

Philosophie der Pandemie Warum wir die Coronakrise noch immer nicht begreifen
Dieser Text ist erstmals am 17. Januar erschienen. Aus Anlass der Ministerpräsidentenkonferenz am Mittwoch und den dort getroffenen Entscheidungen, den Lockdown an einigen Stellen zu lockern, veröffentlichen wir ihn leicht aktualisiert erneut.
Stürme, Erdbeben, Überflutungen, Tsunamis – Naturkatastrophen erleben wir Menschen immer wieder. Kaum jemand leugnet die Gefahr, die davon ausgeht. Auch die Corona-Pandemie ist eine solche Naturkatastrophe – und trotzdem gibt es die Corona-Müden, Leugner, Skeptiker und Verweigerer. Warum fällt es uns so schwer, das Phänomen angemessen zu begreifen und entsprechend zu handeln?
Wir können das Virus nicht sehen
Das Sehen dominiert alle anderen Sinneswahrnehmungen: Mit den Augen erfahren wir sehr schnell sehr viel über unsere Außenwelt. Bei Gefahren verlassen wir uns besonders auf die Augen, weil wir sie besonders gut »kommen sehen« und darauf reagieren können. Gleichzeitig neigen wir dazu, Dinge zu ignorieren, die wir nicht sehen oder beispielsweise nicht riechen können. Das Coronavirus können wir nicht unmittelbar wahrnehmen. Deswegen sind wir immer wieder dazu geneigt, es zu vergessen. Manche leugnen es sogar.
Hinzu kommt, dass die meisten Menschen erst drastische Konsequenzen erfahren müssen, bevor sie etwas als Phänomen angemessen einschätzen: Nur vergleichsweise wenige Menschen sehen die Erkrankten in der Klinik leiden. Erst jetzt, in der zweiten Welle, kommt das Virus immer näher, und viele kennen jemanden im direkten Umfeld, der an Covid-19 erkrankt ist. So dringt die Pandemie nur langsam als echte Katastrophe in das gesellschaftliche Bewusstsein ein.
Der Mensch neigt zu systematischen Fehleinschätzungen
Neuen Herausforderungen begegnen wir gern mit zu viel Optimismus, was die Dauer und die Kosten angeht: Schon die Oper von Sydney eröffnete mit zehn Jahren Verspätung, auch kostete sie mehr als 100 Millionen Australische Dollar – geplant waren sieben Millionen. Diesem Beispiel folgten später in Deutschland die Hamburger Elbphilharmonie und der Berliner Flughafen.
Auch im Alltag unterschätzen wir oft objektive Risiken: Das Risiko, ums Leben zu kommen, ist bei einem Flug bekanntlich viel geringer als bei einer Autofahrt. Jedoch schätzen wir es meist umgekehrt ein, weil wir beim Auto selbst am Steuer sitzen – das ist die positive Illusion der persönlichen Kontrolle. Das Unterschätzen des Ansteckungsrisikos (»Bloß eine Grippe«) verleitet zu nachlässigem Verhalten und macht viele, auch ohne es zu wollen, zu Verteilern des Virus.
Umgekehrt überschätzen wir systematisch Risiken, wenn wir große Angst haben: Viele gehen aus Angst gar nicht mehr aus dem Haus. Dabei übersehen wir leicht den verbleibenden Gestaltungsspielraum. So wissen wir mittlerweile, dass wir das Risiko einer Ansteckung mit dem Coronavirus gut kontrollieren können, indem wir Masken tragen, Abstand halten, Lüften und auf gute Hygiene achten.
Wir müssen lernen, diese neuen Maßnahmen in unseren Lebensalltag – zumindest vorübergehend – zu integrieren. Natürlich sind damit auch erhebliche Einschränkungen verbunden, wir verzichten auf Konzerte, Theater, Restaurantbesuche mit Freundinnen. Warum tun wir uns damit so schwer?
Der Mensch ist ein soziales Wesen
Evolutionär sind wir Lebewesen, deren Überleben nur in der Gruppe gelingt: So braucht ein neugeborenes Baby eine fürsorgende Gruppe. Auch sind Menschen besonders lange abhängig von Bezugspersonen. Als soziale Wesen sind (fast) alle Menschen trotz starker Persönlichkeitsunterschiede in hohem Maße auf enge Sozialkontakte angewiesen, sei es in der Familie, sei es beim Sport, bei der Arbeit.
Die soziale Begegnung und Anerkennung ist das, was unser Leben ausmacht. Deswegen leiden (fast) alle Menschen an offiziellen Kontaktbeschränkungen. Die wegen des Virus verordnete soziale »Einsamkeit« schlägt uns auf das Gemüt, weil es gegen unsere »soziale Natur« gerichtet ist.
