - schon in der Epoche des Sozialismus.

Die Mehrheit der heute lebenden Sowjetbürger ist unter gesellschaftlichen Zuständen geboren worden, die bereits von Kommunisten geformt waren. Das bedeutet - nach marxistischer Auffassung -, daß es in der Sowjet-Union keine zahlenmäßig nennenswerte Schicht von Menschen gibt, die unterdrückt werden müßte. Denn: Marx meinte, die gesellschaftlichen Verhältnisse bestimmten den Menschen und sein Verhalten. So sei es selbstverständlich, daß Menschen, die den Segen des Sozialismus von Geburt an kennengelernt haben, nicht gegen die sozialistischen Gesetze verstoßen können.

Nach marxistischer Auffassung ist auch die Kriminalität in Staaten bürgerlich kapitalistischer Gesellschaftsordnung eine Folge eben dieser Gesellschaftsordnung und die Kriminalität unter der Diktatur des Proletariats nur ein Überbleibsel der kurz zuvor überwundenen sozialen Zustände.

In Staaten, die wie die Sowjet-Union bereits in die Phase des Sozialismus eingetreten sind, ist nach marxistischen Begriffen die Kriminalität eigentlich nur noch denkbar als Folge des Hereinwirkens einer jenseits der Landesgrenzen noch existierenden bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsordnung - propagandistisch ausgedrückt: als die Folge der Tätigkeit ausländischer Agenten.

Diese These hat sich freilich angesichts der sowjetischen Wirklichkeit nicht aufrechterhalten lassen. Es ist schlechthin unglaubhaft geworden, daß Rußlands Mörder und Diebe alle entweder imperialistische Agenten oder Angehörige der praktisch nicht mehr existenten bürgerlich-kapitalistischen Klasse des Zarenreiches seien. Dafür sind die Kriminellen einerseits zahlenmäßig zu stark, andererseits zu jung.

In der Tat haben die sowjetischen Theoretiker für den Umfang der Kriminalität in der Sowjet-Union von heute keine Erklärung - und keine andere strafrechtliche Lösung als den Rückgriff auf westliche Vorstellungen: Da es - entgegen den Marxschen Erwartungen - immer noch Verbrecher gibt, bleibt nichts übrig, als sie schlechthin deswegen zu bestrafen, weil ihre Taten die Grundrechte anderer Staatsbürger verletzen. Die Neureichen Sowjetrußlands sind an der handfesten Verteidigung persönlichen Eigentums genauso interessiert wie die Altreichen des Westens.

Das bis zum 25. Dezember 1958 gültig gewesene sowjetische Strafrecht definierte - wie es Hilde Benjamin jetzt für die Sowjetzone anstrebt - das Verbrechen als »sozialgefährliche Handlung« und dehnte gleichzeitig den Begriff der »sozialgefährlichen Handlung« auf praktisch alle Verstöße gegen Anordnungen des Sowjetregimes aus: »Als sozialgefährlich gilt jede Handlung oder Unterlassung, die sich gegen das Sowjetsystem richtet oder die Rechtsordnung verletzt, die vom Regime der Arbeiter und Bauern für die Zeit des Übergangs zur kommunistischen Gesellschaftsordnung errichtet ist.«

Nach diesem Artikel sind Hunderttausende von Sowjetmenschen verurteilt worden - ohne daß man ihnen viel mehr als den vagen Vorwurf der Sozialgefährlichkeit machen konnte.

Zwar beschreibt auch das neue sowjetische Strafgesetz das Verbrechen als »eine sozialgefährliche Handlung«, schränkt aber zugleich die Auswirkungen dieser Definition ein. Nach dem Reformgesetz kann ein Sowjetbürger nur dann als sozialgefährlich verurteilt werden, wenn ihm nachgewiesen worden ist, daß er durch eine Handlung gegen das materielle Strafrecht verstoßen hat. Erst dann kann der Aspekt der Sozialgefährlichkeit bei der Bewertung des Verbrechens zur Geltung kommen. In Artikel 3 des Reformgesetzes heißt es:

Niemand kann zur strafrechtlichen Verantwortung gezogen und einer Strafe unterworfen werden, wenn nicht für eine Handlung, welche einen vom Strafgesetz gebildeten Straftatbestand bildet.

Dieser Artikel ist die erste Habeaskorpusakte der neueren sowjetischen Rechtsgeschichte - und insofern beinahe eine revolutionäre Tat.

Wie immer man die unmittelbare Wirkung der sowjetischen Strafrechtsreform auf die künftige sowjetische Jurisdiktion beurteilt, unverkennbar ist, daß ihre liberalen Tendenzen Zukunfts-Perspektiven eröffnen, die sich mit der von Hilde Benjamin angekündigten Strafrechtsreform in der Zone nicht in Übereinstimmung bringen lassen. Das bleibt eine fatale Tatsache - auch wenn die marxistische Doktrin in Gestalt der Lehre von den unterschiedlichen Phasen des sozialen Fortschritts eine Erklärung dafür bereit hält.

Moskau ist nämlich aus Gründen der praktischen Politik an einer möglichst einheitlichen Entwicklung in seinem Satellitenbereich interessiert. Es drängt darauf, daß seine Gefolgs-Staaten möglichst im Gleichschritt mit der Sowjet-Union marschieren.

Auf jeden Fall dürfte allen intelligenten Justiz-Funktionären Pankows klar sein, daß - auf Sicht - die von Moskau neuerdings modellierten Rechtsgedanken auch in der DDR eine größere Chance der Verwirklichung haben als die gemeinhin und durchaus zutreffend als »stalinistisch« charakterisierten Grundsätze, die Ulbricht auf dem V. Parteikongreß bekanntgab.

Selbst wenn Ulbricht für seinen nicht nur auf dem Gebiet der Rechtspflege verfolgten stalinistischen Kurs zur Zeit die Billigung Chruschtschews besitzt, so ist doch unschwer zu erkennen, daß der sowjetische Block-Tribun möglichst bald auch in der DDR auf die Generallinie umschalten möchte, mit der er - Chruschtschew - nun einmal sein persönliches Geschick verbunden hat: auf die Linie allmählicher Liberalisierung.

Für die Pankower Funktionäre - für Ulbricht wie für die Benjamin und alle anderen - hat dieser Aspekt eine persönliche Pointe: Wer sich bis zum Tag der Wende allzusehr als Stalinist kompromittiert hat, läuft Gefahr, an diesem Tage als Sündenbock für Taten der Vergangenheit geopfert zu werden, die dann rückblickend zu »Fehlern« und »Abweichungen« erklärt werden.

Die Pointe ist für Hilde Benjamin besonders deutlich erkennbar. Funktionäre, die mit der Verfolgung politischer Gegner zu tun oder unpopuläre Polizei- und Justizmaßnahmen durchzuführen haben, bietet sich sozusagen von Amts wegen als Sündenböcke an. Letztes grausiges Beispiel aus der Geschichte der Sowjet-Union: Stalins Gendarm Berija.

