

Corona und Denunziantentum Es ist meine Pflicht, die Party nebenan zu melden – ist es nicht?
Für manchen klingt das schlüssig: Wir hatten es in den vergangenen Monaten selbst in der Hand. Und weil einige sich unverantwortlich verhielten, kam es bei privaten Treffen zu Infektionen. Die haben nun ein derartiges Ausmaß angenommen, dass alle, dass die ganze Gemeinschaft mindestens den November über unter massiven Einschränkungen leiden muss.
Muss es da nicht erste Bürgerpflicht sein, die Staatsorgane dort, wo sie aufgrund juristischer Einschränkungen und mangelnder Ressourcen nicht immer ein Auge haben können, zu unterstützen? Und die Party in der WG nebenan dem Ordnungsamt zu melden? Nicht nur um der Gerechtigkeit willen, sondern auch, um weitere Einschränkungen zu verhindern und Gefahren für Leib und Leben anderer abzuwenden. Einige Städte setzen mit diesem Argument bereits auf die Mithilfe ihrer Bürger und haben Stellen eingerichtet, bei denen Verstöße unkompliziert gemeldet werden können.
Das Gefühl der Sicherheit
Dem Einspruch, dass das Privatleben innerhalb der eigenen vier Wände besonderen Schutz genießt, wird dabei gern entgegengehalten, dass es um ein höheres Gut geht: Der Schutz vor Seuchen, die Gesundheit anderer also, kann das Grundrecht des Einzelnen, etwa auf Unverletzlichkeit der Wohnung, überwiegen. Doch gegen diese medizinische Dringlichkeit gibt es ebenso dringende medizinische Gegenargumente.
Systematische Überwachung des Privatlebens einzelner Bürger durch den Staat und durch Mitbürger hat gravierende Folgen für die psychische Gesundheit. Wer ständig Sorge haben muss, von Menschen aus dem persönlichen Umfeld gemeldet und für mögliches Fehlverhalten bestraft zu werden, verliert das Gefühl der Sicherheit. Er oder sie ist unzufriedener, weniger offen für Neues und erlebt sich als weniger selbstwirksam, hat also das unangenehme Gefühl, das eigene Leben nicht im Griff zu haben. Viele Unrechtsstaaten setzen deshalb gezielt auf solche Maßnahmen – nicht aus Gründen des Seuchenschutzes, sondern um Andersdenkende zu unterdrücken. An der juristischen Hochschule des Ministeriums für Staatssicherheit konnte man sich im Rahmen des Lehrfachs "Operative Psychologie" in solchen Techniken ausbilden lassen.
Der Mut zur eigenen Meinung
Es geht dabei nicht nur um die Lebensqualität, sondern tatsächlich um Lebenszeit: Der psychische Druck kann körperliche Folgen haben. Wer dauerhaft unter Ängsten leidet und unter Stress steht, hat ein größeres Risiko, Erkrankungen des Bewegungsapparats, des Herzkreislaufsystems oder des Stoffwechsels zu entwickeln.
Brauchen Sie noch mehr Argumente? Dann lassen Sie uns über die gesellschaftlichen Auswirkungen von Denunziantentum sprechen: Wer verunsichert und misstrauisch gegenüber anderen ist, bringt sich weniger in die Gemeinschaft ein. Und wer Angst hat, in seinem Verhalten – sei es richtig oder falsch – überwacht zu werden, traut sich seltener, unbefangen zu der eigenen Meinung zu stehen, besonders dann, wenn sie nicht der Mehrheitsmeinung entspricht. Muss man betonen, dass das eine gravierende Gefahr für jede Demokratie ist?
Eine feine, aber klare Grenze
All das bedeutet selbstverständlich nicht, dass man nicht die Polizei rufen sollte, wenn es in der Nachbarwohnung Hinweise auf häusliche Gewalt gibt. Denn hier droht möglicherweise einer Person Gefahr, die sich nicht freiwillig in diese Situation begeben hat. Und es ist auch noch nachvollziehbar, wenn die Seniorin die ständigen Corona-Partys in der WG eine Etage tiefer nicht selbst unterbindet und auch nicht durch Diskussionen mit verantwortungslosen Nachbarn eine Infektion riskiert, sondern sie stattdessen direkt dem zuständigen Ordnungsamt meldet.
Aber jeder geschichtsbewusste Politiker sollte wissen, wo der Unterschied, wo die feine, aber klare Grenze liegt. Zwischen dem verantwortungsbewussten Verhalten einzelner Bürger, die im persönlichen Kontext entscheiden, ob ein offenes persönliches Gespräch oder ein Anruf bei der Polizei oder dem Ordnungsamt die angemessene Reaktion ist. Und einem Staat, der seine Mitbürger dazu auffordert, sich gegenseitig systematisch anonym zu überwachen.