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Alltagsfragen in der Coronakrise Der neue Umgang mit den anderen: Wie wird das werden?

Viele Menschen sehen die geplanten Lockerungen mit gemischten Gefühlen: Mehr Leben bedeutet auch mehr Angst vor Risiken. Der Psychiater Jan Kalbitzer zeigt, wie man mit dem Kontrollverlust klarkommt.
Von Jan Kalbitzer

Wie wird das jetzt werden? Die Kinder in der Schule abzugeben? Mit einer Stoffmaske, deren Schutzwirkung umstritten ist, demnächst wieder im öffentlichen Nahverkehr zur Arbeit zu fahren? Auf der Arbeit wieder Kundenkontakt zu haben?

Wenn Sie sorgenvoll auf die kommenden Wochen blicken, dann spielt dabei möglicherweise auch die Angst vor Kontrollverlust eine Rolle. Durch die radikale soziale Distanzierung bestand an vielen Stellen die Möglichkeit, Sicherheitsvorkehrungen den eigenen Sorgen anzupassen. Die einen gehen jeden Tag ein bisschen was einkaufen, die anderen bestellen alles nur noch per Lieferdienst direkt vor die Tür.

Der Egozentrismus, der durch Rückzug entstehen kann, macht es zusätzlich schwer

Jetzt müssen Sie möglicherweise mit Kollegen zusammenarbeiten, die Abstandsregeln anders interpretieren. Oder Kinder morgens in einer Schule abgeben, die nicht durch Hygienestandards berühmt geworden ist. 

Dazu kommen neue Eigenheiten. Vielleicht kennen Sie das von Ihrem alleinstehenden Onkel, der bei jedem Treffen immer erst mal allen seine eigene Perspektive auf die Welt lang und umständlich unterbreiten muss: Manche Menschen, die weniger Sozialkontakte haben, entwickeln einen zunehmenden Egozentrismus.

Dass Sie selbst von diesem Phänomen betroffen sind, erkennen Sie ganz gut daran, wenn sich draußen plötzlich dauernd andere über Sie aufregen. Oder auch daran, dass Sie selbst sich vermehrt über den Egozentrismus anderer aufregen, Gedanken haben wie: "Was die sich alles erlauben und durchgehen lassen!"

Tauschen Sie sich möglichst viel mit anderen aus. Wenn möglich: Bilden Sie Banden! 

Das wichtigste ist Austausch im direkten Erleben; der Gesetzgeber hat in dieser Hinsicht einige sinnvolle Lockerungen geschaffen: Treffen Sie sich, wenn Sie gesund sind, mit Freunden, Nachbarn oder Kollegen auf einen Distanzspaziergang. Spielen Sie, sofern es die lokale Gesetzeslage zulässt, im Park Tischtennis. Oder kicken Sie im Park aus Distanz einen Ball hin und her. Sprechen Sie nebenbei ein bisschen darüber, wie es Ihnen mit der aktuellen Situation so geht. Was Ihre persönlichen Überlegungen und Motive sind, sich so oder so zu verhalten.

Kollateralfragen

Die Krise stellt unser aller Leben auf den Kopf. Natürlich geht es erst einmal darum, gesund zu bleiben. Aber wie schaffen wir es, dass auch die Beziehung und die Familie intakt bleiben? Wie kommen wir heil durch den Alltag? Hier beantworten Experten regelmäßig Fragen zu diesen Themen. Hier finden Sie weitere Artikel aus der Reihe. Wenn Sie selbst eine Frage haben, schreiben Sie uns an: kollateralfragen@spiegel.de 

Wenn Sie Kinder haben, die Sie zu Hause betreuen oder beschulen müssen, dann bilden Sie Banden! Fangen Sie an - sofern die lokalen Regeln das erlauben -, diese Kinder in kleinen Gruppen, die sich von der Zusammensetzung her über einen längeren Zeitraum hinweg nicht verändern, gemeinsam zu betreuen. Wenn das innerhalb der Nachbarschaft stattfindet, ist es ansteckungstechnisch wahrscheinlich sogar sicherer als in Kita und Schule, weil in den Gruppen noch weniger Variation ist.

Neben den Erleichterungen, die solche Banden für Sie und Ihre Kinder bringen, zwingt es Sie als Eltern auch in den Austausch mit anderen Eltern. Darüber, wie die es sonst so halten mit den Abstandsregeln, dem Anfassen des öffentlichen Klettergerüsts und überhaupt: Mit wie vielen anderen Menschen sie noch so unterwegs sind - denn das hat ja auch eine direkte Auswirkung auf Ihr persönliches Risiko.

Damit gehen Sie drei wichtige Schritte: Sie üben langsam in einem relativ geschützten Rahmen einen Umgang mit dem Gefühl von Kontrollverlust. Sie trainieren den Prozess des Aushandelns, der Ihnen in den kommenden Wochen noch sehr viel häufiger bevorstehen wird. Und Sie weiten Ihren Horizont nach dieser Zeit des Rückzugs wieder mehr um die Perspektiven anderer. Denn wenn die große Maschine, die unsere Gesellschaft ist, jetzt unter erhöhtem Druck wieder anlaufen soll, dann braucht es mehr von dem, was die Räder dieses sozialen Gefüges verlässlich schmiert: die vielen alltäglichen Gespräche mit Menschen, die einiges in dieser Welt völlig anders sehen als Sie.

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