Darüber hinaus: Wenn Ulbricht sich für den Tag des Kurswechsels eine Chance ausrechnet, politisch zu überleben, so kann sie der Natur der Sache nach nur darin bestehen, daß er sich von seiner eigenen Vergangenheit distanziert, indem er die verhaßte Blutrichterin Benjamin fallenläßt.

Tatsächlich gibt es denn auch Hinweise dafür, daß die Benjamin, das auf sie zukommende Verhängnis frühzeitig erkannt und versucht hat, ihm auszuweichen. Sie sah, daß sich in der Sowjet-Union eine Liberalisierung anbahnte, und machte Anstalten, diesem Kurs zu folgen.

Den Haupt-Impuls zu der sowjetischen Strafrechtsreform hatte Chruschtschew bereits im Februar 1956 auf dem berühmten XX. Parteikongreß gegeben. Von diesem Zeitpunkt an zeichnete sich - zunächst zögernd, dann deutlicher werdend und gelegentlich auch schwankend - in der sowjetischen rechtswissenschaftlichen Literatur die bevorstehende Reform mit ihren rechtsstaatlichen Tendenzen ab.

In einem Artikel zur Jahreswende 1957/58 versuchte daraufhin die Benjamin, diesen Tendenzen auch in der sowjetzonalen Rechts-Politik einen - freilich bescheidenen - Platz einzuräumen.

Das entsprach jedoch keineswegs den Absichten Ulbrichts, der wünschte, auf dem damals noch bevorstehenden V. Parteikongreß der SED eine Strafrechtsreform im stalinistischen Sinne anzukündigen. Er ließ also im Rücken der Benjamin, die vor der Hürde einer stalinistischen Reform scheute, die Peitsche knallen. Das geschah auf einer Juristen-Tagung in Leipzig.

Vollstrecker des Ulbrichtschen Dressur -Akts war der Direktor des Deutschen Instituts für Rechtswissenschaft (der DDR), Horst Büttner, seine Peitsche war die Kritik an dem Silvester-Artikel der Benjamin: Der Artikel - so der Büttel Büttner - offenbare »eine Unterschätzung der ideologischen Rolle des Rechts überhaupt«. Er atme revisionistischen Geist. Sein Verfasser sei nicht frei von Resten bürgerlichen Denkens.

Die Vorwürfe »bürgerlichen Denkens« und des »Revisionismus« kamen der Drohung mit dem Partei-Ausschluß gleich. Sie ließen den Schatten der Geächteten des Frühjahrs 1958 - der »Revisionisten« Oelssner, Schirdewan nud Genossen - auf Hilde Benjamin fallen. Eine solche Drohung konnte nur von ganz oben kommen, von Walter Ulbricht.

Juristen, die inzwischen in den Westen geflohen sind, beobachteten, wie sich während der Rede Büttners der maskuline Nacken der Justizministerin hektisch rötete. Indes, sie schwieg - und gehorchte. Rund vier Wochen später sprang sie über die Hürde, die ihr Ulbricht gestellt hatte. Auf dem Parteikongreß akklamierte sie der von Ulbricht geplanten Strafrechtsreform, die sie - die Benjamin - tiefer denn je in das Fatum einer Stalinistin verstrickt.

Die Konfrontation mit dem sofortigen Sturz ins Nichts, in ein namenloses Dasein, hatte ausgereicht, um die Widerspenstige zu zähmen. Wahrscheinlich hatte der Partei -Zuchtmeister den Nerv ihres Ehrgeizes, ja ihres Lebens schlechthin getroffen.

Die besten Jahre ihrer Jugend verbrachte Hilde Benjamin, geborene Lange, vor den Türen der Ballsäle des Lebens. Weder als Frau noch als Anwältin waren ihr Glück und Erfolg beschieden.

Noch heute ist die Benjamin sogar bei ihren Genossen nicht beliebt. Die Provinzfunktionäre fürchten sie, den Pankower Bonzen fällt sie durch intellektuelle Arroganz auf die Nerven, und auch Ulbricht empfindet für die »unrasierte Dame« nur die frostige Solidarität des Geburts-Proleten gegenüber dem konvertierten Bourgeois: Die Benjamin stammt aus bürgerlicher Familie mit deutschnationalen Traditionen.

Vater Lange, der zeitlebens martialische Schnauzbartbilder aus seiner Feldwebelzeit in der Brieftasche trug, diente sich zu einem Direktorenposten in einer Berliner Filiale des Scheidemandel-Konzerns empor (einem vorwiegend finanzkapitalistischen Zusammenschluß europäischer Leimfabrikanten und Leimgroßhändler mit Schwerpunkten in Mitteldeutschland und Berlin). Die 1902 geborene Hilde wuchs in der plüschgepolsterten Sekurität der Goldmark-Zeit auf.

Doch schon ihr juristisches Studium mußte sie durch Lohnarbeit im Hamburger »Rauhen Haus« und in einer Heidelberger Konservenfabrik sichern; das elterliche Effekten-Vermögen war in der Inflation zerronnen. Von den Kommilitonen in Hamburg, Heidelberg und Berlin herablassend übersehen oder bespöttelt - »unsere Inderin« -, wich das Mädchen, dem gerade der erste dunkle Flaum auf der Oberlippe sproß, in die Diskutierzirkel des Sozialistischen Studentenbundes aus.

1926 heiratete die für Berlin zugelassene Rechtsanwältin Lange den praktischen Arzt Georg Benjamin, einen Edelkommunisten, dessen Eltern in einer luxuriösen Grunewald-Villa residierten. Dr. Benjamin unterhielt eine Arme-Leute-Praxis im roten Berliner Wedding. Frau Hilde richtete nicht weit davon, in der Badstraße, ein Anwaltsbüro und die Wohnung ein. Wenn es ihr an Klienten fehlte, assistierte sie ihrem Mann.

Die Anwaltspraxis beschränkte sich auf Abtreibungsfälle, Trunkenheitsdelikte und politische Schlägereien. Hilde Benjamin war Mitglied der KP, aber sie zählte nicht zu den prominenten Advokaten der Partei, die in Moabit die großen Prozesse führten. Nur ein einziges Mal tauchte ihr Name in den Spalten der Berliner Presse auf: Im Mordfall Horst Wessel verteidigte sie die Hauswirtin des Wessel-Mörders »Ali« Höhler. Die KP-Zweigorganisation »Rote Hilfe«, die mit gespendeten Geldern vor allem Angehörige verhafteter oder verletzter Aktivisten unterstützte, hatte ihr, wie schon früher gelegentlich bei Bagatellsachen, das Mandat zukommen lassen.

Im Februar 1933 verwüstete eine Rotte SA-Leute die Praxisräume des Ehepaars Benjamin. Der Kommunisten-Doktor wurde verhaftet. In der Wohnung hingen nach der Hausdurchsuchung die Tapeten in Fetzen von den Wänden. Hilde Benjamin flüchtete mit ihrem zwei Monate alten Sohn Michael zu den Eltern in die Steglitzer Düntherstraße, bei denen auch ihre Schwester Ruth wohnte.

