

Kunst-Installation in Baden-Württemberg Tausende Nägel – für jeden Corona-Toten einen
SPIEGEL: Herr Pergialis, Sie haben Nägel in Holz geschlagen, Tausende, stundenlang. Wie kamen Sie darauf?
Marios Pergialis: In den vergangenen Monaten habe ich immer stärker gespürt, dass mich die vielen Zahlen überfordern, mit denen wir während der Pandemie konfrontiert sind. R-Wert, Statistiken mit Infizierten, Mortalitätsrate. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber wenn ich diese Zahlen sehe, habe ich nichts vor meinem inneren Auge. Meine Vorstellungskraft versagt, es wird abstrakt. Rund 20.000 Tote, die an oder mit dem Virus gestorben sind? Das sind 20.000 einzelne Menschen. Ich wollte für alle sichtbar und greifbar machen, was diese unfassbare Zahl bedeutet.
SPIEGEL: Wie das?
Pergialis: Im öffentlichen Raum, an einem Ort, an dem man in sich gehen kann. Gemeinsam mit einem Kollegen aus dem Kunsttherapiestudium habe ich in den vergangenen Wochen also Nägel in Holzklötze geschlagen. Bis zum 15. November, dem Volkstrauertag, standen wir bei mir zu Hause vor der Garage und haben gehämmert. Für jeden Corona-Toten in Deutschland einen Nagel. Die Nägel haben wir dann ins Münster in Schwäbisch Gmünd gebracht. Am 15. November waren es 12.485 Nägel – also Tote.

Marios Pergialis (Mitte) und Anthony Di Paola (l.) vor ihrem Werk, mit dem sie an die Toten erinnern wollen
Foto:Sibylle Schwenk / Dekanat Ostalb
SPIEGEL: Warum haben Sie Nägel verwendet?
Pergialis: Der Nagel ist ein christliches Symbol für Leid. Nach dem christlichen Glauben wurde Jesus ans Kreuz genagelt. Der Nagel steht für eine sehr schmerzliche Erfahrung.
SPIEGEL: Wo genau haben Sie die Nägel aufgestellt?
Pergialis: Direkt vor dem Altar der Kirche. Es sind so viele, dass der Weg zum Altar versperrt ist: Man kann nicht hin, ohne mit diesem Sterben, das gerade jeden Tag passiert, konfrontiert zu werden. Ein Meer aus bis zu 16 Zentimeter langen Nägeln, insgesamt 230 Kilogramm Metall. Es sind so viele, dass wir von unserer Garage bis zur Kirche zwei Fuhren machen mussten.

Installation vor dem Altar der Kirche: "Das sind die Toten"
Foto:Sibylle Schwenk / Dekanat Ostalb
SPIEGEL: Mittlerweile sind mehr als doppelt so viele Menschen an oder mit dem Virus gestorben wie an dem Tag im November, an dem Sie die Nägel aufgestellt haben.
Pergialis: Als wir die Installation in der Kirche mit einer geistlichen Andacht eröffneten, gab es in Deutschland bereits 1537 mehr Tote als zu dem Zeitpunkt, an dem wir sie aufgebaut hatten. In sieben Tagen mehr als 1500 Gestorbene. Die Zahlen stiegen so rasant, dass wir mit dem Hämmern nicht hinterhergekommen wären. Wir haben in der Kirche deswegen eine Schale aufgestellt, in die wir zusätzliche Nägel hineingelegt haben.
SPIEGEL: Legen Sie jeden Tag welche nach?
Pergialis: Inzwischen nicht mehr. Es sterben so schnell so viele, dass es sich künstlerisch kaum mehr abbilden lässt und der Platz in der Kirche nicht mehr reicht. Aber ich gehe sehr häufig dort vorbei und sehe nach. Wenn Nägel umgefallen sind, stelle ich sie wieder auf.
SPIEGEL: Was haben Sie gedacht, als Sie Ihre Installation in der Kirche zum ersten Mal betrachtet haben?
Pergialis: Ich war ziemlich schockiert. Diese graue Masse. In dem Moment konnte ich es mir tatsächlich besser vorstellen, welche Dimension das Corona-Sterben hat. Aber ich war auch erleichtert, dass das Nägel-Schlagen vorüber war. Die ersten tausend waren okay – aber irgendwann ging das Hämmern an meine Substanz. Ich dachte bei jedem Nagel: und wieder ein Toter. Ein Mensch, der anderen etwas bedeutet, musste gehen. Und noch einer. Und noch einer.

Schale mit zusätzlichen Nägeln: "Die Zahlen schossen so hoch, dass wir mit dem Hämmern nicht hinterhergekommen wären"
Foto:Sibylle Schwenk / Dekanat Ostalb
SPIEGEL: Wie nah ist Ihnen das Virus selbst gekommen?
Pergialis: In meinem Bekanntenkreis gab es zum Glück nur wenige Erkrankte mit milden Verläufen. Aber ich habe in meinem Freundeskreis einige Krankenpfleger, und was die erzählen, macht mich jedes Mal betroffen. Menschen sterben, ohne dass Angehörige sich von ihnen verabschieden konnten. Ich habe von einer schwangeren Infizierten gehört, die mit ihrem Ungeborenen im Bauch auf der Station verstarb. Ich bin selbst gerade Vater geworden. Wenn ich meinen Freunden zuhöre, fehlen mir die Worte.
SPIEGEL: Wie reagieren die Menschen, die in die Kirche kommen, auf Ihre Installation?
Pergialis: Manche sagen: »Plötzlich entsteht ein Gefühl dafür, was in diesem Jahr in unserem Land passiert ist.« Andere stehen dort und sagen nur: »Was? So viele?« Es wird viel gesprochen, über Corona, über das Leid, und manchmal wird es auch ganz still. Einmal, und da kamen mir gleich die Tränen hochgeschossen, weil es mich so berührt hat, kamen zwei kleine Jungs mit ihren Großeltern vorbei. Der eine Junge sagte zu seinem Großvater: »Guck mal, Opa! Das sind die Nägel. So viele sind schon gestorben, weil es Corona gibt.«