Alter! – Die Midlife-Kolumne Der weiße Mann auf dem Meer

Der unbelehrbare Nazi-Onkel bei der Familienfeier ist eine Sache – aber was tun, wenn man sich plötzlich mit einem Rechtspopulisten auf hoher See wiederfindet? Für ein Ausweichmanöver ist es zu spät.
Foto: Matthew Spaulding / Stocksy United

Madeira. Hafenpanorama, 22 Grad, die Sonne scheint, die Welt kennt noch kein Corona. Ich sitze auf einem Segelboot, das wir nach Teneriffa überführen wollen. Der Skipper öffnet für alle fünf Crewmitglieder das »Ankerbier«, obwohl wir noch keine Seemeile gesegelt sind.

Darauf einen Manöverschluck! 

So beginnt eigentlich eine gute Geschichte.  

Einer nervt immer, wenn man für ein paar Tage zusammen auf See ist. Doch diesmal fühle ich mich sofort wohl in der Runde unbekannter Menschen. Sie wirken alle sehr sympathisch. Hätte ich gewusst, was kommt, wäre ich sofort von Bord gegangen. 

Aber die erste Attacke erfolgt auf hoher See. Es ist der nette, mittelalte Brillenträger mit Dreitagebart, SUV und Familie. Irgendwie hat er erfahren, wo ich arbeite. Er will wissen, ob ich Matthias Matussek kenne. Klar, sage ich, und dann geht es los. 

Lächle ich das jetzt weg, um des lieben Bordfriedens willen?

Matussek, muss man wissen, ist ein ehemaliger SPIEGEL-Autor, der vom bekennenden Marxisten zum glühenden Katholiken wurde. Und sich später öffentlich zur AfD bekannte.

Es stellt sich schnell heraus, dass mein Mitsegler »den Matussek«, wie er ihn nennt, dufte findet. 

Ich sitze also einem Anhänger der neuen Rechten gegenüber. SOS (Save Our Souls)! Bislang habe ich es geschafft, diese Art Mann im Privatleben zu umschiffen. So muss es sein, bei einer Familienfeier vom Onkel blöd von der rechten Seite angemacht zu werden. Da kann man sich allerdings an einen anderen Tisch setzen oder einfach gehen. Doch jetzt, irgendwo mitten auf dem Atlantik: um uns herum nur Wasser, unter uns 5000 Meter auch nur Wasser. Was tun? Lächle ich das jetzt weg, um des lieben Bordfriedens willen? Der Skipper ist ein alter Kumpel von mir.  

Der Rückzug – ein Fehler

Oder halte ich dagegen? Dieser Typ wird nicht so schnell aufgeben, das ist klar, und immer wieder volle Breitseite schießen. Also sage ich meine Meinung. Darauf hat er nur gewartet.  
 
Es folgt ein kurzes Wortgefecht, in dessen Folge ich mich in meine Koje zurückziehe. Vielleicht versteht er ja, dass ich mich nicht mehr streiten möchte. Der Rückzug – ein Fehler, wie ich am nächsten Tag merke. 

In Folge zwei des atlantischen Zerwürfnisses geht es um schwache Frauen, die angeblich nicht Auto fahren können. Da ist er bei mir an der ganz falschen Adresse. Ich gehe ab wie ein Elektromotor von 0 auf 100. Wenn ich eins kann, dann Autos steuern. Links einparken mit zwei Zentimetern Luft vorn und hinten ist meine Spezialität. Doch ich bin leider viel zu schnell auf die pure Provokation angesprungen, nun ärgere ich mich über mich selbst. Kolbenfresser, nächstes Thema.  

Alter! – Die Midlife-Kolumne

In der Jugend erlebt man vieles zum ersten Mal: den ersten Kuss, die erste Reise ohne Eltern. Wenn man die Marke 50 streift, geschieht auch viel Neues: die ersten Hitzewallungen, das erste künstliche Gelenk. Und einiges sieht man plötzlich anders. Warum früher trotzdem nicht alles besser war, davon erzählen an dieser Stelle unsere vier Kolumnistinnen und Kolumnisten im Wechsel. Alle Kolumnen finden Sie hier.

Donald Trump – das ist einfach, denke ich, die Lügen des Präsidenten sind so leicht zu dechiffrieren. Es geht hier aber nicht um die Wahrheit, jetzt findet er »den Trump« auch noch gut! 
 
Als ich neulich, beim Sturm des Kapitols, den Mann sah, der vor der gesamten Weltöffentlichkeit einen Stuhl in Nancy Pelosis Büro besetzte, wurde ich unwillkürlich an meinen Mitsegler erinnert: schlank, Jeans, Fleece, Cap und die gleiche breitbeinige Körperhaltung. Nur die Segeljacke war durch ein Holzfällerhemd ersetzt. Beide sind ehrfürchtige Verehrer von Donald Trump.

Zum Glück sind wir in Schichten eingeteilt

Die Evolution der Ehrfurcht, so hat die Wissenschaft festgestellt, diente einem Zweck: Durch die Verehrung für und Furcht vor einer Person können sich Menschen besser sozial verbinden. Internet plus Trump bietet genau diese Möglichkeit: Sie sind nicht mehr allein, die vielen alten weißen Männer. Es geht hier also mehr um die Ausübung einer Religion und um eine Alterserscheinung, nicht um eine politische Debatte. Da kann man mit so vielen Fakten um die Ecke kommen, wie man will.
 
Mein Mitsegler hat noch ein Thema: Neoliberalismus. Herablassend schaut er zu mir herüber und fragt, ob ich überhaupt wisse, was der Begriff bedeute. Als müsste er sein Revier markieren, schwappen sein wirtschaftlicher Frust und seine Frauenverachtung durchs Cockpit. Wäre er Besitzer eines Schnellfeuergewehrs, so wie der Pelosi-Stuhl-Besetzer, er hätte mich erledigt. Und ich verstehe für einen Moment, wie man auf den Gedanken kommen kann, jemanden über Bord zu schubsen und mit dem »Mensch über Bord«-Rettungsmanöver ein wenig zu warten. 

Zum Glück sind wir in Schichten eingeteilt, und ich verschwinde unter Deck, wenn sein Team das Steuer übernimmt.  

Nach 500 Kilometern auf See ist endlich Land in Sicht. Nach dem »Ankerbier« mache ich mich, so schnell es geht, landfein. Der Trump-Verehrer hat sich ein Auto angemietet; er will noch Teneriffa erkunden.  
 
Wir können uns ein Grinsen nicht verkneifen, als er bei der Mietwagenfirma von einer Frau den letzten vorhandenen Wagen in der von ihm gebuchten Klasse zugewiesen bekommt: einen Golf. Braun.  

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