Ruth kümmerte sich um Michael, Hilde - nach der nationalsozialistischen Machtübernahme aus der Berliner Anwaltskammer ausgeschlossen - fand bei der Sowjetischen Handelsgesellschaft in Berlin als Rechtsberaterin Unterschlupf. Nach zehn Monaten tauchte auch Dr. Benjamin in der schwiegerelterlichen Wohnung auf. Im KZ Sonnenburg hatte sich seine humanitäre Heiterkeit verflüchtigt. Am Familientisch saß ein wortkarger Sonderling.

Hilde versuchte noch einen Anlauf. Es gelang ihr, im Wedding wieder eine Wohnung aufzutreiben. Mit dem Gehalt, das ihr die Sowjets zahlten, hielt sie die Familie über Wasser. Georg Benjamin konspirierte nächtelang mit Leuten, die sich unter gängigen Vornamen einführten, bis ihn an einem Frühlingsabend des Jahres 1936 zwei Beamte der Geheimen Staatspolizei abholten: Das Urteil lautete auf sechs Jahre Zuchthaus wegen fortgesetzter Mitarbeit in einer kommunistischen Untergrundorganisation.

Hilde Benjamin blieb auf freiem Fuß. Sie retirierte abermals zu den Eltern. Doch auch in Steglitz fühlte sie sich bald nicht mehr sicher. Nachdem sie ihren dreijährigen Jungen in einem jüdischen Kinderheim abgeliefert hatte, versteckte sie sich hinter den Werkstattscheiben einer Fabrik in Kaulsdorf: Wochenlohn als Schreiberin 32 Mark.

Einige Monate lang durfte Georg Benjamin noch in einer überfüllten Massenzelle des Zuchthauses Brandenburg dem Kalfaktor bei der Essenausgabe zur Hand gehen, dann verfrachtete ihn die SS mit einem Schub politischer Häftlinge in das Konzentrationslager Columbia; von dort kam er in das provisorische Lager Wuhlheide am Ostrand Berlins.

Durch ein kleines Wäldchen schlichen sich Hilde und ihre Schwester Ruth bis zur Lagerumzäunung. Hinter dem Stacheldraht wartete der zuvor über jüdische Verbindungsleute verständigte Häftling Benjamin, dem es gelungen war, sich auf dem Weg zur Latrine aus dem Blickfeld der Wachen zu stehlen. Hilde schob ihm ein Päckchen mit Lebensmitteln zu.

Es blieb bei diesem einen Besuch. Nach einem Pogrom im Lager Wuhlheide wurden die jüdischen Gefangenen - »Sie leben wie die Maden im Speck« - verlegt. Danach blieb Georg Benjamin jahrelang unauffindbar.

Im Herbst 1936 holte seine Frau ihren Sohn aus dem jüdischen Kinderheim: Ein Angestellter des Berliner Arbeitsamts hatte ihren Aufenthalt in Steglitz legalisiert, indem er ihr eine Stelle als Dienstmädchen ihrer eigenen Eltern und damit Wohnrecht in der Düntherstraße zuschob.

Sie verkroch sich nun regelrecht, feilte an ihren russischen Sprachkenntnissen, unterrichtete Michael, der als »Juden-Stämmling« keine Schule besuchen durfte, und wartete auf ein Lebenszeichen ihres Mannes. Seine Strafzeit sollte im Sommer 1942 ablaufen. Doch statt des Telegramms, das seine Ankunft meldete, brachte der Postbote ein gelbes Kuvert »Frei durch Ablösung Reich«. Die Verwaltung des Konzentrationslagers Mauthausen an der Donau setzte die Witwe Benjamin per Vordruck vom Selbstmord ihres Mannes - »Berühren einer Starkstromleitung« - in Kenntnis.

Es blieb ihr ein Brief, datiert noch aus dem KZ Columbia: »Schutzhäftling 6958, Georg Benjamin. Gef. Komp. 1. Liebe Hilde, Du mußt jetzt versuchen, eine ganz selbständige Lebensführung zusammen mit unserem Jungen zu finden...«

Als sich 1945 der Qualm der letzten Schlacht um Berlin verzogen hatte, tauchte auch Hilde Benjamin aus den Trümmern auf. Politisch fühlte sie sich mehr denn je auf Georg Benjamins politisches Glaubensbekenntnis verpflichtet, menschlich hatten die Jahre der Verfolgung sie versteinert. Von ihren Fähigkeiten überzeugt, wollte sie fortan zu denen gehören, die treten, statt zu denen, die getreten werden. Von nun an wird ihr Leben zu einer Flucht nach vorn und nach oben, wo sie Sicherheit zu finden hofft.

Heute, auf dem Gipfel ihrer Karriere, leidet Hilde Benjamin an einer Verfolgungs-Neurose. Sie tut keinen Schritt, ohne daß ihr ein Mann ihrer dreiköpfigen Leibwache folgt. Auf Reisen, selbst zum regelmäßigen Funktionärs-Wochenende auf Schloß Lindow in der Mark, nimmt sie alle drei Muskelmänner mit.

Anfang September vergangenen Jahres war sie im thüringischen Bad Liebenstein: Ihr täglicher Gang vom Hotel zum Kurhaus führte durch ein Spalier eigens herangekarrter Volkspolizisten.

Ihr einst auf die privilegierte Bourgeoisie gezielter Haß hat die Form zynischen Menschenverachtung angenommen. »Lassen Sie sich ablösen, Ihre Haare stinken«, demütigte sie den Polizeiwachtmeister, der ihr jahrelang als Chauffeur gedient hatte.

Ihre Nachkriegs-Laufbahn begann mit einem Zwischenspiel. An einem Maimorgen des Jahres 1945 beauftragte der von den Sowjets eingesetzte kommunistische Steglitzer Bürgermeister im Beisein des russischen Bezirkskommandanten Hilde Benjamin mit dem Wiederaufbau des Justizwesens in den Bezirken Steglitz und Lichterfelde. Unter Berufung auf den sowjetischen Offizier scheuchte sie in den nächsten Wochen das Dutzend Justizbeamter, das sich inzwischen wieder eingefunden hatte, durch die weitläufigen Gänge des Lichterfelder Amtsgerichts. Ihr Tätigkeitsdrang kollidierte jedoch bald mit den Anciennitäts-Ansprüchen ehemaliger Lichterfelder Rechtsdiener, die ihre noch warmen Sessel wieder angesteuert hatten.

Nachdem sich die Sieger des Zweiten Weltkriegs in Potsdam über die Vierteilung Berlins geeinigt und Lichterfelde ebenso wie Steglitz zum amerikanischen Sektor geschlagen hatten, arbeitete die proletarische Tempelreinigerin nur noch in der bescheidenen Funktion einer Staatsanwältin am Wiederaufbau der Berliner Justiz mit. Der alte preußische Beamtenkörper, wiewohl durch die Entnazifizierung erschüttert, erwies sich als resistent gegen Blitzkarrieren linksorientierter Außenseiter ihres Schlages.