Was können wir in dieser Situation tun?
Wir brauchen neue Wege der sozialen Interaktion: So kommunizieren viele bereits via Skype, Zoom, WebEx, Facetime oder Teams zum Beispiel. Noch ist die älteste Generation oftmals davon ausgeschlossen, hier gilt es, unsere gesamte Gesellschaft in allen Lebensbereichen zu schulen und nicht auf das Ende der Pandemie zu warten.
Auch benötigen wir zusätzlich Innovationen für elektronische Kommunikation. Natürlich ersetzt diese auf Dauer nicht die persönliche Begegnung, aber sie ist eine neue Form der Interaktion, mit der wir die Vielfalt unserer Begegnungsmöglichkeiten erweitern können. Warum fällt es vielen so schwer, neue Formen der sozialen Interaktion als Substitut zu akzeptieren?
Der Mensch ist ein Gewohnheitstier
Wenn eine Naturkatastrophe über uns hereinbricht, wie zum Beispiel das Oder-Hochwasser 1997, so trifft sie meist nur einen Teil des Landes, in diesem Fall Teile von Tschechien, Polen und Deutschland. Die Menschen in den betroffenen Gebieten sind meist bereit, kurzfristig ihren Lebensalltag anzupassen. Es gab damals sogar eine beachtliche Hilfswelle aus ganz Deutschland, um die Dämme zu sichern.
Das ist nicht ungewöhnlich: Es handelte sich um eine sichtbare Katastrophe mit klar begrenzter Dauer, klar erkennbaren Betroffenen und leicht wahrnehmbaren, eindeutigen Maßnahmen (Verstärkung von fast überfluteten Dämmen), um Schlimmeres abzuwenden. Wir helfen gern, weil wir das Leid sehen können und wissen, dass wir nur wenige Wochen helfen müssen.
Anders jedoch verhält es sich, wenn Maßnahmen auf Dauer angelegt sind. Viele Menschen in den westlichen Ländern empfinden es bereits als starke Beschränkung ihrer Freiheit, wenn sie große Teile des Tages eine Maske tragen sollen.
Warum ändern wir angesichts der Pandemie nicht einfach unsere Gewohnheiten, tragen überall, außer zu Hause, Maske, halten Abstand, lüften?
Aus Sicht der Psychologie handeln wir die meiste Zeit nach eingeschliffenen Verhaltensmustern: Wir sind erzogen worden, Begrüßungs-, Höflichkeits- und Begegnungsrituale einzuhalten. Das haben wir verinnerlicht.
Unser automatisches Alltagsverhalten wird vom impliziten Gedächtnis gesteuert, während explizites bewusstes Denken ein Zusammenspiel von Arbeitsgedächtnis und deklarativem Gedächtnis erfordert. Die Gedächtnisformen sind jedoch in recht starkem Maße unabhängig voneinander, insbesondere ist das implizite Gedächtnis stark unabhängig von dem, was wir im Alltag explizites Denken nennen: Deshalb wird ein starker Raucher durch die Einsicht, dass Rauchen sehr schädlich ist, noch lange nicht zum Nichtraucher. Die Einsicht, dass man dringend abnehmen müsste, ändert in der Regel nichts am Essverhalten. Auch eine Vorlesung über ethische Prinzipien macht uns noch nicht zu guten Menschen.
Daniel Kahneman beschreibt dies als den Unterschied von zwei Verarbeitungssystemen: Während System 1 für schnelles, emotionales und automatisches Verarbeiten von Information zuständig ist und damit unsere Gewohnheiten in Gang setzt, ermöglicht erst System 2 ein langsames, rationales und reflektiertes Verarbeiten von Information, das heißt es ermöglicht explizites Nachdenken. Nun muss aber auch das Ergebnis expliziten Nachdenkens noch Eingang in unsere Gewohnheiten finden, aber diese werden vorwiegend vom System 1 gesteuert. Wollen wir diese ändern, so muss nicht nur System 2 neue Gedanken aufnehmen, sondern diese müssen Prägungen im System 1 verändern.
Preisabfragezeitpunkt
25.03.2023 22.37 Uhr
Keine Gewähr
Und das geht nur über systematisches, am besten auch emotional verankertes Training: Ein starker Raucher schafft den Ausstieg oftmals erst durch ein angenehmes Ersatzverhalten, so isst er zum Beispiel etwas, statt zu rauchen. Meist ist es schwierig, ein angenehmes Ersatzverhalten zu finden, das nicht die eine Sucht durch ein neues Problemverhalten ersetzt. Genau das ist die Herausforderung: Erst durch das Zusammenspiel von Einsicht und Training von angemessenen, neuen Verhaltensweisen gelingt es, mit fatalen Gewohnheiten zu brechen.
