Alter! - Die Midlife-Kolumne Niemand ist eine Insel

»Ich hab gestern den Bernd* getroffen«, sagt mein Schwiegersohn. »Das war total seltsam. Wir wussten nicht, was wir zueinander sagen sollten.«
Er sei die Straße hinab, Bernd hinaufgekommen. Sie hätten sich dann begrüßt, auf Abstand, versteht sich. Wie es so gehe, habe der eine den anderen gefragt, und ob es was Neues gäbe.
Nö, nicht wirklich. »Was soll auch sein? Es passiert ja nichts«, sagt der Schwiegersohn. »Und jetzt machen auch noch die Baumärkte zu.«
Ich weiß genau, was er meint. Meine Wege da draußen sind immer dieselben und auf das unbedingt Notwendige reduziert. Manchmal treffe ich jemanden unterwegs, wir tauschen uns dann zur Corona-Lage aus. Distanz zu halten wird dabei zur verinnerlichten Haltung. Sie wirkt inzwischen in jedes Gespräch hinein.
Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, nicht mehr darüber zu reden, zu schreiben. Das klappt aber nur, was das »Dienstliche« in meinem Leben angeht: Nachrichten, Berichte und Analysen sind Aufgaben, an denen ich mich zurzeit herrlich abarbeiten kann. Zugleich fühlt es sich so an, als würde ich als Person verschwinden. Wenn ich persönlich schreiben soll, ist da nichts, weil es schlicht an Input fehlt. Es ist, als verflache das Leben und reduziere sich auf eine blanke, leere Aktualität. Wenn alle dasselbe erleben, was soll man dann erzählen?
In der Jugend erlebt man vieles zum ersten Mal: den ersten Kuss, die erste Reise ohne Eltern. Wenn man die Marke 50 streift, geschieht auch viel Neues: die ersten Hitzewallungen, das erste künstliche Gelenk. Und einiges sieht man plötzlich anders. Warum früher trotzdem nicht alles besser war, davon erzählen an dieser Stelle unsere vier Kolumnistinnen und Kolumnisten im Wechsel. Alle Kolumnen finden Sie hier.
Seit der harte Lockdown angekündigt wurde, empfinde ich das noch mehr. Im Grunde ist das Blödsinn, weil die damit verbundenen Vorschriften mein Leben und Verhalten kaum verändern oder beeinträchtigen. »Lockdown« ist nur eine abstrakte Drohung, mir noch mehr menschlichen Kontakt zu entziehen. Im Grunde ist das aber kaum noch möglich.
»Just a castaway, an island lost at sea, oh
Another lonely day, with no one here but me, oh«
Police, Sie wissen schon. Ich ertappe mich dabei, jetzt vermehrt ältere Musik zu hören. Vorzugsweise das, was ich mit 16, 18, 20 gehört habe. Es ruft Erinnerungen wach, an meine Clique, bewegte Zeiten, Aufbrüche, grenzenlose Möglichkeiten. Was ist wohl aus ihm geworden, was aus ihr? Mir gehen Kontakte durch den Kopf, die ich vor 35 Jahren verloren habe. Mir fällt Unausgesprochenes ein, Nicht-Abgeschlossenes. Dinge, die man tun, Worte, die man hätte sagen sollen.
Letzte Tage, von denen man nicht wusste, dass sie es sein würden: Das beiläufige Tschüs an den Freund, den man nie wiedersah. Von manchen wüsste ich jetzt gern, wo sie sind. Wie es ihnen ergangen ist, wie es ihnen heute geht. Den Kontakt einfach wieder aufzunehmen ist so einfach nicht, über den Graben von 35 Jahren hinweg. Würde der andere sich freuen, wäre sie irritiert?
Aber offenbar geht es gerade echt vielen von uns so, und sie geben sich einen Ruck. In meinem Facebook-Account häufen sich die »Freundschaftsanfragen«. Ich mag die Bezeichnung nicht, weil ich Freundschaft einen anderen Wert beimesse. Jetzt plötzlich passt das aber: Da kommen wirklich alte Freunde. »Seems I’m not alone at being alone«.
Alte Klassenkameraden melden sich. Menschen, die in Rückschau flüchtige, für eine Zeit im Leben aber wirklich wichtige Kontakte waren. Mit ein paar von ihnen erlebe ich die intensivsten Sozialkontakte seit Monaten.
Wir chatten, und in manchen Fällen geht das in Telefonate über. Ich tue das nicht öffentlich, in meinem Facebook-Profil findet man nichts Privates. Aber das Internet stellt eben auch die Räume zur Verfügung, privat zu sein.
Gestern habe ich lange mit einer Person gesprochen, bei der seit 35 Jahren eine Entschuldigung fällig war. Wir haben uns voneinander erzählt, es war erschütternd und anrührend. Und lustig. Ich hoffe, wir werden wieder reden.
Nach Weihnachten steht eine Telekonferenz zu viert an, mit guten alten Freunden, zu denen wir aus nicht nachzuvollziehenden Gründen den Kontakt verloren hatten. Meine Frau Fiona hat ihnen einfach eine Weihnachtskarte geschickt, und sofort war die Verbindung wieder da. Jetzt per WhatsApp, Zoom, Google Meets, was auch immer.
»Eingesperrt« in der Corona-Isolation fühlt es sich plötzlich federleicht an, den Graben aus Zeit und Distanz zu überbrücken. Ich weiß nicht, ob es je dazu gekommen wäre, wenn es Covid, wenn es die Kontaktbeschränkungen nicht gegeben hätte. Ich nehme mir vor, in den nächsten Monaten der sozialen Isolation möglichst viele der Menschen zu finden und zu »treffen«, die ich zu lange nicht getroffen habe.
Und was machen Sie so?
*Name geändert.