Foto: Tara Moore/ Getty Images

Kollateralfragen in der Coronakrise Ist es gut, jetzt besorgt zu sein?

Besorgnis ist eine Mischung aus Ängstlichkeit und Zuwendung. Hier erklärt der Psychoanalytiker Hans-Jürgen Wirth, warum sie auch gegen Ohnmachtsgefühle hilft und die Angst erträglicher machen kann.

"Das ist, was eine Epidemie uns zeigt: wie verwundbar wir alle sind, wie abhängig von dem rücksichtsvollen Verhalten anderer, aber damit eben auch: wie wir durch gemeinsames Handeln uns schützen und gegenseitig stärken können." Was die Bundeskanzlerin mit diesen Worten in ihrer Ansprache am Mittwoch formuliert hat, ist Besorgnis. Die Fähigkeit zur Besorgnis ist eine der psychologischen Möglichkeiten des Menschen, auf Krisen zu reagieren, also auch auf die Coronakrise.

Der Psychoanalytiker Donald Winnicott hat sich mit dieser Fähigkeit zur Besorgnis genauer beschäftigt. Er beschreibt sie als eine Mischung aus Ängstlichkeit, Verantwortungsgefühl und liebevoller Zuwendung. Sie setzt sich zusammen aus Fürsorge und dem Bemühen, Gefahren abzuwenden und für Wohlergehen zu sorgen. 

Besorgnis ist also etwas Konstruktives. Für Winnicott gehört dazu die Kompetenz und Haltung, mit der sich Eltern um ihre Kinder kümmern. Man könnte Besorgnis aber noch weiter fassen, nämlich als eine menschliche Grundhaltung, die sich zwar primär auf die Kinder, die Familie, die engere Umgebung richtet, die grundsätzlich aber auch gegenüber allen Mitmenschen, Tieren, der Natur und gegenüber der Umwelt eingenommen werden kann. Sie kann sich sogar auf nachfolgende Generationen richten, wie das bei der Sorge über die Endlagerung des atomaren Mülls oder beim Klimaschutz der Fall ist.

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Die Besorgnis kann sich aber auch auf das eigene Selbst richten und nimmt dann die Gestalt der Selbstfürsorge an. Wer besorgt ist, der akzeptiert, dass er Angst hat und integriert dieses als Motiv zum Handeln in seine Persönlichkeit. Das bedeutet: Indem man fürsorglich handelt, wird man zum Akteur, überwindet Ohnmachtsgefühle und kann Angst besser ertragen. Wer sich in der Coronakrise konsequent die Hände wäscht, sich von anderen fernhält, der gewinnt Kontrolle über sein Leben.

In dieser Pandemie ist diese Fähigkeit zur Besorgnis ein besonders hohes Gut. Man sorgt für sich selbst, betreibt aber nicht in egoistischer und rücksichtsloser Weise Hamsterkäufe. Man vergisst nicht andere Menschen, die nicht in der Lage sind, für sich selbst zu sorgen. Und tatsächlich: Nachbarn bieten an, für andere einzukaufen - oder helfen mit Lebensmitteln, mit Kinderspielzeug und -entertainment aus. Sie klatschen, wie in Köln, vom Fenster aus für jene, die in den Krankenhäusern arbeiten. Sie singen von Balkonen, wie in Italien, um sich Mut zuzusprechen.

Kollateralfragen

Die Krise stellt unser aller Leben auf den Kopf. Natürlich geht es erst einmal darum, gesund zu bleiben. Aber wie schaffen wir es, dass auch die Beziehung und die Familie intakt bleiben? Wie kommen wir heil durch den Alltag? Hier beantworten Experten regelmäßig Fragen zu diesen Themen. Hier finden Sie weitere Artikel aus der Reihe. Wenn Sie selbst eine Frage haben, schreiben Sie uns an: kollateralfragen@spiegel.de 

In dieser Anfangsphase der Krise hat die Bundeskanzlerin vor allem eine abstrakte Form der Fürsorglichkeit eingefordert. Alle sollen auf soziale Kontakte und auf Nähe verzichten, auf Umarmungen zur Begrüßung, auf den Handschlag. Reisen, Kino und Konzerte sind sowieso schon längst verboten. In erster Linie geht es hier um die Abflachung und zeitliche Streckung der Ansteckungskurve, was das Gesundheitssystem vor dem Kollaps bewahren soll. In zweiter Linie geht es darum, sich selbst vor der Ansteckung zu schützen.

Die Bundeskanzlerin hat dazu aufgerufen, dass wir vor allem um die anderen Mitmenschen besorgt sein sollen. Zu wissen, dass man andere nicht in Gefahr bringt und dass andere auch einen selbst nicht in Gefahr bringen, ist der richtige Weg, um in dieser massiven Krise Stärke und Mut zu gewinnen.

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