Das scheint doch zu schaffen, wenn man es wirklich möchte. Aber hier schlägt wiederum durch, dass wir die Pandemie meist noch nicht als Naturkatastrophe wahrnehmen. Wir haben mit Angela Merkel eine Kanzlerin, die als Wissenschaftlerin den Ernst der Lage schon früh erkannt hat: Bereits im März sagte sie: »Seit der Deutschen Einheit, nein, seit dem Zweiten Weltkrieg gab es keine Herausforderung an unser Land mehr, bei der es so sehr auf unser gemeinsames solidarisches Handeln ankommt.« Sie hatte recht.
Der Mensch glaubt, Existenzsicherheit, Wohlstand und individuelle Freiheit stehen ihm zu
Wir haben mithilfe von Wissenschaft und Industrie Hunger weitgehend überwunden, Überschwemmungen und Stürme vorhersehbar gemacht und mithilfe der modernen Medizin die meisten Krankheiten stark eingedämmt oder zumindest beherrschbar gemacht. Wir sind es gewohnt, dass wir ohne existenzielle Herausforderungen aufwachsen, sodass eine der häufigsten Todesursachen bei Menschen zwischen 15 und 29 der Suizid ist (neben Verkehrsunfällen).
Die meisten leben in einem so »gesicherten« Alltag, dass sie sich darauf beschränken dürfen, ihre individuellen Vorlieben im Lebensalltag zu gestalten: Welcher Beruf erfüllt mich? Welches Hobby passt zu mir? Wohin soll der nächste Urlaub gehen? Im Grunde schränken uns nur Gesetze und unsere finanziellen Mittel ein.
Dabei ist die Grundidee, dass die Freiheit des Einzelnen dort endet, wo er oder sie die Unversehrtheit, die Würde oder die Freiheit des anderen verletzt. Und dass wir uns auch für die Gemeinschaft einsetzen müssen. Nur dann kann eine demokratische Gesellschaft dauerhaft bestehen. Wir setzen eine Absicherung gegen existenzielle Herausforderungen und eine demokratische Freiheitsgesellschaft als selbstverständlich gegeben voraus.
Eine Naturkatastrophe stellt das jedoch infrage:
Jetzt, in der Pandemie, gefährdet das Virus unvorhersehbar die Gesundheit jedes Einzelnen. Denn auch wenn es Risikofaktoren gibt, kann es im Einzelfall jeden im besonderen Maße treffen. Auch kann selbst unser modernes Gesundheitssystem keine Überlebensgarantie für stark Erkrankte geben: Von den invasiv Beatmeten stirbt jeder Vierte. Hinzu kommt die drohende Gefahr, dass die vielen Covid-Erkrankten die Krankenhäuser überlasten. Dann müssten sie schlimmstenfalls andere Patientinnen und Patienten abweisen.
Die Pandemie bedroht auch den Wohlstand und die Wirtschaft in Deutschland: Die Bundesregierung hat massiv Schulden aufgenommen, um die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie abzufedern. Bislang hat sie dadurch Massenarbeitslosigkeit und -insolvenzen verhindert. Deswegen erleben wir die Pandemie finanziell als gar nicht so schlimm.
Doch de facto sind große Teile der europäischen Wirtschaft erschüttert: Selbst wenn die deutsche Wirtschaft nur einen moderaten Umbruch erleben wird, steht unserem Hauptexportmarkt Europa voraussichtlich eine härtere Kur bevor; und dies werden wir auch in Deutschland spüren.
Die Pandemie schränkt unsere Freiheiten ein: Wir haben einen Anspruch auf unseren jährlichen Skiurlaub, denken viele – und strömen in die Wintergebiete, sofern kein Gesetz und keine Polizei es verbietet.
Wir setzen dabei nicht nur auf unsere Gewohnheiten, sondern auf einen Anspruch auf Normalität. Um es zu wiederholen: Der besteht darin, dass wir ohne jede besondere Anstrengung erwarten, dass wir keinerlei physische und finanzielle Existenzangst zu haben brauchen. Dass wir weitgehende individuelle Freiheiten genießen dürfen. Und dass wir auch ein Recht auf unseren wohlverdienten Urlaub in der Ferne mit sozialen Kontakten haben.
Im Extremfall verbindet sich dieser Anspruch mit einem Leugnen der Pandemie, wie es die »Querdenker«-Bewegung häufig tut: Es kann nicht sein, was meinen gewohnten Alltag derart einschränkt. Diese zum Teil antidemokratischen Bewegungen machen deutlich, dass unsere echten bürgerlichen Freiheiten nicht gefährdet sind, wenn wir Maske tragen und Abstand halten, sondern wenn Populisten die Fakten der Gegenwart nicht sehen wollen oder bewusst verzerren.
