

Alter! – Die Midlife-Kolumne Mit Madonna durch die Pandemie


Früher gegen Aids, heute gegen Corona: Tanzen als Therapie
Foto: Eduardo Ribas / iStockphoto / Getty ImagesMadonna ist fast 63. Diese vier Worte sollten eigentlich schon reichen.
Sie war mal der ewig junge Soundtrack meines Lebens. Heute ist sie das peinliche »Material Girl« in meiner Midlife-Dudeldisco: »Take a Bow«, singt sie heiser, wir sind (gemeinsam) ganz schön alt geworden.
Sie merken schon: Ich hatte gerade mal wieder Geburtstag.
Doch warum Madonna? Weil sie mich durch die harten Jahre gesungen hat. Weil sie für mich heute trotzdem mehr ist als nur eine Alterserscheinung. Mehr als eine Erinnerung daran, dass ich »ja nicht mehr so lange habe«, wie eine Kollegin verkündete, als sie meinen Jahrgang sah. Ein Jahrgang, zu dem ich in Onlineformularen übrigens immer weiter nach unten scrollen muss, »Deeper and Deeper«.
Tief unten finden sich da auch die Hits von damals. »Like a Prayer« (1989), »Vogue« (1990), »This Used to Be My Playground« (1992): Jede noch so flüchtige Madonna-Phase war eine Ausrede, auch mich immer wieder mal »neu« zu erfinden, und wenn es nur ein T-Shirt war.
Wir waren Seelenverwandte. Dachte ich mir jedenfalls. Zumindest teilten wir einen Mythos: Wie viele Glücksritter, die nach New York City gekommen waren, imitierte ich Madonnas Rebellenpose – eine kulturelle Aneignung dessen, was die Queen of Pop ihrerseits anderen geklaut hatte, um es zu kommerzialisieren.
Ich suchte mich selbst, doch fand lange nur Kommerzklischees.
Voguen mit der Queen of Pop
Mitte der Neunziger trafen wir sogar kurz aufeinander, sie und ich, na gut, mit Hunderten anderen. Auf dem Dancefloor der »Sound Factory« war das, dem legendären Klub in Downtown Manhattan, in dem Madonna, die Schwulenikone, die Vogue-Szene »entdeckt« hatte (auch das so ein Kulturklau). Ich tanzte mit Freunden zum neuesten Frankie-Knuckles-Remix, als ein androgyner Derwisch neben uns wild zu voguen begann: Madonna!
Cool. Wir grüßten uns wortlos nickend, ohne aus dem Takt zu kommen. Seelenverwandte.
In der Jugend erlebt man vieles zum ersten Mal: den ersten Kuss, die erste Reise ohne Eltern. Wenn man die Marke 50 streift, geschieht auch viel Neues: die ersten Hitzewallungen, das erste künstliche Gelenk. Und einiges sieht man plötzlich anders. Warum früher trotzdem nicht alles besser war, davon erzählen an dieser Stelle unsere vier Kolumnistinnen und Kolumnisten im Wechsel. Alle Kolumnen finden Sie hier.
Am Ende zählte sowieso nur das Tanzen. Denn wir alle tanzten um unser Leben. Für unser Leben und das der Geister, die nicht mehr mit uns tanzen konnten. Wir waren die Enkel der sorglosen »Studio 54«-Jahre. Die Kids, die die Aidskrise überlebt hatten, bis dahin jedenfalls und scheinbar willkürlich. Jeder Tag war ungewiss, jede Nacht ein Sieg.
Wir tanzten uns die Angst von der Seele, die Trauer und »survivor's guilt« – das Schuldsyndrom einer halben Generation, die es »geschafft« hatte, während die anderen auf Hart Island gelandet waren, der Toteninsel vor der Bronx, wie heute die namenlosen Corona-Opfer.
Nachtschicht am Computer
Wochentags war ich rasender Reporter, am Wochenende tobte ich mich beim House-Beat aus. Nachtschichten, meist in früheren Fabrikhallen auf der West Side: »Sound Factory«, »Roxy«, »Tunnel«. Oder in der gothischen Gruft des »Limelight«, das einst eine episkopale Kirche war, bis ein Kanadier mit Augenklappe sie kaufte und zum Altar der Ketzer machte. Madonna war ein Stammgast.
Die einzigen Nachtschichten, die ich heute noch schiebe, finden im Homeoffice am Computer statt, bis knapp vor Redaktionsschluss.
Spätestens die 9/11-Anschläge killten unseren pseudospirituellen Madonna-Hedonismus. Wir verkrochen uns im Schock, und eine neue Generation wuchs heran, mehr an sich selbst interessiert, so schien es mir. Aus House wurde Techno – wir nannten es abfällig »pots and pans«, weil es sich für uns anhörte wie Topfschlagen – und aus Tanzen wurde etwas, das ich nicht mehr verstehe und das Jüngere besser erklären können.
Wie die Aids-Ära ist auch New Yorks Nightlife nur noch ein nebulöser Traum. »Sound Factory«, »Roxy« und »Tunnel« sind längst der Gentrifizierung zum Opfer gefallen, abgerissen und ersetzt von luxuriösen Mammut-Aquarien, in denen Hedgefondshaie schwimmen. Das »Limelight« war zuletzt eine Shoppingmall und ein Sportstudio und ist heute nur noch für einen Drogenmord bekannt, der 2003 mit Macauley Culkin verfilmt wurde (»Party Monster«). Es war ein Flop.
Auf in die wilden Zwanziger
Doch jede Zeit hat ihre Tragödien, die therapeutische Afterpartys erfordern. Wo werden die tanzen, die Covid-19 überleben? Wie werden die sich die Angst von der Seele schütteln, die Trauer und »survivor's guilt«?
Der Influenza-Pandemie von 1918 bis 1920 folgten die »Roaring Twenties«, die wilden Zwanziger. Was wird der Corona-Pandemie folgen, ein Jahrhundert später?
Ich für meinen Teil habe mir geschworen, falls das eines Tages wieder möglich ist, doch noch mal einen Dancefloor zu finden und mich auszutoben. Und es wäre schön, wenn sie Madonna spielten, auch wenn sie dann 63 ist.