Ganz andere Chancen durfte sie sich im sowjetischen Herrschaftsbereich ausrechnen, wo die zurückkehrenden deutschen Exilkommunisten im Windschatten der Roten Armee begonnen hatten, den Torso der alten Gesellschaftsstruktur zu zertrümmern, um Platz für ihren sozialistischen Traumstaat zu schaffen. Die Benjamin nahm mit der Ostberliner Justizverwaltung Fühlung auf.

Noch schaufelten die Berliner Frauen Schutt aus zerbombten Wohnungen, als Hilde Benjamin schon täglich durch einen Dienstwagen in Steglitz abgeholt wurde. Ihr neuer Briefkopf wies sie als »Direktor bei der Deutschen Justizverwaltung der sowjetischen Besatzungszone« aus. Ihr unterstand die Abteilung II: Personalien, Rechtsanwaltschaft und Notariat, Gerichtsvollzieherwesen.

Hilde Benjamin begann ihre Arbeit als Personalreferentin mit der Entnazifizierung des Richterstandes. Sie schuf das System der »Volksrichter«, die »beste Antifaschisten sein und so viel Lebenserfahrung haben sollen, daß ihnen nach halbjähriger Ausbildung ein Richteramt übertragen werden kann«.

Obwohl der Gebrauch, den die kommunistische Führung dereinst von den Volksrichter-Kadern machen würde, damals noch nicht sichtbar war, meldeten sich bald warnende Stimmen. Selbst der fast 90jährige Reichsminister außer Dienst Eugen Schiffer, sozialistischer Demokrat und erster Amtschef der »Deutschen Justizverwaltung der sowjetischen Besatzungszone«, mokierte sich über die Laienrichter. »Es genügte, wenn nichts Nachteiliges gegen sie vorlag. Sie sollten das Volk als solches darstellen. Jedoch nicht jeder Teil repräsentiert das Ganze ... so viel steht fest, daß nicht jeder einzelne im Volk auch geistig der Quotient ist, der sich aus der Einwohnerzahl als Divisor und zugleich Dividendus ergibt«

Der humanistisch gebildete Jurist Schiffer, dem die klassischen Zitate und eleganten Sentenzen leicht von den Lippen gingen, war in einem tragischen Irrtum befangen. Er hatte überhaupt nicht begriffen, was die Hilde Benjamin unter seiner Aufsicht anzurichten begann.

Die »Volksrichter« und »Volksstaatsanwälte«, die Schiffer als Notbehelf und allenfalls zur Blutauffrischung der anämisch gewordenen Justiz akzeptierte, waren für die wahren Herren der Zone nicht Instrumente einer abstrakten Gerechtigkeit, sondern der eigentliche Hebel, um das bourgeoise Recht aus den Angeln zu wuchten und damit die Herrschaft des Bürgertums zu brechen. Richter, deren Auswahl und Ausbildung in den Händen der Partei lag, mußten »parteiliche Richter« sein - das genaue Gegenteil dessen, was der Demokrat Schiffer anstrebte, der von der nationalsozialistischen Justiz loszukommen trachtete.

Während die Entnazifizierung in den übrigen Sowjetzonen-Behörden, sogar bei den Kommandostellen der Polizei, zunächst elastisch gehandhabt wurde, besaß Hilde Benjamin durch den schon im September 1945 erlassenen Befehl Nr. 49 des Obersten Chefs der Sowjetischen Militär-Administration die Vollmacht, innerhalb des Juristenstandes eine Massensäuberung durchzuführen. Wie gründlich sie dabei vorging, zeigt das Beispiel des Landes Sachsen, wo von 1000 Richtern und Staatsanwälten innerhalb eines Jahres nicht weniger als 800 auf die Straße geschickt wurden.

Mit diesem Übersoll empfahl sich die unbekannte Direktorin der Justizverwaltung zum erstenmal als rücksichtslose Vollstreckerin eines in jenen Jahren selbst von den meisten deutschen Kommunisten noch nicht in seiner ganzen Tragweite erfaßten Parteiwillens, der seinen Ursprung in Moskau hatte. Der Kreml wurde auf sie aufmerksam.

Die kommunistische Spitzen-Funktionärin Benjamin wohnte damals noch unbehelligt im amerikanischen Sektor der viergeteilten Stadt. Sie verkehrte in verschiedenen internationalen Zirkeln und erzählte Schwester und Freundinnen, daß ihr Sohn Michael, der inzwischen in Westberlin das Abitur mit Auszeichnung bestanden hatte, an den Bildungsstätten der europäischen Jeunesse dorée studieren werde: Michael solle sich in Genf, Paris und London auf die diplomatische Karriere vorbereiten. Doch nun kam für Hilde Benjamin die Stunde der Entscheidung zwischen Ost und West.

Mitte 1948 begann Stalins Blockade Westberlins. Der Kreml machte mit der Teilung Deutschlands Ernst. Kurz zuvor erhielt Hilde Benjamin einen Wink Ulbrichts: Im »demokratischen Sektor«, Schönhauser Allee, stehe eine standesgemäße Dienstwohnung leer.

Dann nahm sich die Moskauer Generalinquisition der befähigten Novizin an. Das Sekretariat des Zentralkomitees der KPdSU lud Michael Benjamin, den Sohn des antifaschistischen Märtyrers, zu einem Freistudium in die Sowjet-Union ein. Mutter Benjamin ignorierte die Offerte.

Der zweite Brief ließ nicht lange auf sich warten. Frau Benjamin hätte nun wie Dr. Zuckermann und andere desillusionierte Kommunisten nach Westen aufbrechen und an Rhein oder Isar einen Neuanfang versuchen können. Sie zog die relativ sichere Aussicht auf eine sowjetzonale Karriere vor. Sohn Michael mußte seine Koffer packen.

Als Schöpfer eines Kaders von sogenannten Volksrichtern hatte die Benjamin der noch im Planungsstadium befindlichen DDR einen unschätzbaren Dienst erwiesen. Die Gesetze, die - bis zur Gründung der DDR 1949 - im Namen der sowjetischen Besatzungsmacht erlassen wurden, richteten sich vorwiegend gegen die Versuche der hungernden und darbenden Bevölkerung, durch Schwarzhandel das Leben zu fristen. Die Rabaukenrichter der Benjamin waren bedenkenlos genug, diese Terror-Prokura rigoros auszunützen. Zwei Drittel aller Strafsachen betrafen damals sogenannte Wirtschaftsverbrechen.

Über Nacht erfanden die Gesetzgeber Straftatbestände, etikettierten sie mit abstoßend klingenden Titeln und versahen sie mit brutalen Strafbestimmungen. Für »Schiebertum« etwa wurde die Todesstrafe angedroht Zahllose solcher Gesetze verschwanden, wie sie gekommen waren.

Die Gesetzgebung der Besatzungsjahre sollte in erster Linie gewährleisten, daß die sowjetischen Reparationsforderungen erfüllt wurden, erst in zweiter Linie hatte sie auch das Ziel, das Bürgertum wirtschaftlich zu vernichten.