Die Lösung? Wissenschaft und Alltagsvernunft
Schon der bisherige Verweis auf Statistiken und objektive Risiken ist uns nur Dank der Wissenschaft möglich. Auch wenn wissenschaftlicher Standard sich stets weiterentwickelt, neues Wissen dazukommt und manchmal alte Annahmen zurückgenommen werden müssen, so bleiben wissenschaftlich begründete Einschätzungen und Empfehlungen das Beste, was wir – und damit ist die Politik mitgemeint – als Basis für unser Handeln nehmen können. Damit sind wir immerhin zum Mond geflogen.
Menschen können unglaubliche Herausforderungen meistern, wenn sie diese adäquat sehen, annehmen und mit gemeinschaftlicher Energie anpacken. Dabei gehören sich ergänzende Vorgehensweisen durchaus dazu: Medizinerinnen und Mediziner haben mittlerweile klare Verhaltensregeln herausgearbeitet. Wissenschaft und Pharmaindustrie haben verschiedene Impfstoffe in Rekordzeit entwickelt. Wenn sich genug Menschen impfen lassen, können wir die Corona-Pandemie damit stoppen – bevor sie dieselben Ausmaße wie die Spanische Grippe entwickelt. Aber auch mit (ausreichend) Impfstoff braucht es eine gute Organisation der Massenimpfung, Zeit, Disziplin und Durchhaltevermögen, bis es so weit ist.
Leider glauben viele, jetzt, wo der Impfstoff endlich da ist, könnten sie wieder zur alten Normalität zurückkehren. Viele Menschen in Deutschland leben ihren Alltag mit der Einstellung »Meine Freunde sind schon nicht infiziert (und wenn, ist es das wert)«.
Dabei müssen wir uns auch jetzt noch strikt an die Verhaltensregeln halten, wo immer dies vertretbar ist. So können wir die Katastrophe im Zaum halten, bis der Impfstoff uns als Gemeinschaft schützt. Dazu müssen wir allerdings unseren Lebensalltag ändern, zum Beispiel bei allen Begegnungen außerhalb des eigenen Haushalts Maske tragen.
Ist dies ein Eingriff in die persönlichen Freiheitsrechte? Nur dann, wenn man meint, jedes egoistische Interesse einer Person als Freiheit reklamieren zu dürfen, auch wenn dieses Verhalten die gesamte Gemeinschaft sowie deren Existenz- und Freiheitsrechte bedroht: Wer ohne hinreichenden Grund die nötigen Verhaltensregeln bewusst bricht, verhält sich so wie jemand, der den Brand einer Wohnung entdeckt, aber weder die Bewohner des Hauses warnt noch die Feuerwehr alarmiert. Wer sich ohne medizinischen Grund einer Impfung verweigert, handelt so wie jemand, der bei einer Löschkette mit Wassereimern heraustritt und sagt: Ich mache nicht mit.
Ist das nicht etwas einseitig? Was ist mit den Kollateralschäden? Und haben wir nicht noch ganz andere Probleme?
Das ist sicher richtig. Politikerinnen und Politiker müssen bei ihren Entscheidungen vieles in Betracht ziehen, in diesem Zusammenhang vor allem: eine funktionierende Wirtschaft, das Recht auf Bildung, das Bewahren der freiheitlichen Grundrechte. Aber beispielsweise auch das Leid, das die Kontaktbeschränkungen bei Menschen mit psychischen Problemen auslöst.
Es wird daher immer nur einen pragmatischen Kompromiss geben. Aber wir sollten dabei mithilfe von Wissenschaft und Alltagsvernunft sowohl dem Leugnen, Wegschauen und Ignorieren klar entgegentreten als auch jeder Art von chinesischer Zwangsdiktatur.
Wir müssen in freiheitlichen Gesellschaften unseren eigenen Weg im Umgang mit der Katastrophe suchen: Nur wenn wir bereit sind, unser Verhalten im Alltag grundlegend zu verändern, werden wir unseren Lebensalltag in einer Demokratie mit großen Freiheitsrechten im Kern bewahren können. Hier ist die Pandemie eine Vorübung für weitere Herausforderungen, die auch nicht so leicht sichtbar sind. Die Klimakatastrophe zum Beispiel.
Sind wir diesen Herausforderungen gewachsen? »Wir schaffen das!«
Finden wir eine Lösung? »Yes, we can.«
Wenn und soweit wir uns von Vernunft, Weitblick und Gemeinschaftssinn leiten lassen.