Was man so alles wiederentdeckt, wenn man lange zu Hause hockt: Kolumnist Frank Patalong findet auf einer alten Fehlfarben-Platte den Sound zum Lockdown. Und hat noch ein paar Ideen, wie er der Leere entkommt.
»Sag mal«, sagt Fiona eines Abends, »was wünschst du dir eigentlich zu Weihnachten?«
Die im Prinzip erwartbare, weil saisonale Frage erwischt mich weitgehend kalt. Hm, sage ich: »Muss ich drüber nachdenken.«
Was nicht wirklich stimmt. Das Problem ist nur, dass meine aktuellen Wünsche schon 1980 von der Band Fehlfarben auf ihrem phänomenalen Album »Monarchie und Alltag« treffend zusammengefasst wurden:
»Was ich haben will, das krieg ich nicht Und was ich kriegen kann, das gefällt mir nicht!«
Das textlich reichlich kryptische, zeittypisch wütend-weinerliche und aus unerfindlichen Gründen »Paul ist tot« genannte Lied basiert im Wesentlichen auf nur zwei Akkorden. D-Dur, dann h-Moll. Tag und Nacht. Tag und Nacht. Und noch mal. Und so weiter.
In der Jugend erlebt man vieles zum ersten Mal: den ersten Kuss, die erste Reise ohne Eltern. Wenn man die Marke 50 streift, geschieht auch viel Neues: die ersten Hitzewallungen, das erste künstliche Gelenk. Und einiges sieht man plötzlich anders. Warum früher trotzdem nicht alles besser war, davon erzählen an dieser Stelle unsere vier Kolumnistinnen und Kolumnisten im Wechsel. Alle Kolumnen finden Sie hier.
Die monotonen, treibenden Basslinien sind mit einem peitschenden Schlagzeug unterlegt – und mit einem nervigen Klickgeräusch, dass an eine eilige Uhr erinnert. Darauf bellt Sänger Peter Hein szenische Sätze, die sich nach WG im Lockdown anhören. Es gipfelt dann in folgenden Zeilen:
»Ich will nicht was ich seh, ich will was ich erträume Ich bin mir nicht sicher, ob ich mit dir was versäume!«
Kurzum: es ist der Soundtrack zum Lagerkoller in Corona-Zeiten. Wenn man den nötigen Galgenhumor mitbringt.
Es passt ja: Ich will nicht, was ich seh, ich will, was ich erträume.
»I'm never alone on the end of a phone«? Gelogen!
Das Problem daran: Was auch immer ich erträume, läuft zurzeit nicht. Reisen, Feiern, Tanzen, Konzerte. Gedanken- und bedenkenlos Beisammensein. Im Grunde ist das das Einzige, was den Gesunden unter uns fehlt.
Der Kontakt zu Freunden läuft nur über Notlösungen.
»I've got a list of the people I have known I'm never alone On the end of a phone« The Police, 1979
Klingt gut, ist aber gelogen. Telefon und Facebook reichen nicht, es ist zu wenig, es fehlt was. Die Natur, glaubte Aristoteles, habe »Abscheu« vor der Leere, weshalb sich jeder Raum fülle, wenn man ihn lässt. Für die menschliche Natur gilt das definitiv, das mit der Abscheu: »Horror vacui« nannten das später die Römer, die Angst vor der Leere.
Ich fülle die meine mit Arbeit, und das klappt prächtig. Solange ich Maus oder Maurerkelle, Buch oder Bohrhammer in der Hand habe, ist alles gut. Neu ist, dass es mir schwerfällt, zu lesen. Still im Raum, allein. Wenn Fiona nicht da ist, drehe ich Musik auf: keine Fehlfarben, lieber was Heiteres, treibendes. B52's: »Why don't you dance with me? I'm not a Limburger!«
Man muss sich das Negativ als Positiv denken
Zum ersten Mal seit 30 Jahren habe ich Hornhaut an den Fingerkuppen meiner linken Hand, vom Gitarrespielen. Es hat sich in den letzten acht Monaten deutlich verbessert, ich mache jetzt Sachen, die ich im März noch nicht konnte. Im Grunde, fällt mir auf, mache ich sogar viele Dinge, die ich jahrelang nicht mehr gemacht habe.
In einem Künstlerbedarf-Katalog entdecke ich ein Radierset, eine Druckerpresse, ein Set Holzmesser. Als junger Mann habe ich mich da ausprobiert, ich mochte das: Tiefdruck, Siebdruck. Am liebsten aber Radierungen: Mit einer feinen Nadel haarfeine Linien ritzen, bis die Platte ganz gefüllt und zerkratzt wirkt. Was es zur Herausforderung macht, ist, dass man sich das vermeintliche Negativ, dass man da kratzt und schneidet, als Positiv denken muss. Wenn es gelingt, wird daraus im Druck ein Bild, an dem wieder alles gut und richtig ist.
Den Begriff des Horror vacui gibt es übrigens auch in der Kunst. Da bezeichnet es den heute fast manisch anmutenden Drang in manchen Epochen, jeden freien Fleck eines Bildes mit Ornamenten zu füllen. Vielleicht, denke ich jetzt, waren das ja enge Zeiten? In denen man Leere schwer ertrug?
Ich mache ein Eselsohr in den Katalog. Vielleicht wünsche ich mir ja das: Seiten mit Bildern füllen, stundenlang, gedankenverloren und konzentriert auf das, was man sich vorstellt, und am Ende wird das Negativ ein Positiv. Ich will nicht, was ich seh, ich will, was ich erträume.
Und Sie?
In einer früheren Version dieses Textes hieß es, Thomas Schwebel habe "Paul ist tot" gesungen: Auf der Studioversion des Liedes ist aber noch Peter Hein zu hören, der die Band noch vor dem Durchbruch für rund sieben Jahre verließ. Wir bitten, den Fehler zu entschuldigen.