Als Gesetzes-Instrument diente vornehmlich der berüchtigte »Befehl 160« der Sowjetischen Militär-Administration (Dezember 1945), durch den zwei der sowjetischen Militärsprache entnommene Begriffe in der auf deutschem Boden ausgeübten Justiz heimisch wurden - die Begriffe der »Diversion« und der »Sabotage«. Unter »Diversion« verstand man nunmehr in Pankow »Wühlakte, die auf eine Verhinderung der wirtschaftlichen Maßnahmen deutscher Verwaltungsorgane gerichtet sind«.

Inzwischen reifte für die bewährte Justizfunktionärin Benjamin eine neue Aufgabe heran. Im Sommer 1949 - am Vorabend der Gründung der DDR (Oktober 1949) - flog sie mit einer sowjetischen Militärmaschine nach Moskau, um die sowjetische Justiz an Ort und Stelle zu studieren. Sie kam in die Schule eines Justizapparats, der von einer der schrecklichsten Figuren der modernen Justizgeschichte geformt worden war: von Andrej Wyschinski.

Wyschinski, Generalstaatsanwalt der blutigen Säuberungswellen Stalins, war freilich nicht nur der fürchterliche Ankläger mit der vulgären Sprache ("Sie Schwein, Sie Sohn einer Hündin") gewesen, als den ihn der Westen kennt, er war vielmehr auch der raffinierteste Theoretiker des stalinistischen Justizterrors. Recht und Gesetz sind - so schrieb er in einem Buch, das jahrelang als die Magna Charta der sowjetischen Rechtsprechung galt - nichts anderes als Instrumente, »um die gesellschaftlichen Verhältnisse zu festigen und zu entwickeln, die der herrschenden Klasse (dem Proletariat) vorteilhaft und genehm sind«. Damit war jede Bindung des Rechts an vorgegebene, sittliche Grundsätze aufgehoben. Recht und Gewalt waren vollkommen identisch geworden.

Im Herbst 1949 kehrte die Benjamin in ihr Direktorenbüro in der Ostberliner Dorotheenstraße zurück - versehen mit den Weihen der stalinistischen Justiz und gerade noch rechtzeitig genug, um an dem Postensegen der neuen »Deutschen Demokratischen Republik« teilzunehmen. Sie wurde Vizepräsidentin des Obersten Gerichts der DDR - praktisch dessen Chefin, denn der nominelle Präsident, ein ehemaliger Kriegsgerichtsrat namens Schumann, war lediglich eine Attrappe.

»Ich bin über jeden seiner Schritte informiert, denn ich habe den Mann meiner Wirtschafterin Sophie als Fahrer bei ihm eingesetzt; er berichtet mir alles, was Schumann tut«, prahlte die Benjamin damals in vertrauter Gesellschaft. Schumann resignierte bald und ließ die robuste Altkommunistin, die über gute Verbindungen zur Rechtsabteilung der sowjetischen Militärmission verfügte, so unbeschränkt gewähren, wie es drei Jahre zuvor der Dr. Schiffer getan hatte.

Die Aufgabe, die der Benjamin in ihrem neuen Amt gestellt war, lautete, einen Richter neuen Typs zu modellieren. Der grobschlächtige Volksrichter der Jahre 1945 bis 1949 sollte durch einen Richter abgelöst werden, der neben der notwendigen Härte auch die Voraussetzungen dafür mitbrachte, seine Härte richtig zu verteilen - »richtig« im Sinne der Diktatur des Proletariats.

Von diesem Richter wurden profunde Kenntnisse in der marxistischen Dialektik verlangt. Er mußte in der Lage sein, die jeweilige »konkrete« Situation (ein Lieblingswort der Marxisten) der DDR-Gesellschaftsordnung einzuschätzen - mit anderen Worten: Jedes seiner Urteile mußte so bemessen sein, daß es den gesellschaftlichen Fortschritt vorantrieb - indem irgendeine Position des Bürgertums dabei vernichtet wurde - es mußte andererseits so angelegt sein, daß es keine allzu große Empörung verursachte und die Endziele der Kommunisten nicht zu früh entlarvte.

Die erste und wichtigste Strafnorm der neugeschaffenen DDR war ein Verfassungsartikel - ein Artikel, in dem auf eine hintergründig ironische Weise einer der heiligsten Grundsätze des westlichen Liberalismus mit einem geradezu barbarischen Text vermengt wurde. Dieser Artikel - es ist der sechste der DDR-Verfassung - bestimmt zunächst: »Alle Bürger sind vor dem Gesetz gleichberechtigt«, und fährt dann fort: »Boykotthetze gegen demokratische Einrichtungen und Organisationen, Mordhetze gegen demokratische Politiker, Bekundung von Glaubens-, Rassen-, Völkerhaß, militärische Propaganda sowie Kriegshetze und alle sonstigen Handlungen, die sich gegen die Gleichberechtigung richten, sind Verbrechen im Sinne des Strafgesetzbuches.«

Diese Bausch-und-Bogen-Formulierung, anwendbar gegen jeden noch so harmlosen Bürger der DDR, war mit den höchsten Strafandrohungen gekoppelt, wie sie für Verbrechen vorgesehen waren, ab 1950 - nach Wiedereinführung der 1949 abgeschafften Todesstrafe - auch mit der des Todes durch das Beil.

Bei solcher Pauschal-Gesetzgebung - charakteristisch auch für das 1950 erlassene Gesetz zum Schutze des Friedens und das 1952 genehmigte Gesetz zum Schutze des Volkseigentums - kam alles auf den Richter an. Der Richter sollte durch seine Urteile gerade soviel Schrecken - nicht weniger, aber auch nicht mehr - verbreiten, wie zur Durchsetzung der sozialrevolutionären Ziele der SED erforderlich war.

Die Vizepräsidentin Benjamin hantierte das Instrument dieser Pauschal-Gesetzgebung virtuos. Bemerkenswert ist, wie wenig Todesurteile sie in den vier Jahren ihrer Amtszeit aussprach und wie oft sie hohe Zuchthausstrafen verhängte.

Von 67 Angeklagten, die in vier Jahren vor ihrem Richterstuhl erschienen, verurteilte sie zwei zum Tode, zwölf zu lebenslänglichem Zuchthaus und die übrigen 53 zu insgesamt 536 Jahren Zuchthaus und 13 Jahren Gefängnis. Die Erfordernisse der »konkreten« Situation verlangten eben keine Todesurteile. »Bautzen« und die Drohung, nach Sibirien verschickt zu werden, reichten aus, um den gewünschten revolutionären Zweck zu erzielen. Die Benjamin war als Richter keine blutrünstige feminine Neuausgabe Freislers, sondern eine kaltblütig auf den politischen Effekt ihrer Urteile bedachte Marxistin.

Um die Volksrichter und Volksstaatsanwälte in eben diesem Sinne zu erziehen, schuf sich Pankow zwei Instrumente:

- Das Gesetz über die Staatsanwaltschaften vom 23. Mai 1952 und

- das Gerichtsverfassungsgesetz (GVG)

vom 2. Oktober 1952.

Das GVG hob formal das freilich in der Praxis längst durchlöcherte Prinzip auf, wonach ein Richter nicht abberufen werden kann. Wenn die sowjetzonalen Richter »gegen die Verfassung oder andere Gesetze verstoßen oder sonst ihre Pflichten als Richter gröblich verletzen«, können sie abgesetzt werden.

Unter richterlicher Pflichtverletzung verstehen die DDR-Gesetzgeber dabei nicht etwa nur kriminelles Verhalten im Sinne des Strafgesetzbuches - in solchen Fällen werden auch im Westen die Richter abberufen -, sondern jedes dem Parteiinteresse zuwiderlaufende Urteil.

Überdies: Nach dem Gesetz über die Staatsanwaltschaften kann der Generalstaatsanwalt Dr. Melsheimer - früher Justitiar der NSV in Berlin - gegen unbotmäßige Richter vorgehen. Die Rechte Melsheimers und seiner Staatsanwälte gehen überhaupt viel weiter als die seiner Kollegen im Westen. Er kann jedes rechtskräftige Urteil kassieren und die Sache zur Neuverhandlung vor das Oberste Gericht bringen.

Das Gesetz über die Staatsanwaltschaften ist eine nahezu wortgetreue Kopie der entsprechenden sowjetischen Vorschriften, deren Verfasser Wyschinski war.

Die Staatsanwaltschaft übt über alle staatlichen Behörden bis hinauf zu den Ministerien ein Aufsichtsrecht aus und kann sogar in Betrieben Anordnungen erlassen - wie dies kürzlich ein Staatsanwalt vorexerzierte, der den Direktor einer Fabrik durch direkten Eingriff dazu veranlaßte, eine bestimmte Produktionsmethode zu akzeptieren.

Auch die Gerichtsorganisation ist darauf angelegt, eine »parteiliche« Rechtsprechung zu gewährleisten. Es gibt drei Instanzen: 217 Kreisgerichte, 14 Bezirksgerichte und das Oberste Gericht.

Beim Kreisgericht bilden ein Richter und zwei Schöffen eine Kammer. Die Bezirksgerichte sind die zweite und zugleich letzte Instanz für Berufungen des Verurteilten und Proteste des Staatsanwalts - es sei denn, der Generalstaatsanwalt spricht die Kassation aus.

Als zweite Instanz urteilen die Zivil - und Strafsenate der Bezirksgerichte ohne Schöffen, nur mit drei Berufsrichtern besetzt, deren Abhängigkeit vollkommen ist. Amtieren die Bezirksgerichte als erste Instanz, sind ihre Senate mit einem Oberrichter und zwei Schöffen besetzt.

Die Senatsvorsitzenden sind aber dann ermächtigt, nach ihrem Gutdünken von der Schöffenliste abzuweichen und bei wichtigeren politischen oder wirtschaftlichen Prozessen besonders parteitreue Schöffen heranzuziehen. Diese Bestimmung

- im Westen nicht denkbar, weil niemand

seinem gesetzlichen Richter entzogen werden darf - garantiert der SED eine Art von politischer Sondergerichtsbarkeit.

Das Oberste Gericht schließlich bearbeitet als zweite Instanz die Berufungen und Proteste gegen die erstinstanzlichen Entscheidungen der Bezirksgerichte, sowie als erste und zugleich letzte Instanz alle jene Strafsachen, die der Generalstaatsanwalt durch persönliche Anklage-Erhebung dem Obersten Gericht unterbreitet. Das bedeutet nichts weniger als eine Blankovollmacht für den Generalstaatsanwalt, in jedem Fall, der ihm als politisch interessant erscheint, den Angeklagten aller Rechtsmittel zu berauben: Das von den ausgesuchten Funktionären des Obersten Gerichts gefällte Urteil unterliegt keiner Nachprüfung mehr.

Der Generalstaatsanwalt hat damit die Möglichkeit, jedwede Verwaltungsmaßnahme der Regierung, etwa die Verschärfung der Paßbestimmungen oder auch nur eine Verordnung zum Ausbau der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften, durch exemplarische Strafen zu unterstreichen, indem er einige Fälle, die »gesellschaftstypisch« sind, herausgreift und die mehr oder minder zufälligen Opfer unter beifälligen Kommentaren der gesamten Zonenpresse aburteilen läßt.

Neuerlich ist die Kontrolle der Richter - und auch der Staatsanwälte - durch weitere Maßnahmen verschärft worden. Richter und Staatsanwälte müssen sich in sogenannten Justizkollektiv - Ausspracheabenden vor der Partei ihres Kreises oder Bezirks verantworten. Die Partei ist die einzige Instanz, die noch über der Staatsanwaltschaft steht.

Freilich war es schon vor dem Start der kollektiven Ausspracheabende üblich gewesen, daß die Partei vor wichtigen Prozessen die beteiligten Staatsanwälte und Richter zu Besprechungen mit sogenannten Werktätigen zitierte - was nichts anderes bedeutete, als daß das Urteil bereits vor Beginn des Prozesses durch die Partei diktiert wurde. Die Pauschalgesetzgebung gestattete praktisch jedes Urteil, mochte die Straftat auch noch so gering sein.

Mit der Zeit wurden die Pankower jedoch darauf aufmerksam, daß - trotz dauernder Schulung und Kontrolle der Justizfunktionäre durch die Partei - der pauschalen Gesetzgebung Gefahren innewohnten. Die gesellschaftlichen Zustände wurden von Tag zu Tag komplizierter und mithin auch die Rechtsverhältnisse.

Die Durchsetzung des Systems der Arbeitsnormen, die Übernahme zunächst der großen Industrie, später auch der gewerblichen Wirtschaft, der Handwerksbetriebe und des bäuerlichen Besitzes in volkseigene oder genossenschaftliche Regie vollzogen und vollziehen sich nicht von heute auf morgen, sondern in einem Prozeß mit wechselnden Schwerpunkten und von wechselndem Tempo, aber mit dem Effekt ständig zunehmender Differenziertheit. Die Rechtsprechung soll alle diese Momente berücksichtigen.

Ein Diebstahl, von einem Arbeiter ausgeführt, ist anders zu beurteilen als der, den ein »Kleinbürger« begeht. Ein Diebstahl an privatem Gut wiegt leichter als Diebstahl an volkseigenem Besitz. Ein Buntmetall-Diebstahl zu normalen Zeiten ist nicht zu vergleichen mit dem, der ausgeführt wird, wenn gerade eine Altmetall -Sammlungsaktion läuft.

Die von Hilde Benjamin zur Schulung von Laienrichtern herausgegebene Zeitschrift »Der Schöffe« bringt jeden Monat eine Gefechtskritik zu Urteilen, die von Gerichten der Zone gefällt wurden. Die Anmerkungen des »Schöffen« zeigen, wie schwierig die Aufgabe eines »parteilichen« Richters zu lösen ist.

Ein Beispiel: Am 30. Januar 1958 nimmt die Volkspolizei an der Berliner Sektorengrenze eine ältere Frau fest. Die Frau führt 36 Hühnereier mit - um sie in Westberlin zu verkaufen. Das Kreisgericht in Wusterhausen verurteilt sie »bedingt« - das heißt mit Aussetzung des Strafvollzugs - zu zwei Monaten Gefängnis.

Kritik des »Schöffen": »Angesichts der Tatsache, daß Lebensmittelverschiebungen einen Schwerpunkt bilden und auch in der Person der Angeklagten keine Umstände festgestellt wurden, die erkennen ließen, daß die gesellschaftliche Einwirkung ohne Freiheitsentzug zur Umerziehung ausreichen würde, hätte das Kreisgericht eine (bedingungslose) Freiheitsstrafe aussprechen müssen« - mit anderen Worten: Die Frau hätte härter bestraft werden müssen, weil die generalpräventive Absicht der Verhütung von »Lebensmittelverschiebungen« unter den konkreten Bedingungen der Zeit und des Ortes (Berlin!) »einen Schwerpunkt« bildete und weil die Frau offenkundig bürgerlicher Abkunft war.

Noch jüngst klagte Hilde Benjamin: »Es geht darum, daß es uns noch immer nicht mit völliger Sicherheit und in allen Fällen gelingt, die Einheit von strikter Einhaltung des Gesetzes und der Parteilichkeit, die die beiden Seiten der sozialistischen Gesetzlichkeit ausmachen, durchzusetzen.«

Seit 1952 planten die sowjetzonalen Gesetzgeber deshalb, die Aufgabe der Richter zu erleichtern, indem sie den Gerichten an Stelle der pauschalen Gesetze Texte in die Hand geben, in denen die Straftatbestände genauer spezifiziert sind. Gleichzeitig sollte dann auch der unbefriedigende Zustand beseitigt werden, daß die sozialistischen Zweckstrafen nur Fremdkörper in einem Strafrechtssystem bildeten, dessen Grundlage des Verhältnis von Schuld und Sühne und dessen Sinn der Schutz des Individuums war. Mit anderen Worten: Die SED strebte nun das in sich geschlossene sozialistische Strafrecht an.

Ressortmäßig wäre für diese Aufgabe der sowjetzonale Justizminister Fechner, ein ehemaliger Sozialdemokrat, zuständig gewesen. Doch in Pankow wurde man sich bald darüber klar, daß der sentimentale Saufaus Fechner für eine so komplizierte Aufgabe nicht über genügend Raffinement in marxistischem Denken verfügte. Er pokulierte gern in Karlshorst mit sowjetischen Wodka-Fans und erwarb sich die Freundschaft des, ebenfalls trinkfreudigen Generals Tschuikow, des Oberbefehlshabers der sowjetischen Streitkräfte in der DDR.

Doch schließlich kam der Tag, an welchem dem Fechner auch die Saufkumpanei mit dem dicken General nicht weiterhalf. In den Wirren des 17. Juni erlitt Fechner einen schweren und unverzeihlichen Rückfall in Irrtümer seiner sozialdemokratischen Vergangenheit. Er bestätigte öffentlich das - im übrigen in der DDR-Verfassung ausdrücklich garantierte - Streikrecht der Arbeiter. Ein solches Mißverstehen marxistischer Dialektik konnte nur durch Sturz geahndet werden. An Fechners Stelle trat Hilde Benjamin. Mit ihr begann für die Zonen-Deutschen die Ära des sozialistischen Rechts.

Indes, auch unter dem neuen Justizminister ließen die Maßnahmen zur Durchführung der großen Rechtsreform lange auf sich warten. Die konkrete Situation war für unpopuläre Aktionen nicht geeignet. Nach Stalins Tod waren in der für die DDR vorbildlichen Sowjet-Union die Verhältnisse labil. Die Beziehungen Ulbrichts zu Chruschtschew schienen gespannt zu sein. Die Malenkow-Krise, das ungarische Debakel und die inneren Kreml-Konflikte ließen ein vorsichtiges Taktieren geraten erscheinen.

Erst 1957 - Chruschtschew hatte inzwischen den stalinistischen Kurs Ulbrichts als Garantie für die Stabilität der DDR schätzen gelernt - legte Hilde Benjamin der Ostberliner Volkskammer den ersten Versuch einer grundsätzlichen Umgestaltung des sowjetzonalen Strafrechts vor: das sogenannte Strafrechts-Ergänzungsgesetz (StEG).

Dieses StEG hob sich von der vorangegangenen DDR-Strafgesetzgebung durch die genauere Definition der Straftatbestände ab. Hatte man vorher zum Beispiel unter »Diversion« etwas so Verschwommenes wie »Wühlakte« gegen die Zonenbehörden verstanden, so beschreibt Paragraph 22 des StEG den damit gemeinten Straftatbestand erheblich handgreiflicher:

Wer mit dem Ziele, die Volkswirtschaft oder die Verteidigungskraft der Deutschen Demokratischen Republik zu untergraben, es unternimmt, Maschinen, technische Anlagen, Transport- oder Verkehrsmittel oder sonstige für die Wirtschaft oder für die Verteidigung wichtige Gegenstände zu zerstören, unbrauchbar zu machen oder zu beschädigen, wird wegen Diversion mit Zuchthaus nicht unter drei Jahren bestraft; auf Vermögenseinziehung kann erkannt werden.

Paragraph 24 desselben Gesetzes bestimmt außerdem, daß in schweren Fällen von Diversion lebenslanges Zuchthaus oder die Todesstrafe verhängt werden kann. Was schwere Fälle sind, wird definiert.

Das StEG gab erstmalig auch annähernd brauchbare Beschreibungen für Begriffe wie »Staatsverleumdung«, »Schädlingstätigkeit«, »Staatsgefährdende Propaganda und Hetze«. Ferner führte es den Öffentlichen Tadel als Strafe und die Öffentliche Bekanntmachung von Bestrafungen als strafverschärfendes Mittel ein.

Alle Paragraphen des StEG, sofern sie Straftatbestände beschreiben, handeln von Verbrechen gegen die Gesellschaftsordnung. Die »Gesellschaftsgefährlichkeit« ist der alleinige Richtpunkt dieses Starts der sowjetzonalen Strafrechtsreform.

Sie wird nun mit einem grundsätzlichen Umbau des Strafgesetzes fortgesetzt werden, bei dem die schon dem StEG innewohnenden Tendenzen wirksam bleiben sollen:

- Spezifizierung der Straftatbestände entsprechend dem seit 1949 in zunehmendem Maße differenziert gewordenen Gesellschafts- und Wirtschaftsaufbau der DDR,

- Bewertung aller Straftatbestände unter

den beiden Aspekten der Generalprävention und der Dynamik - nämlich als Mittel, das »sozialistische Vaterland« zu schützen und den sozialistischen Fortschritt voranzutreiben.

Welche Straftatbestände in das neue Strafrecht aufgenommen werden, steht noch nicht genau fest. Immerhin kann man aus gelegentlichen Äußerungen Hilde Benjamins und Veröffentlichungen der Reform-Kommission einen Katalog der als strafwürdig diskutierten Verhaltensweisen ableiten.

Das neue Strafrecht wird zwischen konterrevolutionären Verbrechen (die im wesentlichen im StEG behandelt sind) und solchen Straftaten unterscheiden, »die aus Überresten kapitalistischer Denk- und Lebensgewohnheiten erwachsen« (Professor Lekschas). Die letzten sollen nach den Vorstellungen der Reformer durch die Neuschöpfung folgender strafbarer Tatbestände bekämpft werden:

- »Mißwirtschaft zum Schaden sozialistischen Eigentums« (offenbar strebt man an, Betriebsleiter strafrechtlich zu belangen, die schludrig arbeiten, ohne sich des Betrugs oder der Unterschlagung schuldig zu machen),

- »Handlungsweisen, die zu einer Hemmung oder gar Stagnation der sozialistischen Entwicklung« führen (womit man nachlässige oder widerwillige Beamte strafrechtlich in den Griff bekommen würde),

- Verhinderung der Ausbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse (richtet sich offenkundig gegen kirchliche Versuche, von der Teilnahme am atheistischen Jugendweihe-Unterricht abzuraten),

- unverantwortlicher und sorgloser Umgang mit sozialistischem Eigentum,

- Verstöße gegen die Plan-Disziplin,

- Verstöße gegen die Arbeits-Disziplin,

- Aufstellung sogenannter weicher Pläne

(ein Betriebsleiter entwirft für seinen Betrieb einen Produktionsplan mit Ziffern, die unter der wirklichen Leistungskapazität liegen, und erzielt damit am Jahresende ein Übersoll und die entsprechende Prämie),

- »Normenschaukelei« (sowjetzonaler Begriff für den Versuch, die Arbeitsnormen niedrig zu halten und auf diese Weise prämienträchtige Übersoll-Leistungen zu erreichen),

- Betriebsegoismus (liegt zum Beispiel vor, wenn ein Betriebsleiter schludrige Halbfabrikate an einen weiterverarbeitenden Betrieb liefert, nur um seinen Plan zu erfüllen),

- formalistische Durchführung von revolutionären Gesetzen, Verordnungen und Beschlüssen,

- Mißachtung der Gleichberechtigung der

Frau (etwa indem ein Mann seine Frau davon abhält, außer Hause zu arbeiten).

Alle Straftatbestände der geplanten Strafrechtsreform verfolgen den Zweck, die »Gesellschaft« zu schützen. Wie wenig sich hingegen die Rechte des einzelnen der Wertschätzung sowjetzonaler Gesetzesmacher erfreuen, läßt sich aus der Absicht ablesen, einen ganzen Katalog minderer, gegen das Individuum gerichteter Delikte aus der Strafjustiz überhaupt herauszunehmen. Man denkt daran,

- Formalbeleidigungen,

- tätliche Beleidigungen,

- üble Nachrede,

- leichte Körperverletzung,

- Hausfriedensbruch und

- Verletzung des privaten Briefgeheimnisses

nicht mehr durch Gerichte bestrafen zu lassen, sondern ihre »Schlichtung« bestimmten Kollektiven zu übertragen - also etwa den Hausgemeinschaften, Orts- oder Betriebsversammlungen, bei denen dann der Vertreter der SED nicht »Recht« spricht, sondern je nach den propagandistischen Bedürfnissen der Partei entscheidet.

Ob freilich diese geplante Nivellierung der Rechte des einzelnen und damit der Persönlichkeit des Menschen schlechthin noch durchführbar ist, scheint inzwischen fraglich geworden zu sein.

Der Ostberliner Professor Renneberg bemerkte noch im letzten Herbst, das neue Strafrecht dürfe - entsprechend den marxistischen Grundauffassungen - keinesfalls »Vergeltung« üben. Eben die Wendung aber zur »Vergeltungs-Strafe« ist laut Professor Maurach die gewichtigste Tendenz der sowjetischen Strafrechtsreform vom Dezember vorigen Jahres.

Hilde Benjamin steht seither vor der fatalen Aufgabe, in der DDR auf Ulbrichts Befehl ein Strafrecht einführen zu müssen, das im direkten Gegensatz zu der sowjetischen Rechtsentwicklung steht.

Die peinliche Alternative blieb nicht ohne Rückwirkungen auf die Verfassung der 57jährigen. In ihrer Villa im Sperrbezirk Niederschönhausen laufen nächtelang Schallplatten: Die Benjamin hat jedoch nicht etwa Gäste. Wie sie sich tröstet, ergibt sich vielmehr aus der Erzählung einer Ilse Reinicke, die vor ihrer Flucht dem einsamen Justizminister - »bei Kerzenschein und Mistelzweigen« - eng verbunden war: »Als Besonderheit fiel mir an diesem Abend auf, daß sie, schon ehe wir zu essen begannen, eine Kognakflasche aus dem Schrank nahm, zwei riesige Gläser voll schenkte und das ihrige auf einen Zug leerte.«

Dem Westberliner Untersuchungsausschuß freiheitlicher Juristen liegt die Aussage eines geflüchteten Justizangestellten vor: »Plötzlich riß sie die Tür ihres Dienstzimmers auf, lief an ihren Sekretären vorbei, über die Treppe zur nächsten Etage, den Gang entlang, in das Zimmer über ihrem eigenen und brüllte die nichtsahnenden Schreiber an: 'Wer sitzt da, wer sitzt dort, wer sitzt hier ...?' Schließlich ging sie auf einen los: 'Sie sind es! Sie rutschen auf ihrem Stuhl hin und her und machen mich nervös!' Machte kehrt und verschwand, der Leibwächter drei Schritte hinter ihr.«

* RSFSR - Abkürzung für Russische Sozialistische Föderative Sowjet-Republik. Das Strafrecht dieses Zentralstaats der Union der sowjetischen Republiken ist für die meisten anderen Unions-Staaten immer vorbildlich gewesen.

Oberste Richterin Benjamin, Generalstaatsanwalt Melsheimer (stehend)*: »Neue Gesetze mit begeisternder Perspektive«

Hilde Lange, Bruder Heiner, Schwester Ruth, Mutter (1909): Bürgerliche Rührbilder ...

Vater Lange

... aus der Feldwebelzeit

Flitterwöchnerin Benjamin (1926)

Im gelben Kuvert ...

Ehepaar Benjamin, Sohn Michael (1935)

... die Todesbotschaft aus Mauthausen

Abiturient Michael Benjamin (1948)

Statt Oxford Moskau

DDR-Repräsentantin Benjamin: Statt Steglitzer Salon Pankower Paraden

Rechtsanwältin Benjamin (Horst-Wessel-Prozeß, 1930): Abtreibungsfälle, Trunkenheitsdelikte und politische Schlägereien

Benjamin-Vorgänger Fechner

Im proletarischen Staat ...

SED-Konvertit Melsheimer

... kein gleiches Recht für alle

Hilde Benjamin (von 1953 bis 1958): Die Gerächte

* Prozeß gegen Mitglieder der Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit (1952).

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